Edmund G. Gardner

Die hl. Caterina von Siena

Eine Studie über Religion, Literatur und Geschichte
des 14. Jahrhunderts in Italien

 
1. Kapitel
Caterinas verborgenes Leben

 

Caterina Benincasa, die wir heute die heilige Caterina von Siena nennen, wurde am 25. März 1347 geboren – am Fest der Verkündigung, das nach florentinischer und sienesischer Zeitrechnung der erste Tag des neuen Jahres war. Hundertzwanzig Jahre waren vergangen, seit der heilige Franziskus in Assisi in den Armen von Frau Armut, seiner mystischen Braut, gestorben war, und ein Vierteljahrhundert, seit Dante im Exil in Ravenna das Zeitliche gesegnet hatte, um seine Beatrice im Empyreum, dem von ihm besungenen Himmel, wiederzusehen. Diese beiden Männer sind Caterinas ältere Brüder im Geiste: Der engelgleiche Vater von Assisi, Standartenträger des Gekreuzigten, wie ihn die Stimme in der großen Vision von La Verna angerufen hatte, ist ihr Vorgänger im mystischen Leben; was den Dichter der Divina Commedia betrifft, so ist sie dessen Nachfolgerin in der Geschichte des religiösen Denkens in Italien.

Zu ihren Zeitgenossen zählte Francesco Petrarca, damals beinahe dreiundvierzig Jahre alt. Sechs Jahre zuvor auf dem Kapitol zum poeta laureatus gekrönt, war er jetzt der „Literaturpapst“ Italiens, kehrte jedoch im Jahr von Caterinas Geburt in seine provencalische Heimat nach Vaucluse zurück und kämpfte mit den Najaden (wie er es dichterisch ausdrückte), die während der langen Abwesenheit jenseits der Alpen seinen Garten am Ufer der Sorgue zerstört hatten. Möglicherweise vollendete er in diesem Jahr den ersten Teil seines Canzoniere für Madonna Laura mit dem Sonett „Arbor vittoriosa, triunfale“ und begann nun die zweite, edlere und spirituellere Reihe von Gedichten mit der sublimen Canzone „I’vo pensando“: „Nun aber, mit dem Tod an meiner Seite, suche ich eine neue Regel für mein Leben, und ich sehe das Bessere, aber ich halte mich an das Schlechtere.“ Giovanni Boccaccio war vierunddreißig Jahre alt und noch nicht der Autor des Decamerone. Er hatte seine frühen Prosa-Romanzen und Gedichte verfasst, seine Fiammetta verlassen (oder wurde von ihr verlassen) und befand sich entweder in Florenz oder (was wahrscheinlicher ist) in der Romagna in Forlì unter dem Schutz von Francesco degli Ordelaffi. Geoffrey Chaucer war – gemäß neuesten Theorien über sein Geburtsdatum – ein kleiner Junge von gerade sieben Jahren. Edward III. von England hatte im Jahr zuvor die Schlacht von Crécy gewonnen. Karl von Luxemburg, König von Böhmen, unwürdiger Enkel des von Dante verehrten Heinrich und Sohn des heldenhaften blinden Königs Johann, der bei Crécy gefallen war, war als Karl IV. zum Kaiser des Heiligen Römischen Reichs gewählt worden. Und von Avignon aus missbrauchte Pierre Roger de Beaufort die Kirche Christi und entweihte den Thron des Fischers unter dem Namen des Papstes Clemens VI.

