Edmund G. Gardner

Die hl. Caterina von Siena

Eine Studie über Religion, Literatur und Geschichte
des 14. Jahrhunderts in Italien

 

Vorwort

 

In diesem Buch habe ich nicht versucht, die konventionelle Biografie einer kanonisierten Heiligen zu schreiben, sondern eine Betrachtung der italienischen Geschichte, im Hinblick auf das Wirken und die Persönlichkeit einer der wunderbarsten Frauen, die je gelebt haben – der Nachfolgerin Dantes in der Literatur und im religiösen Gedankengut Italiens,1 das Bindeglied zwischen dem heiligen Franziskus von Assisi und Fra Girolamo Savonarola in der oft so seltsamen und festlichen Prozession der vorüberziehenden Geschichte.

Obwohl ich vorrangig Caterinas eigene Werke und ihren Einfluss auf die italienische Politik ihres Zeitalters zur Sprache bringen möchte, habe ich gleichzeitig versucht, in meinem Buch ein Gemälde verschiedener religiöser und politischer Aspekte des 14. Jahrhunderts in Italien entstehen zu lassen – einer Epoche, die unmittelbar auf die Zeit Dantes folgte, auf einen sehr bewegten Abschnitt der Kirchengeschichte, dessen Beginn Petrarca und Boccaccio noch erlebt haben. Man darf sagen, dass die Geschichte Italiens in den letzten Jahren so viel Beachtung gefunden hat und dass so viele neue Quellen originärer Information in jeder Richtung zugänglich gemacht wurden, dass eine neue Vita jener Frau, die die treueste und aufrichtigste Patriotin ihrer Zeit war, nicht nur erlaubt, sondern im wissenschaftlichen Sinne notwendig scheint.

In meinem Vorhaben fand ich große Unterstützung in den noch erhaltenen Manuskripten von Caterinas Briefen: Manuskripte voll von unveröffentlichten Inhalten, die bis dato aus unerfindlichen Gründen vernachlässigt wurden, weil sie offensichtlich der Aufmerksamkeit ihrer Biografen und Herausgeber entgangen sind; Inhalte, die alle Aspekte der Genialität der Heiligen in ein neues Licht rücken und mir ermöglicht haben, in vielen Punkten die bisher fraglos akzeptierte chronologische Ordnung ihrer Briefe und der bestimmenden Ereignisse ihres Lebens, auf die sich diese beziehen, zu korrigieren.

Die uns heute vorliegende Kenntnis über das Leben Caterinas stammt – abgesehen von einzelnen Dokumenten und der Geschichte ihrer Zeit – hauptsächlich aus fünf Quellen: 1. aus der Vita oder Legenda (bekannt als Legenda prolixa oder, auf Italienisch, Leggenda maggiore); 2. dem Processus (bekannt als Prozess von Castello); 3. dem Supplementum; 4. der Legenda abbreviata (auf Italienisch: Leggenda minore) und 5. aus Caterinas eigenen Briefen.

 

1. Die Vita oder Legenda

Im Jahr 1384, vier Jahre nach dem Tod der Heiligen, begann Fra Raimondo (delle Vigne) de Capua, der ihr dritter Beichtvater und geistlicher Leiter war und damals das Amt des Generalmeisters der Dominikaner innehatte, seine wunderbare Geschichte über sie, die Vita par excellence, aufzuzeichnen, die er in einem seiner Briefe als Sanctae Matris Catharinae eximia Legenda bezeichnet. 1395 war das Werk vollendet. Raimondos lateinischer Text wurde erstmals 1553 in Köln veröffentlicht (eine Ausgabe, die heute zu den Raritäten zählt) und anschließend von den Bollandisten im dritten Band der Acta Sanctorum für den Monat April neu herausgegeben. Eine italienische Fassung, von einem der Sekretäre der Heiligen, Neri di Landoccio Pagliaresi, begonnen und von einem namentlich nicht bekannten Bewohner von Piacenza vollendet, wurde im Dominikaner-Konvent von San Jacopo di Ripoli bei Florenz von Fra Domenico da Pistoia und Fra Piero da Piso im Jahr 1477 gedruckt. Eine weitere Ausgabe, deren zweite Hälfte der Übersetzung identisch ist mit jener der editio princeps, während die erste Hälfte (bis zur Mitte von Teil II, Kap. X. Abs. 5 in Peccis Version bzw. § 283 in den Acta Sanctorum) deutlich davon abweicht, wurde 1489 in Mailand gedruckt; es handelt sich offensichtlich um eine vollständige Übersetzung, die der anonyme Gelehrte aus Piacenza im Auftrag von Don Stefano Maconi angefertigt hat.[1] Stattdessen kann man jedoch sagen, dass sich die vergleichsweise moderne Übersetzung des Kanonikers Bernardino Pecci, die erstmals im Jahr 1707 von Girolamo Gigli in Siena veröffentlicht wurde, durchgesetzt hat. Ich habe mich zwar hauptsächlich auf den lateinischen Text der Legenda gestützt, aber im Interesse der Leser auf die Einteilung in Teile, Kapitel und Absätze in Peccis Version verwiesen, wobei die entsprechenden Paragrafen in den Acta Sanctorum zusätzlich in Klammern angegeben sind.

