Verströmende Liebe
Das Kostbare Blut Christi bei Caterina von Siena (1)
1. Es ist eine immer wiederkehrende Erfahrung, dass gerade in Zeiten religiöser Gefährdung und Schwächung uns Hilfe geschenkt wird nur aus der Mitte, aus den Kerninhalten unseres Glaubens, aus den Quellen des Heils – aus dem Mysterium des Kostbaren Blutes.
Die besondere Hervorhebung des Blutes Christi ist bereits in den Evangelien grundgelegt und in den Briefen des Neuen Testamentes reich entfaltet. Seine erste heilsmächtige Wirkung haben wir bei der Taufe erfahren und später beim Empfang weiterer Sakramente; und wenn Christus durch seine Priester in der Feier der hl. Messe die Worte spricht: „das ist der Kelch des neuen und ewigen Bundes, mein Blut, das für euch und für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden“, dann begegnen wir in der geheimnisvollen Anwesenheit und Realität des Blutes dem Kreuzesopfer Christi und damit dem höchsten Akt und Ausdruck seiner erlösenden Liebe. Wir bewegen uns also bei der Betrachtung des Blutes Christi nicht etwa in einem spirituellen Nebenraum, sondern im Zentrum unseres Glaubens, in der Herzmitte der Kirche. Aus diesem Grund hat das Konzil die Feier der hl. Messe auch als „Quelle und Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens“ (LG,11) bezeichnet. Die Vision des Ezechiel von der Tempelquelle, die an den Stufen hinabfließt, sich in die Araba ergießt und alles gesund macht, was von ihr berührt wird (vgl. Ez 47,1–12), ist dafür das prophetische Vorausbild. Denn von hier, vom Altar aus, ergießt sich in der Tat Tag um Tag der Strom des Segens und der Gnade in die Welt. Alles Heil und alle Heiligung bekommen ihre Kraft und Wirkung nur von daher, und auch alle Erneuerung der Kirche.
2. Die hl. Caterina von Siena gilt als die „Mystikerin des Kostbaren Blutes“. In ihrem geistlichen Hauptwerk, dem Dialog, in ihren Gebeten und vor allem in den über 380 erhaltenen Briefen ist das Blut Christi ein zentraler Begriff und wird gleichsam zu einem Schlüsselwort für das Verständnis ihres gesamten Denkens. In der Betrachtung des Blutes Christi enthüllen sich für Caterina die großen Wahrheiten des Glaubens über Gott und den Menschen: Gott schuf den Menschen aus Liebe und für die Liebe: Und er schuf ihn – nach dem Drama der Sünde und der darauffolgenden Todesverfallenheit – erneut im Blute des Gottessohnes zur Auferstehung und zum ewigen Leben. Diese Wahrheit offenbart uns das Blut. Denn „hätte uns Gott nicht geliebt und nicht unser Glück gewollt, dann hätte er uns keinen solchen Erlöser geschenkt. So erkennt also unser Geist im Licht des heiligen Glaubens im Blut diese Wahrheit“ (Brief 284).
3. Das ganze Erlösungswerk lässt sich für Caterina zusammenfassen in einem einzigen Geschehen: im Blutvergießen Christi. Sie konzentriert deshalb alles auf diesen Punkt, wo sich die Ausdrücke Kreuz, Blut, Liebe und Leben zu einer Einheit verschmelzen und somit gleichsam zu Synonymen des Heils werden. Was die Theologen scharfsinnig zu durchdenken versuchten, das wird von Caterina nun bereichert, indem sie in die tiefe, aber oft nüchterne Begrifflichkeit des Intellekts den lebendigen Strom der Liebe einfügt, jenes Thema, das für Caterina zeitlebens bestimmend ist und ihr ganzes Leben durchdringt. Gewiss wurde das Blut der Passion vergossen zur Tilgung unserer Sünden, um uns aus der Knechtschaft des Teufels zu befreien, unsere Schuld zu sühnen und Gott Genugtuung zu leisten. Aber weit mehr noch wird sich nun im Blut des geopferten Lammes die Liebe offenbaren, mit der es für uns vergossen wurde: „Im Blut finden wir die unsagbare Liebe, mit der wir von ihm geliebt werden, denn aus Liebe hat er uns das Leben geschenkt und uns die Gnade zurückgegeben, die wir durch die Sünde verloren hatten. In seinem Blut finden wir das Übermaß seines Erbarmens und dort sehen wir, dass Gott nur unser Bestes will“ (Brief 264).