Am Zustand Italiens hatte sich wenig geändert, seit Dante seine berühmte Klage im sechsten Gesang des Purgatorio geschrieben hatte. Es war immer noch „eine Herberge der Schmerzen“ und noch nicht wieder die „Fürstin unter den Ländern“. „O großer Dichter“, schreibt Caterinas Zeitgenosse, Benvenuto da Imola, „könntest du doch wieder zum Leben erwachen! Wo ist Friede, wo ist Freiheit, wo ist Ruhe in Italien? Schnell würdest du erkennen, o Dante, dass zu deiner Zeit manche Übel es bedrückten; aber diese waren in der Tat kleine und wenige; denn du zählst unter den Leiden Italiens das Fehlen eines Monarchen und den Streit unter einzelnen Familien auf. Heute dagegen bedrücken uns schlimmere Dinge, so dass ich von ganz Italien sagen kann, was dein Vergil über eine einzige Stadt sagte: Crudelis ubique luctus, ubique pavor, et plurima mortis imago.[1] Gewiss, Italien litt solche Ungemach weder zur Zeit Hannibals noch des Pyrrhus, noch unter den Goten oder den Lombarden. Denn Attila überquerte nicht den Apennin, noch Totila den Po; sie verwüsteten nur Apulien und Rom. Mit wie viel größerem Recht, wenn es denn rechtens wäre, dürfte ich zum Allmächtigen schreien, als du, dessen Los in glückliche Zeiten fiel, die alle jetzt Lebenden im unglücklichen Italien wohl beneiden? Lass Ihn also, der es vermag, jetzt den Veltro[2] senden, den du in einer Vision sahst – falls er je kommen sollte.“[3] Obwohl Guelfen und Ghibellinen längst ihre Bedeutung verloren hatten, blieben die Parteiungen bestehen. Die italienischen Städte stöhnten entweder unter dem schweren Joch grausamer Tyrannen oder waren, falls sie sich noch als freie Republiken selbst verwalteten, durch innere Streitigkeiten zerrissen und von Bruderkriegen mit ihren Nachbarn geplagt. Die Anarchie im Lande wurde noch verstärkt durch die Anwesenheit umherziehender Kompanien von Söldnern – Deutsche, Bretonen, Engländer, Ungarn –, die einmal im Dienst irgendeines Despoten, ein andermal im Sold einer Republik standen, aber immer für die eigene Tasche kämpften und von den Städten hohe Lösegeldsummen erpressten, damit sie ihr Gebiet nicht verwüsteten und die Landbevölkerung dem Schrecken einer Hungersnot aussetzten.

Der moralische Zustand des Landes entsprach dem politischen. Die Abwesenheit der Päpste, das Beispiel des schlechten Lebenswandels der Diener der Kirche, die wachsende Unmoral von Arm und Reich brachten das religiöse Leben in Italien zum Stillstand. Die franziskanische Erneuerung gehörte bereits der Vergangenheit an, und die Schreiben der Generaloberen der Dominikaner bestätigen den beklagenswerten Niedergang des Predigerordens.[4] Es gibt vielfache Beweise in den Offenbarungen der Birgitta und im Dialogo Caterinas, dass moralische Korruption in Konventen und Klöstern, unter Männern und Frauen, gleichermaßen grassierte. Viele Weltpriester hielten sich offen Konkubinen; andere waren Wucherer; nicht wenige folgten dem Beispiel des von Dante erwähnten Bischofs, der trasmutato d’Arno in Bacchiglio, „von Florenz nach Vicenza versetzt“ wurde, und taten Schlimmes.[5] Der Geist der Weltlichkeit, der Bosheit in hohen Ämtern, zog ungehindert durch die Kirche, während die drei Tiere aus Dantes Allegorie ihren Tanz am päpstlichen Hof aufführten.