Obwohl im 16. Jahrhundert französische, deutsche und spanische Übersetzungen erschienen, wurde Raimondos Gesamtwerk nie ins Englische übersetzt. Der von Caxton gedruckte Text (The lyf of saint Katherin of Senis the blessid virgin), enthält nur einzelne Teile davon in freier Wiedergabe und mit beträchtlichen Auslassungen. Der Übersetzer sagt in seinem Vorwort: „Ich lasse Aussagen über göttliche Dinge, die euer [Anm. der Leser] Verständnis übersteigen würden, weg und behandle nur Themen, aus denen ihr etwas lernen könnt.“ Die Version von John Fenn, Beichtvater der englischen Augustiner-Nonnen in Louvain, die erstmals 1609 veröffentlicht wurde, basiert auf der verkürzten italienischen Fassung, die vom berühmten Dominikaner-Apologeten Fra Ambrogio Catarino Politi zu Siena Mitte des 16. Jahrhunderts zusammengestellt wurde.

 

2. Der Prozess von Castello

An zweiter Stelle nach der Legenda steht der Processus[2], was Datum und Bedeutung betrifft. Die Tatsache, dass in den Dominikaner-Konventen und Kirchen von Venedig und anderswo alljährlich das Fest „einer gewissen Person, die als die selige Caterina von Siena bezeichnet wird“, gefeiert und vielerorts Bilder von ihr zur Verehrung gemalt wurden, obwohl sie von der Kirche noch nicht kanonisiert worden war, gab Anlass zu Beschwerden bei Francesco Bembo, dem Bischof von Castello in Venedig. Eine Predigt, die ein gewisser Fra Bartolommeo da Ferrara am ersten Sonntag im Mai 1411 in SS. Giovanni e Paolo gehalten hatte, führte dazu, dass dieser und Fra Tommaso di Antonio Nacci Caffarini, einer der frühesten Anhänger und engsten Vertrauten Caterinas, der damals Mönch in diesem Konvent war, vor den Bischof zitiert wurden: Das Ergebnis war der berühmte Processus contestationum super sanctitate et doctrina beatae Catharinae de Senis [= Der Prozess von Castello]. Dabei handelt es sich um eine Sammlung von Zeugnissen und Briefen von Caterinas noch lebenden oder unter ihrem Einfluss stehenden Anhängern, die (sozusagen) von Fra Tommaso Caffarini zwischen 1411 und 1413 mit einigen späteren Zusätzen „herausgegeben“ wurde. Vollständige Abschriften dieses Prozesses werden in der Biblioteca Comunale in Siena (MS. T.I.3) und in der Biblioteca Casanatense im Rom (MS. 2668 oder XX.V.10) aufbewahrt. Erstere stammt aus dem 15. Jahrhundert (ist aber nicht, wie manchmal behauptet, das Original), während letztere eine Kopie aus dem Jahre 1710 ist.