4. In seinem berühmten Brief an die Römer schreibt der Märtyrerbischof Ignatius von Antiochien am Beginn des 2. Jahrhunderts: „Ich habe keine Freude an vergänglicher Speise, noch an den Vergnügungen dieses Lebens. Gottes Brot will ich, das ist das Fleisch Jesu Christi, und als Trank will ich sein Blut, das unvergängliche Liebe ist“ (PG 5, 693 ab). Damit wird erstmals die Beziehung, ja Identität von Blut und Liebe zum Ausdruck gebracht, und Caterina greift diesen Gedanken auf und macht ihn dann zum Grundakkord ihrer gesamten Betrachtungen: sie sieht das Blut als jenes flüssige Element der Gnade und der Erlösung, das die Gottesliebe ins unendliche Strömen bringt[2] und damit zum letztmöglichen Beweis für all seine Worte wird. Nur so ist Caterinas oft zitierter Ausruf zu verstehen: „Ich will Blut, denn im Blut werde ich jetzt und in Zukunft das Sehnen meiner Seele stillen“ (Brief 102). Christi Blut ist nicht nur eine Chiffre oder ein Zeichen, sondern ein Realsymbol der Liebe des Schöpfers, denn es trägt in sich die Natur des Göttlichen – von Caterina ausgedrückt mit dem Wort Feuer. Dieses Feuer, der Heilige Geist, ist „eingesenkt [wörtl. vermischt] ins Blut. Und daher ist es wohl wahr, dass das Blut [vor Liebe] brennt“ (Brief 189). Es war der Heilige Geist, der die Vereinigung von Gottheit und Menschheit zum Neuen Bund in seinem Blut bewirkte. Und dieser Bund, diese Verbindung ist ewig, weil die Liebe und das Blut sich so vollkommen vereinigten, „dass wir nicht Feuer ohne Blut und nicht Blut ohne Feuer haben können“ (Brief 189). Alle Kraft und Preiswürdigkeit des Blutes kommt aus der Vereinigung mit der göttlichen Wesenheit, „denn wenn es sich bloß um einen Menschen und nicht auch zugleich um Gott gehandelt hätte, nützte das Blut nichts (Brief 73). Erst die Einigung, die Gott mit dem Menschen vollzog, macht das Blut kostbar: „O ewige Dreifaltigkeit!“ ruft Caterina aus, „O Gottheit, diese Deine Gottheit, Deine göttliche Natur ist es, die dem Blut Deines Sohnes seinen Wert als Lösepreis verliehen hat (Dialog 167). Das Begriffspaar „Blut und Feuer“ ist gleichsam das caterianische Kürzel für das Geheimnis der Menschwerdung Gottes.
5. In einem anderen Bild dagegen wird das Blut Christi wieder mehr als Mittel aufgefasst, als ein Bindemittel, das Gottheit und Menschheit zusammenhält, wie es in der bekannten Metapher der Christusbrücke deutlich wird: Christus ist jene Brücke, die sich vom Himmel zur Erde spannt und über die wir schreiten müssen, um den Strom des Todes überqueren zu können. Diese Brücke fügte Christus selbst zusammen. Nachdem die Steine (auf Golgota) auf seinem Leib behauen worden waren, „hat er sie fest eingemauert und den Mörtel dafür mit seinem eigenen Blut angerührt. Das heißt, sein Blut wurde vermischt mit dem Mörtel der Gottheit und mit der Kraft und dem Feuer der Liebe“ (vgl. Dialog 27). In der Mitte dieser einzigen Verbindung zwischen Himmel und Erde, auf dieser einzigen Brücke, die Christus ist, steht auch eine einzige Herberge, an der niemand vorbeigehen kann: die heilige Kirche.
6. Christus, Petrus, Kirche – von dieser Synthese des göttlichen Heilsplanes[3] ist Caterina zutiefst erfüllt und durchdrungen. Die Kirche, „die selber Liebe ist“[4], ist Christus selbst[5] und der Papst ist der „süße Christus auf Erden“ (Brief 196). Das Blut des Erlösers ist hinterlegt in der Kirche, der Braut Christi, und verleiht ihr das lebensvolle Rot (vgl. Brief 206) die „Farbe der Liebe“ (Brief 177), es ist ihr anvertraut als ihr eigentlicher „Schatz“ (Brief 209), als der berauschende Trank, den der Papst, der „Kellermeister des Blutes“ (Brief 239, 291, 305, 306), hüten muss. Er allein trägt die Schlüssel zu diesem Vorratskeller (vgl. Gebet 24). Eine Auflehnung gegen ihn wäre daher eine Auflehnung gegen das Blut: „Wer dem Christus auf Erden, der den Christus im Himmel vertritt, nicht gehorcht, der nimmt am Blut des Gottessohnes nicht teil. Denn Gott hat es so eingerichtet, dass durch dessen Hände Christi Blut und alle Sakramente der Kirche uns zukommen. Es gibt keinen anderen Weg und keine andere Pforte für uns“ (Brief 207). Selbst wenn der Papst und die Hirten menschlich gänzlich versagten, so müssten wir ihnen dennoch gehorchen, denn „unsere Ehrfurcht erweisen wir ja nicht zuerst seiner Person, sondern dem Blute Christi und der Würde und Autorität, die Gott ihm für uns verliehen hat“ (Brief 311).