Im Jahr nach Caterinas Geburt, 1348, brach die große Pestepidemie – angeblich durch zwei Genueser Galeeren aus dem Osten eingeschleppt – über Italien, die Provence, Frankreich und Spanien herein und breitete sich im folgenden Jahr über England und das übrige Europa aus. Giovanni Villani, der Chronist, der Dante Alighieri als „unseren Nachbarn“ bezeichnen konnte, befand sich unter den Opfern in Florenz; die Laura, der Petrarca seine dichterische Hommage gewidmet hatte, in Avignon; Ambrogio Lorenzetti, der herausragende Allegorien-Maler, in Siena. In Italien wütete die Seuche nicht überall mit gleicher Grausamkeit: Mailand und andere Städte nahe den Alpen waren vergleichsweise weniger betroffen, Florenz und Siena erlebten ihre schlimmsten Gräuel. Während der fünf Monate, in denen sie beide Städte verwüstete, von April oder Mai bis Anfang oder Ende September, war das öffentliche Leben unterbrochen und etwa vier Fünftel der Bevölkerung starben. Besonders berührend ist der Bericht des sienesischen Chronisten Agnolo di Tura: Männer und Frauen fühlten die todbringende Schwellung und fielen plötzlich, während sie sprachen, tot um. Alle natürlichen und religiösen Bande schienen aufgehoben. Ohne jede kirchliche Zeremonie wurden die Toten unterschiedslos in große Gruben geworfen, die man hastig in verschiedenen Teilen der Stadt ausgehoben hatte, und mit gerade so viel Erde bedeckt, um die Hunde abzuhalten. „Und ich, Agnolo di Tura, genannt Grasso, begrub fünf meiner Söhne mit eigener Hand in einer Grube.“ Die Menschen meinten, das Ende der Welt sei gekommen. Bernardo Tolomei, Gründer der Olivetaner, stieg mit seinen weiß gekleideten Mönchen aus der Sicherheit des abgeschiedenen Monte Oliveto hinab, um die Kranken in den Straßen von Siena und anderen toskanischen Städten zu betreuen, und starb, mit vielen seiner Mitbrüder, während seines Dienstes. In seiner eigenen Stadt fand er weniger Nachahmer als unter den Florentinern. Matteo Villani, der die Chronistentätigkeit seines Bruders fortsetzte, berichtet, dass in Florenz viele, die ihr Leben der Pflege der Pestkranken gewidmet hatten, der Seuche entweder ganz entkamen oder, wenn sie sich ansteckten, wieder erholten, und dass ihr Beispiel andere zu ähnlichen wohltätigen Werken ermutigte. Sie erschien ihm wie eine zweite Sintflut, die als göttliches Strafgericht für die Sünden der Menschen gesandt wurde.[6] Sie gleicht in der Tat einer schwarzen Flut, die das Zeitalter überschwemmt und das Italien Dantes von jenem Caterinas trennt.

Petrarca war – wie wir aus der berühmten Notiz am Seitenrand seines Vergil wissen – in Parma, als ihn die Nachricht von Lauras Tod erreichte; sein Trionfo della Morte stilisiert das Grauen der Zeit zu einer leidenschaftlichen Homilie über die Vergänglichkeit aller irdischen Größe. Boccaccio hielt sich offensichtlich in Neapel auf, wo er im folgenden Jahr sein Decamerone mit einer rhetorischen Beschreibung der Pest in Florenz, die er persönlich nicht miterlebt hatte, begann. Die erlittenen Schrecken bewirkten keine dauerhafte Veränderung der Menschen zum Guten und jene, die auf eine tiefgreifende Erneuerung der Welt gehofft hatten, wurden rasch enttäuscht. Zurückhaltung und Konvention wurden über Bord geworfen; unter den Überlebenden kam es zu Ausschreitungen und Exzessen aller Art. In den verödeten Straßen ertönte das Geschrei der Feiernden oder die wüsten Schreie der Randalierer. Wollust, Stolz und Habsucht umschlangen noch fester die menschliche Seele. „Ohne jede Zurückhaltung“, schreibt Matteo Villani, „stürzte sich nahezu unsere ganze Stadt in einen bösen Lebenswandel, und das Gleiche oder noch Schlimmeres taten auch die anderen Städte der Welt. Außerdem gab es nach dem, was wir hörten, keinen Ort, an dem diejenigen, die dem göttlichen Zorn entronnen waren, in Enthaltsamkeit lebten, vielmehr waren sie überzeugt, dass nun die Hand Gottes ihre Kraft verloren hätte.“ Vielerorts kam es zu Knappheit und zu Hungersnöten; die Arbeit blieb für lange Zeit liegen; überall brachen Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten über Fragen der Erbschaft und Nachfolge aus. Nicht einmal die typische Fröhlichkeit der Sieneser konnte über die erschreckende Zerstörung ihrer Stadt hinwegtäuschen: per Siena non pareva che fusse persona – Siena war wie ausgestorben.[7] Die zynischen und schamlosen Erzählungen des Decamerone zeichnen die Verderbtheit der folgenden Jahre mit der Hand des Meisters. Zweifellos gibt es Übertreibungen – und auch der Hass des Autors auf die Priester und ihre Verbündeten hat seinen Stil gefärbt; aber der Leser einiger erschreckender Kapitel aus Caterinas Dialogo, der nicht ganz dreißig Jahre später entstanden ist, wird eine nur allzu deutliche Bestätigung für Boccaccios Zeugnis finden.