Einige der bedeutenderen Bezeugungen, darunter jene des Fra Tommaso Caffarini selbst, des Fra Bartolommeo di Domenico, des Don Bartolommeo da Ravenna und des Don Stefano di Corrado Maconi, wurden von Martène und Durand (nach einem Manuskript in der Grande Chartreuse) im sechsten Band ihrer Veterum Scriptorum et Monumentorum amplissima Collectio veröffentlicht. Drei andere, die weniger wichtig sind, wurden bereits in Mansis Anhang zum vierten Band von Baluzes Miscellanea veröffentlicht.

Beim Zeugnis des Stefano Maconi handelt es sich praktisch um die Epistola Domni Stephani de gestis et virtutibus S. Catharinae an Fra Tommaso, die im Original von den Bollandisten im genannten Band der Acta Sanctorum wiedergegeben wird; eine italienische Fassung davon ist Aldos Ausgabe der Briefe Caterinas vorangestellt und eine weitere ist Peccis Übersetzung der Legenda angefügt. Doch mehrere Zeugnisse von herausragender Bedeutung, einschließlich jener des Don Francesco di Vanni Malavolti, des Pietro di Giovanni Ventura und des Fra Simone da Cortona – die alle zum engsten Kreis von Caterinas Freunden und Vertrauten gehörten –, wurden nie im Original abgedruckt und lediglich von Augusta Drane in beträchtlichem Ausmaß herangezogen, die eigens für die Bibliothek der Dominikanerinnen in Stone (England) Abschriften anfertigen ließ. Im vorliegenden Werk beziehe ich mich auf Martène und Durand kurzerhand unter Processus, während ich die unveröffentlichten Zeugnisse direkt aus dem Casanatense-Manuskript zitiere und gelegentlich auf den Codex von Siena verweise.

 

3. Das Supplementum

Da die öffentliche Verehrung Caterinas als Ergebnis des Prozesses nun fest etabliert und von der kirchlichen Autorität anerkannt war, begann der unermüdliche Fra Tommaso Caffarini um das Jahr 1414 als Prior von San Domenico in Venedig eine Art Anhang oder Supplementum zu Fra Raimondos großer Legenda zu verfassen: den Libellus de Supplemento legendae prolixae beatae Catharinae de Senis. Dieses Werk, das nie vollständig veröffentlicht wurde,[3] existiert in einem Manuskript aus dem 15. Jahrhundert in der Biblioteca Comunale von Siena (MS. T. I. 2); eine Abschrift vom Original-Manuskript (damals im Archivo di San Domenico befindlich) aus dem Jahr 1706 wird in der Biblioteca Casanatense unter der Codexnummer 2360 (XX. VI. 36) aufbewahrt. Die angebliche Übersetzung von Padre Ambrogio Ansano Tantucci, die 1754 in Lucca veröffentlicht wurde, ist lediglich eine Paraphrase über einzelne Abschnitte des Werks, in die der Übersetzer seine eigenen Kommentare und Erklärungen eingefügt hat, die sich wie Teile des Originals darstellen. Im vorliegenden Werk bezeichne ich den lateinischen Text im Casanatense-Manuskript als Supplementum und Tantuccis Version einfach als „Tantucci“.

 

4. Die Legenda abbreviata

Kurz nach der Zusammenstellung des Supplementum (auf das er sich auch bezieht) verfasste Fra Tommaso Caffarini eine lateinische Kurzfassung von Fra Raimondos Legenda, die er aufgrund seiner persönlichen Kenntnis von Caterinas Leben und seiner Vertrautheit mit den Verhältnissen in Siena mit einigen kleineren Zusätzen und Abänderungen versah. Sie wurde als Legenda abbreviata bekannt und (noch weiter gekürzt) als Epitome vitae beatae Caterinae [sic] de Senis im ersten Band einer Sammlung von Heiligen-Viten, bekannt als Sanctuarium des Boninus Mombritius, im Jahr 1479 in Mailand gedruckt.