7. Auch die Priester verdanken ihre Würde einzig und allein dem Blut des Gottessohnes, das ihren Dienst rechtfertigt und all ihrem Tun die gnadenhafte Wirkung verleiht. Die Priester sind „Diener des Blutes“ (Dialog 117, 127) und dazu bestellt, dem ganzen universalen Leib der Christenheit dieses glorreiche Blut auszuteilen (Dialog 115) samt den übrigen Sakramenten, die von diesem Blute leben. Weil sie das Blut in Händen tragen, wird von ihnen eine weit größere Reinheit und Liebe zu Gott und zum Nächsten gefordert als von den übrigen Seelen (Dialog 113). Aber selbst wenn sie sündigen, wird die Kraft der Sakramente dadurch nicht geringer, „denn ihre Bosheit verdirbt und beschmutzt das Blut nicht, noch vermindert sie dessen Gnade und Kraft, und ebenso wenig schädigt sie denjenigen, dem es gereicht wird“ (Dialog 14).
Die drei von Caterina beklagten Laster der Priester – Hochmut, Geiz und Unkeuschheit – können nur geheilt werden im Vertrauen auf das Blut des Erlösers: „Wenn ihr das Blut des Lammes betrachtet“, schreibt sie an einen Priester, „werdet ihr ganz gewiss euer Herz wieder frei machen von all dieser Erbärmlichkeit“ (Brief 59).
8. Christus hat sein Blut am Kreuz für alle vergossen, aber nicht alle erhalten Anteil daran. Dies liegt nicht an einer Schwäche des Blutes, sondern in der Freiheit des Menschen. Daher sind wir auch mitverantwortlich für unser Heil. „Um dieser Freiheit willen“ schreibt Caterina an einen hohen Beamten in Siena „sagt Gott: Ich habe dich zwar ohne dich erschaffen, aber ich werde dich nicht ohne dich erlösen“ (Brief 148).
Was können und müssen wir also tun, damit die Erlösungstat des Sohnes für uns wirksam wird? Caterinas Antwort darauf lautet: Der Mensch muss seine Seele mit dem Blut Christi in Berührung bringen, denn da in diesem Blut das Feuer der Gottheit und die Glut der Liebe ist, kommen wir durch die Einigung mit dem Blut zur Vereinigung mit Gott: „Durch das Blut Christi wird er [Gott] Euch in sich einpflanzen“ (Brief 317), durch dieses Blut „werdet Ihr mit ihm eins“ (Brief 75). Und weil dieses „Feuer“ im Blut zugleich auch Wärme und Licht ist, erhalten wir durch diese Einigung mit dem Blut auch das Licht des Glaubens, mit der wir die Wahrheit erkennen können (vgl. Brief 227, 296).
9. Wo aber kommen wir mit dem Blut Christi in „Berührung“? In den Sakramenten der Kirche, „die uns alle durch die Kraft des Blutes Leben spenden“ (Brief 339). Sie sind das grundsätzliche Mittel zur Heiligung des Menschen, da sie – gleich lebensspendenden Kanälen – Christi Blut in uns einströmen lassen. Christus hat uns „in seinem Blut ein Bad bereitet“ (Brief 99, 287), in der Taufe erhält die Seele „kraft des Blutes Christi“ das „Gewand der Gnade“ (Brief 220), die Beichte ist eine „fortwährende Taufe im Blut“ (Dialog 75), und in der Kommunion werden wir mit dem Blut genährt, mit dem „Wein, der die Seele berauscht“ (Brief 208). Die immer wiederkehrenden Empfehlungen Caterinas, die alle ihre Briefe durchziehen: „Taucht unter im Blut, badet Euch im Blut, berauscht Euch im Blut, sättigt Euch mit Blut, bekleidet Euch mit Blut und wenn Ihr untreu geworden seid, so tauft Euch erneut im Blut ...“ (Brief 102, 333 u.v.a.) sind vor allem auf diesem sakramentalen Hintergrund zu sehen, nämlich als eine Inkorporation, eine Einverleibung, eine lebendige Assimilation in Christus.