Das Haus, in dem Caterina geboren wurde, steht noch immer, wenn auch – weder unehrerbietig noch pietätlos – durch Generationen von Verehrern verändert, an der Seite jenes dritten Hügels von Siena, der sich gegenüber dem Dom über das tiefe und duftende Vallepiatta erhebt und durch die große Kirche des Predigerordens, San Domenico, aus rotem Ziegel bekrönt wird. Ein wenig unterhalb, in Richtung eines der Stadttore, das in den Annalen der Kriege Sienas berühmt ist, fließt „ihre tiefgrüne Quelle“, Fontebranda, von der aus wir noch immer mit dem Dichter der Gesänge vor Sonnenaufgang, A.C. Swinburne, „die steile Straße hinauf“ blicken können, und dort sehen wir „auf halbem Weg das Haus am Hang, das Caterinas Leib umgab, des‘ Boden ihre Füße spürte und das lebend‘ge Licht der Liebe auf ihrem Antlitz leuchten sah.“

Caterinas Familie gehörte zur Schicht und Fraktion der Dodicini oder popolo minore „das heißt, zu jener Klasse von Menschen, die später die Stadt Siena regierten.“ Ihr Vater, Jacomo di Benincasa, war Färber, ein einfacher und gottesfürchtiger Bürger, mit reinem Herzen und sanfter Sprache, wie ihn Giotto oder Simone Martini als einen der ersten Nachfolger dessen gemalt haben könnten, den die Menschen den Sohn des Zimmermanns von Nazareth nannten. Ihre Mutter, Lapa di Puccio di Piagente, war die Tochter eines Bürgers der gleichen Gesellschaftsschicht, der anscheinend auch dichterisch veranlagt war – wie viele toskanische popolano jener Zeit: „Eine Frau“, schreibt Fra Raimondo, „die der Verderbtheit unserer Zeit völlig fremd ist, obwohl sie sich mit großer Sorgfalt um die Angelegenheiten des Haushalts und ihrer Familie kümmerte, wie alle wissen, die sie kennen, denn sie lebt noch.“ Während der Kindheit der Heiligen war ihr Vater ein vermögender Mann, und die ganze Familie lebte zusammen in jenem Haus, in dem sich die Färberei befand. Der gesamte Stadtteil von Siena ist noch immer durchzogen von den Gerüchen des Färber- und Gerbergewerbes, und der seltsame, angenehme Geruch verbindet Vergangenheit und Gegenwart der Menschen jener Stadt, deren jungfräuliche Tochter, in Raimondos Worten, „zur Braut des Himmelskönigs wurde.“

Lapa schenkte Jacomo eine große Kinderschar. Die Namen von fünf Söhnen sind überliefert: Benincasa, Bartolommeo, Sandro, Niccolò und Stefano; fünf Töchter waren älter als Caterina: Niccoluccia, Maddalena, Bonaventura, Lisa und Nera. Bartolommeo, der zweitälteste Sohn, heiratete Lisa di Golio (oder, nach anderen Berichten, di Chimento) Colombini, die vermutlich eine Cousine ersten Grades von Giovanni Colombini (dem Gründer der Gesuati) war und mit Caterina in Leben und Werk eng verbunden blieb.[8] Von den Töchtern heirateten Niccoluccia und Maddalena Palmiero di Nese della Fonte bzw. Bartolo di Vannino. Die Atmosphäre im Haus des Färbers war von solcher Reinheit, dass Bonaventura, die dritte Tochter, als sie einen gewissen Niccolò di Giovanni Tegliacci heiratete, über die lasterhaften Gespräche ihres Mannes mit seinen jungen Freunden so bestürzt war, dass sie schwer erkrankte und erst durch die Bekehrung ihres Mannes wieder gesund wurde. Diese Bonaventura war die Lieblingsschwester Caterinas. Eine Zwillingsschwester, die man auf den Namen Giovanna taufte, wurde gleichzeitig mit Caterina geboren, starb aber wenig später. Von ihrer Geburt an war die Heilige, die als einziges der jüngeren Kinder von Lapa selbst gestillt werden konnte, der besondere Liebling ihrer Mutter innerhalb der Familie. Gewöhnlich wird behauptet, sie sei die Jüngste gewesen, aber Raimondo sagt: „Nachdem Lapa Caterina geboren hatte, brachte sie noch ein Mädchen zur Welt, das zur Erinnerung an Caterinas verstorbene Zwillingsschwester Giovanna genannt wurde. Dieses Kind war das letzte, nachdem sie fünfundzwanzig Kinder geboren hatte.“[9] Diese zweite Giovanna – oder Nanna – starb, als Caterina sechzehn Jahre alt war; die Eintragung im Libro de' morti von San Domenico lautet: „Nanna filia Iacobi tinctoris sepulta est die xviii aprilis, 1363“ – Nanna, die Tochter des Färbers Jakob, wurde am 18. April 1363 begraben.