Die Leggenda minore ist eine schöne italienische Übersetzung der gesamten lateinischen Zusammenfassung von Fra Tommaso durch Caterinas Lieblingsschüler, Don Stefano di Corrado Maconi, während seines Wirkens als Prior der Kartause von Pavia, ein offenkundiges Werk der Liebe, das die Reihe der zeitgenössischen Heiligenviten angemessen abschließt. Don Stefanos Werk wurde 1868 von Grottanelli in Bologna veröffentlicht, zusammen mit einer sehr wertvollen Sammlung von Briefen der Schüler und Gefährten Caterinas. Es scheint der Aufmerksamkeit Grottanellis und, soweit mir bekannt ist, auch anderer entgangen zu sein, dass dieses Werk (mit Ausnahme des Prologs und der ersten beiden Kapitel, an deren Stelle freie Übersetzungen des zweiten Prologs und der entsprechenden Kapitel der Legenda prolixa getreten waren) bereits im 15. Jahrhundert gedruckt worden war. Ein Exemplar dieser Ausgabe, ohne Datum und Erscheinungsort, befindet sich im Britischen Museum. Es ist erwähnenswert, dass der in Grottanellis Ausgabe am Ende platzierte „Sermone a laude della venerabile vergine“ in der älteren Ausgabe als 6. Kapitel des III. Teils aufscheint, als eine Art Zusammenfassung des Inhalts des Buches.

Neben diesen Werken hat Fra Tommaso, in Zusammenarbeit mit Fra Bartolommeo di Domenico, eine wenig bekannte Abhandlung über die Dominikaner-Terziarinnen der Buße verfasst und eine Geschichte der Reform der Dominikaner-Regel in Venedig begonnen, mit der diese beiden Mönche, zusammen mit Fra Raimondo, befasst waren. Sie scheinen kurz vor 1408 entstanden zu sein und wurden erstmals im Jahr 1749 durch Flaminio Cornaro im VII. Band seiner Ecclesiae Venetae antiquis monumentiis illustratae in Venedig gedruckt. Vor allem das letztgenannte Werk enthält viele höchst interessante Dokumente und Briefe, die das Leben der Schüler Caterinas in den Jahren unmittelbar nach ihrem Tod betreffen.

 

5. Caterinas Briefe

Von den Briefen Caterinas sind nur sechs im Original erhalten – keiner davon stammt von ihrer eigenen Hand, sondern alle wurden nach ihrem Diktat von dem einen oder anderen ihrer Sekretäre geschrieben. Vier davon (zwei in lediglich fragmentarischem Zustand) befinden sich in der Biblioteca Comunale von Siena in der berühmten Handschrift mit der Nummer T. III. 3; es handelt sich um die Briefe an Stefano Maconi und Pietro di Giovanni Ventura, die in der Ausgabe von Gigli die Nummern 255, 258, 262 und 264, und in jener von Tommaseo die Nummern 319, 320, 329 und 332 tragen. Ein fünfter, ebenfalls an Stefano Maconi adressierter Brief (mit der Nummer 256 bei Gigli und 365 bei Tommaso) ist im Besitz der Kommunität von Santa Lucia in Siena. Der sechste, an Jacomo di Viva gerichtet, gehört zu den Schätzen, die der verstorbene Mr. Hartwell de la Garde Grissell der Jesuitenkirche in Oxford hinterlassen hat und wurde erstmals von Frank Rooke Ley und Arthur Francis Spencer in einem Artikel, den letzterer 1899 für St. Peter’s verfasste, publiziert. Er war vorher weder in einer anderen gedruckten Ausgabe von Caterinas Werken enthalten noch konnte ich jemals eine Abschrift in den Handschriftensammlungen finden.

Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Handschriften, die Kopien von Caterinas Briefen enthalten; ich selbst habe achtzehn dieser Handschriften studiert. Neun davon enthalten bisher unveröffentlichtes Material: in der Biblioteca Casanatense in Rom, MSS. 292 und 2422; in der Biblioteca Riccardiana in Florenz, MS. 1303; in der Biblioteca Nazionale in Florenz, MSS. XXXV. 199, XXXIII. 130, Palatino 57, Palatino 58, Palatino 60; im Britischen Museum, Harley MS. 3480. Die drei Palatino Codices und der Harley-Codex sind Abschriften aus dem 15. Jahrhundert (in einem Fall vollständig) der berühmten Handschrift der Briefe der Heiligen, die von Stefano Maconi zusammengestellt und in der Kartause von Pavia aufbewahrt wurde, dann aber leider verloren ging.