Die Sakramente sollen in uns auch die ständige Erinnerung an das Blut des Erlösers lebendig halten (vgl. Dialog 78). Denn Caterina ist überzeugt, dass die Menschen „durch nichts anderes so sehr sündigen als dadurch, dass sie nicht an das Blut denken“ (Brief 167) und so auf die zahlreichen Wohltaten Gottes vergessen. Diese Undankbarkeit verhindert jeglichen Eifer zur Tugend. „Deshalb will ich“, schreibt Caterina an einen jungen Mann, „dass Euer Gedächtnis ständig erfüllt wird vom Blut des gekreuzigten Christus“ (Brief 154).
10. Aus wiederholten Äußerungen in den Briefen ist zu entnehmen, dass sie selbst erfüllt war von einer tiefen Sehnsucht, auf Gottes Erbarmen mit ihrem eigenen Blut zu antworten. Aber wenn Caterina auch das leibliche Martyrium versagt blieb, das seelische erlitt sie sicher aus Liebe zur Kirche und zum Blut des Erlösers.
Was letztlich Caterinas Todesursache war, bevor sie mit den Worten „Sangue, Sangue! – Blut, Blut!“ (Supplementum III, 5, 11) auf den Lippen verschied, mag ein Gebet aus jenen leidvollen Tagen mehr als hinlänglich zum Ausdruck bringen: „O ewiger Gott, nimm an das Opfer meines Lebens für den mystischen Leib der Heiligen Kirche. Ich habe nichts anderes anzubieten, als was Du mir gegeben hast. Nimm also mein Herz und presse es aus über dem Antlitz Deiner Braut. Da wandte mir der ewige Gott sein gnädiges Auge zu, nahm mir mein Herz heraus und presste es aus in der Heiligen Kirche“ (Brief 371). So gab die Mystikerin des Kostbaren Blutes zuletzt doch - wenn auch auf geheimnisvolle Weise – ihr eigenes Blut als einen leuchtenden Baustein für das Gefüge der Heiligen Kirche.
W. S.
Anmerkungen:
[1] Verbesserte Version (2020) des Beitrags im Heft „St. Josef” Nr. 6 (2001). Weiterführend zu diesem Thema: A. Grion, La dottrina di Santa Caterina da Siena, Brescia 1962. - F. Valli, Il Sangue di Cristo nell´opera di Santa Caterina da Siena, Roma 1950. - A. Walz, Il segreto del cuore di Cristo nella spiritualita cateriniana, in: Studi domenicani, Roma 1950, pp. 87-129. - D. van Horn, St. Catherine of Siena and the Precious Blood, in: Proceedings of the first Precious Blood Study Week, 1957, Carthagena, Ohio, p. 272-278 - In der Reihe: Il Sangue prezioso della nostra redenzione, rivista trimestrale dei Missionari del Preziosissimo Sangue, Roma, finden sich: L. Ciappi, Amore e Sangue nel mistero della salvezza, 4 / 1966; P. Parente, Croce e Sangue nella teologia di Santa Caterina da Siena, 2 / 1970; R. Spiazzi, Il Sangue di Cristo, Sacramento della nostra redenzione, 1 / 1969; N. da Terrinca, La devozione del Preziosissimo Sangue di nostro Signore Gesu Cristo, 1 / 1966. St. Hawkins, The Blood of Christ in The Life an Works of St. Catherine of Siena: a spiritual, scriptural, historical, reflection study, 1, 2, 1976. C. Riccardi C.M., Il Sangue di Cristo nell´insegnamento di S. Caterina da Siena, Siena 2000; Giuliana Cavallini, Caterina da Siena, in: Dizionario Teologico sul Sangue di Cristo, a cura di Tulio Veglianti, Roma 2007, 249–257.
[2] vgl. Hans Urs v. Balthasar, Umriss der Lehre, in: Caterina von Siena, Gespräch von Gottes Vorsehung (Lectio spiritualis 8), übertr. Von Ellen Sommer-von Seckendorff und Cornelia Capol, Einsiedeln 1964, XXIII.
[3] Vgl. Papst Paul VI., Ansprache bei der Generalaudienz am 1. Sept. 1976, OR. 10. Sept. 1976.
[4] Brief Nr. 171 „Ella e fondata in amore, ed esso amore.“
[5] Ebd., wörtl.: „Denn die Kirche ist nichts anderes als derselbe Christus.“