Als sie heranwuchs, wurde Caterina der Liebling des ganzen Viertels. „Wahrlich“, schreibt Fra Raimondo, „die Weisheit und Klugheit ihrer Rede, die Lieblichkeit ihrer frommen Gespräche können weder Mund noch Feder leicht beschreiben. Das wissen nur jene, die es erlebt haben.“ Nicht nur, was sie sagte, sondern ihr ganzes Verhalten hatte eine eigentümliche Macht, den Sinn der Menschen zum Guten und zur Freude an Gott zu führen, sodass alle Traurigkeit aus den Herzen jener, die mit ihr sprachen, verschwand und alle geistige Müdigkeit vertrieben wurde; ja, selbst die Erinnerung an alle Sorgen verschwand, und an ihre Stelle trat eine so ungewohnte und große Seelenruhe, dass jeder, über sich selbst verwundert, ganz neuartige Freude empfand und insgeheim sprach: „Es ist gut, dass wir hier sind, lasst uns hier drei Hütten bauen.“ Hier befinden wir uns zweifellos in der Atmosphäre der Vita Nuova; denn nicht anders hatte Dante in den goldenen Sonetten seiner Jugend seine Beatrice besungen; und so wie die ruhmreiche Dame seines Herzens „von vielen Beatrice genannt wurde, die nicht ahnten, was dieser Name bedeutet“, so empfanden auch viele in Siena ein solches Vergnügen an Caterinas kindlicher Weisheit und an ihrer Gesellschaft, „dass sie aus einem freudigen Überschwang heraus sie nicht mehr Caterina, sondern Eufrosina nannten, wobei ich nicht weiß, was sie dazu veranlasste.“[10] Und so wie „der Name der gebenedeiten Jungfrau und Königin Maria durch Beatrice in Ehren gehalten wurde“, so bewies auch Caterina bereits ab ihrem fünften Lebensjahr eine völlige Hingabe an die selige Jungfrau, indem sie auf jeder Stufe des Treppenaufgangs im Haus ihres Vaters beim Hinauf- und Hinuntersteigen niederkniete, um sie zu grüßen.

Bei einem solchen Kind in diesem Alter blieben grundsätzlich auch Visionen nicht aus. Sie war gerade sechs Jahre alt, als sie mit ihrem Bruder Stefano auf dem Rückweg vom Haus ihrer Schwester Bonaventura die steile Vallepiatta ins Tal der Fontebranda hinunterging und über der Kirchturmspitze von San Domenico Christus auf einem Herrscherthron sitzen sah. Er war angetan mit päpstlichen Gewändern und mit der Tiara auf dem Haupt, begleitet von den heiligen Petrus und Paulus und seinem Lieblingsjünger Johannes. Und Christus lächelte ihr zu und segnete sie, und das Mädchen fiel in Ekstase, wusste nicht, wo sie war, noch was sie tat, bis ihr Bruder sie durch Rufen und Schütteln ihrer Hand wieder auf den Boden der Realität zurückholte.