Die erste Ausgabe von Caterinas Briefen, veröffentlicht in Bologna im Jahr 1492, enthielt nur einunddreißig Briefe. Aldo Manuzio brachte 1500 in Venedig die sogenannte editio princeps heraus, die angeblich 368, tatsächlich aber, wenn man die Wiederholungen berücksichtigt, 350 Briefe enthält. Sie bildete die Grundlage für drei weitere Ausgaben, die im 16. Jahrhundert in Venedig gedruckt wurden: 1548 (Toresano), 1562 („al segno della Speranza“) und 1584 (Domenico Farri). In Girolamo Giglis monumentalem Werk Opere della Serafica Santa Caterina da Siena bilden die Briefe, erläutert durch die Gelehrsamkeit des Padre Federigo Burlamacchi, die Bände II. und III. (Siena, 1713, Lucca, 1721); in dieser Ausgabe, die noch immer als Standard gilt, wird die Zahl auf 373 erhöht. Niccolò Tommaseos handliche Ausgabe in vier Bänden, 1860 in Florenz veröffentlicht, ist praktisch ein Reprint der Ausgabe von Gigli und Burlamacchi, wobei die Briefe anders angeordnet und der Text etwas modernisiert und nicht immer sinnvoll ergänzt wurde.[4] Eine neue und kritische Ausgabe von Caterinas Briefen wäre dringend erforderlich. Auf den folgenden Seiten gebe ich der Einfachheit halber die Nummern nach der Ausgabe von Tommaseo an, während ich die Nummern nach Giglis Ausgabe in Klammern gesetzt habe. Soweit möglich, habe ich die zitierten Texte durch Vergleich mit den Handschriften überarbeitet.

Der biografische und historische Wert von Caterinas Briefen wurde von Anfang an in erheblichem Maße dadurch beeinträchtigt, dass die Kopisten (und die ihnen folgenden Herausgeber) Passagen, die ihnen von lediglich zeitbedingtem Interesse erschienen oder nicht unmittelbar der Erbauung dienten, einfach wegließen oder unterdrückten. Eine gewisse Zahl dürfte absichtlich entfernt worden sein, und zwar in jenen Fällen, in denen die leidenschaftlichen Worte der Schreiberin geeignet schienen, die Gefühle der Gläubigen zu verletzen. Dieser Vorgang scheint bereits auf jene Generation zurückzugehen, die unmittelbar auf Caterinas Schüler folgte.

Ein anschauliches Beispiel dafür liefert ein Brief, dessen Thema zur Genüge ersichtlich wird [Homosexualität] und den Aldo mit der Überschrift einleitet: „An Einen, dessen Namen man lieber verschweigen sollte – mit Rücksicht auf bestimmte Worte, die in diesem Brief verwendet werden. Wer ihn liest oder vorgelesen bekommt, soll sich nicht wundern, wenn ihm der Inhalt unklar erscheint; denn immer, wenn et cetera geschrieben steht, sind viele Worte ausgelassen, die nicht jeder kennen sollte, auch nicht den Namen desjenigen, an den er gerichtet ist.“[5] Weder diese Einleitung noch die Auslassungen gehen auf Aldo selbst zurück; dieselbe Überschrift kommt in jedem von mir herangezogenen Manuskript vor, das diesen Brief enthält, und geht offensichtlich auf das Ende des 14. Jahrhunderts zurück. Andere Briefe wurden, allerdings aus unterschiedlichen Gründen, ähnlich behandelt – mit dem Ergebnis, dass selbst in den Ausgaben von Gigli und Tommaseo der Text bedauerlicherweise verfälscht und allzu oft verstümmelt ist.