Dann hüllte sie sich in Schweigen, enthielt sich der Nahrung und züchtigte ihren Körper; sie zog sich in Wälder und Höhlen zurück, um die alten Anachoreten in der Wüste nachzuahmen, träumte davon, als Junge verkleidet in den Dominikanerorden einzutreten, oder versammelte andere kleine Mädchen ihres Alters um sich, um mit ihr zu beten und Bußübungen zu verrichten. Da sie Tag für Tag mehr in göttlicher Liebe entbrannte, weihte sie Christus ihre Jungfräulichkeit. Das geschah, wie sie später ihren Beichtvätern berichtete, als sie sieben Jahre alt war – was wir vielleicht ähnlich interpretieren könnten wie Dantes Bekenntnis seiner beginnenden Zuneigung zu Beatrice: „Es war ungefähr am Beginn ihres neunten Lebensjahres, dass sie mir erschien und ich sie gegen Ende meines neunten Jahres sah.“

Als sie aber zwölf Jahre alt geworden war und nach sienesischem Brauch als heiratsfähig galt, wurde sie – auf Betreiben ihrer Mutter – von ihrer Schwester Bonaventura, die sie überaus liebte und der sie keinen Wunsch abschlagen konnte, dazu überredet, für eine Weile ihre Lebensweise zu ändern, ihr Haar zu färben, sich schön zu machen, sich vorteilhaft zu kleiden und sich den Umgangsformen ihrer kleinen Welt anzupassen. Sie bereute dies später bitterlich als schwere Sünde und büßte hart dafür, weil sie sich anklagte, ihre Schwester mehr geliebt zu haben als Gott; auch die tröstenden Ermahnungen Fra Raimondos konnten sie nicht dazu bringen, die Sache in einem anderen Licht zu sehen. Bonaventura starb im August 1362, und Caterina kehrte sofort zu ihrer gewohnten Lebensweise zurück. Das wollten aber ihr Vater und ihre Brüder nicht erlauben, besonders nach dem Tod der älteren Schwester, deren Ehemann unter den Angehörigen jener Gruppe in Siena, zu der auch sie gehörten, Rang und Namen hatte. Sie waren entschlossen, einen Gemahl für Caterina zu finden, deren eheliche Verbindung die Stellung der Familie innerhalb der Stadt festigen sollte. Da sie sich nach ihrer Meinung widerspenstig und ungehorsam zeigte, wandten sie sich an einen gewissen Fra Tommaso della Fonte, einen der Mönche von San Domenico, der in ihrem Haus aufgewachsen und möglicherweise ein Verwandter des Ehemannes von Caterinas Schwester Niccoluccia war.

Dieser Fra Tommaso war der erste jener Söhne des heiligen Dominikus, mit denen Caterina in Kontakt kam – eine Gruppe würdiger Männer, die inmitten all der kirchlichen Verderbnis, die sie umgab, ihren einfachen Glauben und ihren religiösen Eifer unvermindert bewahrten und in der Scholastik des Doctor Angelicus eine ausreichende Antwort auf alle Probleme ihrer Zeit gefunden hatten. Fra Tommaso wurde Caterinas erster Beichtvater und hat offenbar, soweit er es beobachten konnte, Aufzeichnungen über ihr Leben gemacht, die dann in Fra Raimondos große Legenda eingegangen sind. Da er sie fest entschlossen fand, forderte er sie auf, ihrer Eingebung zu folgen, und riet ihr, ihr schönes Haar abzuschneiden, als Zeichen für ihre Familie, dass ihre Absicht unverrückbar sei. Die unvermeidlichen häuslichen Strafsanktionen folgten. Caterinas Zimmer wurde ihr weggenommen, und sie war gezwungen, alle niedrigen Dienste im Haus zu versehen. Die Dienstboten wurden entlassen, damit sie weder Zeit noch Ort für Gebet und Andacht finden sollte. Sie wurde mit Beschimpfungen und Vorwürfen überhäuft und denkbar schlecht behandelt, um ihre scheinbare Widerspenstigkeit zu brechen. Aber alles vergebens. Auf sich selbst zurückgeworfen, entdeckte dieses Mädchen eine Zuflucht, die sie ihren Schülern immer wieder ans Herz legen wollte, die auch sie finden sollten und die ihnen niemals genommen werden könne: die Zelle der Selbsterkenntnis. „Durch Eingebung des Heiligen Geistes schuf sie sich in ihrem Inneren eine geheime Zelle, die sie niemals mehr wegen irgendeiner äußeren Beschäftigung verlassen wollte. So kam es, dass sie, die früher eine eigene Kammer besaß und sich zuweilen in ihr aufhielt und auch wieder wegging, nun, da sie sich diese innere Zelle geschaffen hatte, die ihr niemand wegnehmen konnte, diese nie mehr verließ.“ Alle Unfreundlichkeit, alle Vorwürfe ertrug sie sanft und heiter. „Sie erzählte mir, dass sie sich stets vorgestellt hatte, ihr Vater stehe an der Stelle unseres Herrn und Erlösers Jesus Christus; ihre Mutter an jener der glorreichen Mutter Gottes; und dass ihre Brüder und die übrige Familie die heiligen Apostel und Jünger darstellten. Dank dieser Vorstellung diente sie allen mit solch großer Freude und Umsicht, dass sich jedermann wunderte.“[11] Auch ihre Visionen verließen sie nicht. In einem Traum meinte sie, den heiligen Dominikus zu sehen, der in einer Hand eine weiße Lilie hielt, die – wie der Dornbusch des Moses – brannte, aber nicht verbrannte, während er ihr mit der anderen den schwarzen und weißen Habit der Dominikaner-Terziarinnen, der Schwestern der Buße, hinhielt und ihr versprach, dass sie ihn tragen werde, wie sie es sich wünschte.