Die gedruckten Fassungen einiger auffällig kurzer Briefe sind kaum mehr als die frommen Ermahnungen, mit denen Caterina ihre Korrespondenz gewöhnlich eröffnete, während das, was sie eigentlich sagen wollte, in diesen Fällen nach wie vor unveröffentlicht ist. Von besonderem Interesse und Gewicht sind in diesem Zusammenhang zwei Handschriften, die bis dato merkwürdigerweise der Aufmerksamkeit der Gelehrten entgangen sind: die Handschrift in der Biblioteca Casanatense, MS. 292, und die Handschrift mit der Nummer XXXVIII, 130, in der Nationalbibliothek in Florenz; beide wurden offensichtlich direkt von Caterinas Originalbriefen kopiert. Erstere enthält den vollständigen Text einer Reihe von Briefen, die durch Barduccio Canigiani in ihrem Namen von Rom aus geschrieben wurden; letztere enthält die authentische und vollständige Fassung ihrer Korrespondenz mit dem Florentiner Schneider Francesco di Pippino und seiner Frau, Monna Agnese, nach der endgültigen Abreise der Heiligen aus Florenz. Im Anhang zum vorliegenden Buch gebe ich neben sechs komplett neuen Briefen Caterinas zwei dieser Briefe vollständig wieder. Durch den Vergleich mit früher veröffentlichten Versionen mag sich der Leser ein Bild davon machen, wie viel Arbeit noch zu leisten wäre, wollte jemand für die Nachwelt die ursprüngliche und vollständige Korrespondenz der engelgleichen Jungfrau wiederherstellen. Ich bin zuversichtlich, dass ich diese Aufgabe letztendlich selbst übernehmen werde, sofern sie nicht in der Zwischenzeit von einem Gelehrten in Italien erledigt wird.

 

6. Der Dialogo

Caterinas großes literarisches Werk, der Dialogo, wurde 1472 in Bologna, 1478 in Neapel und 1494 in Venedig veröffentlicht. Im Laufe des 16. Jahrhunderts folgten in Venedig mehrere gedruckte Ausgaben. Eine Übersetzung ins Lateinische besorgten Ser Cristofano di Gano Guidini und Fra Raimondo; die Version des ersteren verblieb als Handschrift in Siena, jene des Fra Raimondo wurde 1496 in Brescia und 1553 bzw. 1601 in Köln gedruckt. Eine englische Übertragung der lateinischen Version von Fra Raimondo durch Fr. Dane James, betitelt The Orcharde of Syon, wurde 1519 von Wynkyn de Worde gedruckt. Der muttersprachliche Text wurde von Gigli als vierter Band der Opere im Jahr 1707 neu aufgelegt, nach einem zeitgenössischen, aber erstaunlich ungenauen und unvollständigen Manuskript, das er etwas zu bereitwillig als Werk des Stefano Maconi gelten ließ. In allen diesen Ausgaben ist der italienische Text unbefriedigend; aber obwohl es Änderungen und einige wesentliche Auslassungen gibt (die an einer Stelle in allen späteren Ausgaben, welche nach der in Venedig 1517 publiziert wurden, den größeren Teil von zwei Kapiteln ausmachen), wurde kein beabsichtigter Versuch einer Zensur unternommen, nicht einmal in den besonders unverblümten Textpassagen.[6] Bei meinen Zitaten aus dem Dialogo habe ich gelegentlich eine etwas ausgefallenere Textfassung verwendet, fühle mich aber darin bestärkt durch das wundervolle Manuskript in Caterinas Muttersprache aus der Biblioteca Barberini, jetzt im Vatikan aufbewahrt (Cod. Barb. Lat. 4063). Es ist in vieler Hinsicht besser lesbar als die gedruckten Versionen und stimmt im Allgemeinen eher mit Fra Raimondos lateinischer Interpretation des Werks überein.

Caterina wird auch eine kurze Abhandlung über die „Vollkommenheit“, in der Form ähnlich dem Dialogo, zugeschrieben: eine Art geistlicher Konversation zwischen der Seele und ihrem Schöpfer über die völlige Selbstverleugnung und die absolute Erfüllung des göttlichen Willens. Es wurde 1552 in Lyon in lateinischer Sprache unter dem Titel: Dialogus brevis Sanctae Catharinae Senensis, consummatam continens perfectionem[7] gedruckt. Das italienische Original wurde nie entdeckt, und von der lateinischen Fassung scheint nur ein Manuskript bekannt zu sein. Eine Übersetzung ins Italienische von Alessandro Piccolomini [xv/xvi] wurde von Gigli als Anhang zu seiner Ausgabe des Dialogo publiziert und von Augusta Drane frei ins Englische übertragen. Keiner der frühen Biografen oder Zeitgenossen der Heiligen erwähnen das Werk; es trägt auch nicht weiter zu unserer Kenntnis über Gedankengut und Lehre der engelgleichen Jungfrau bei. Da es keinen externen Beweis zu seinen Gunsten gibt, neige ich dazu, seine Authentizität als höchst fragwürdig anzusehen.

Hinsichtlich der Darstellung der beiden großen politischen Konflikte, in die Caterina involviert war, verdanke ich Wesentliches dem Werk Alessandro Gherardis: La Guerra dei Fiorentini con Papa Gregorio XI., bzw. seiner Ausgabe des Diario d’Anonimo Fiorentino; ferner dem meisterhaften Werk von M. Noel Valois: La France et le Grand Schisme d’Occident. Die von Abbé Gayet verfassten pièces justificatives haben sich oft als hilfreich erwiesen. In vielen Fällen habe ich es jedoch vorgezogen, direkt auf die Originaldokumente über das Große Schisma zurückzugreifen, die sich noch im Archivo Segreto des Vatikans befinden und mit deren Hilfe ich in der Lage bin, die Ursachen dieses außergewöhnlichen Ereignisses einigermaßen vollständig darzulegen.

Mein besonderer Dank gilt den Verantwortlichen und Angestellten der vatikanischen Archive und der Vatikanischen Bibliothek, der Biblioteca Casanatense und der Biblioteca Vittorio Emanuele in Rom, der Biblioteca Nazionale und der Biblioteca Riccardiana in Florenz sowie der Biblioteca Comunale in Siena für ihre freundliche Unterstützung und ihr stets liebenswürdiges Entgegenkommen; ebenso danke ich Vittorio Lusini, dem Domkapitular in Siena, dessen Werke über die Kirchen seiner Heimatstadt von allen Studierenden sienesischer Geschichte hoch geschätzt werden. Er hat mir freundlicherweise ermöglicht, das Original des Briefes der heiligen Caterina an Stefano Maconi, das sich heute im Besitz der Bruderschaft von Santa Lucia in Siena befindet, genauer zu studieren.

 

E.G.G.

 

Siena, am Fest der Geburt der allerseligsten Jungfrau Maria.

 



[1] Vgl. F. Grottanelli, Einleitung zur Leggenda minore, S. IX – XIV, wobei jedoch seiner Aufmerksamkeit entgangen ist, dass die beiden Ausgaben nicht die gleiche Übersetzung beinhalten. Ich konnte die dazwischenliegenden Editionen – Neapel 1478 und Mailand 1488 – leider nicht einsehen.

[2] Vgl. Il Processo Castellano, Fontes Vitae S. Catharinae Senensis historici 9, ed. M.-H. Laurent, Milano 1942. Deutsche Ausgabe: Der Prozess von Castello. Zeugenaussagen über die hl. Caterina von Siena. Vollstän­dige Übersetzung von Josef Schwarzbauer, hg. von Werner Schmid, Kleinhain 2011. Hier bei den Fußnoten ergänzend in eckigen Klammern angegeben mit Prozess und der Seitenzahl.

[3] Der 1974 unter dem Titel „Libellus de Supplemento“ von Giuliana Cavallini und Imelda Foralosso veröffentlichte kritische Gesamttext ist inzwischen auch in deutscher Übersetzung zugänglich: Tommaso Caffarini, Das Supplementum. Biographische Ergänzungen zu Caterina von Siena. Vollständige Übers. von Josef Schwarzbauer, hg. von Werner Schmid, Kleinhain 2005.

[4] Eine hervorragende Auswahl aus den Briefen, basierend auf der Ausgabe von Gigli, wurde in englischer Sprache durch Frau Vida D. Scudder veröffentlicht (London, 1905).

[5] Brief 21 (306). Vgl. Dialogo, Kap. 124.

[6] Der Dialogo wurde von Mr. Algar Thorold (London, 1896) gut übersetzt; aber in der neuen und gekürzten Ausgabe (London, 1907), die mit dem kirchlichen imprimatur versehen ist, fehlt der größte Teil des Furcht erregenden Trattato delle Lagrime.

[7] Alphonsus Rodriguez, der jesuitische Mystiker, bezeichnet es in seiner Christlichen Vollkommenheit, Teil viii, Kap. 12 als ein Werk der heiligen Caterina.