Jacomo di Benincasa ließ sich zu dieser Zeit überzeugen, dass das Verhalten seiner Tochter einer höheren Bestimmung gehorchte und nicht durch eine kindische Laune verursacht war. Er hatte sie unbemerkt beobachtet, als sie im Zimmer ihres Bruders Stefano (des einzigen Bruders, der noch unverheiratet war) betete, und hatte eine schneeweiße Taube über ihrem Kopf gesehen. Als das Mädchen, sonst scheu und still, plötzlich vor der ganzen Familie ihr Gelübde und ihren unveränderlichen Entschluss verkündete, Christus allein zu ihrem Bräutigam zu nehmen, forderte er sie auf, der Eingebung des Heiligen Geistes zu folgen, denn sie werde von ihm keinen Widerstand mehr erfahren; und er gebot dem ganzen Haus, ihr die vollkommene Freiheit zu lassen, ihrem himmlischen Bräutigam zu dienen, wie sie es für richtig hielt.

„Nachdem sie also die ersehnte Freiheit, Gott zu dienen, erlangt hatte, begann die Jungfrau unverzüglich ihr ganzes Leben auf erstaunliche Weise dem Dienst Gottes unterzuordnen. Sie erbat und erhielt eine von den Anderen abgesonderte kleine Kammer, wo sie gleichsam in Einsamkeit ganz für Gott da sein und ihren Leib nach Belieben kasteien konnte. Mit welch harter Buße sie dort ihren Leib geißelte und mit welchem Liebesverlangen sie dabei das Angesicht ihres Bräutigams suchte, lässt sich mit Worten kaum ausdrücken. In dieser kleinen Kammer erblühten von neuem die Werke der heiligen Väter aus Ägypten, was umso erstaunlicher ist, als sie im Haus ihres Vaters geschahen – ohne jede mündliche Unterweisung und ohne das Beispiel oder die Anleitung eines anderen.“[12]

Um diese Freiheit zu sichern, nahm Caterina kurz darauf den Habit der Bußschwestern vom heiligen Dominikus an, die in Siena Mantellate genannt werden – das weiße Kleid der Unschuld und den schwarzen Mantel der Demut, womit sie auf den Bildern zu sehen ist. Diese Mantellate waren streng genommen keine Nonnen, sondern widmeten sich dem Gottesdienst in ihren eigenen Häusern. Zunächst weigerten sich die Schwestern, ein Mädchen in ihre Reihen aufzunehmen, da ihre Gemeinschaft damals ausschließlich aus Witwen bestand; aber als Caterina schließlich krank wurde und ihrer Mutter versicherte, dass Gott und der heilige Dominikus sie aus dieser Welt nehmen würden, wenn man ihrem innigen Wunsch nicht entspräche, sagten sie zu Lapa, sie würden die Bitte ihrer Tochter erfüllen, falls das Mädchen nicht zu hübsch wäre. Nachdem sich einige Vertreterinnen in diesem Punkt überzeugt hatten (denn sie war vorübergehend durch ihre Krankheit völlig entstellt) und ihr Gespräch sehr erbaulich fanden, nahmen sie sie als Schwester auf. Nach ihrer Genesung erhielt sie den Habit von einem Dominikanermönch, der als geistlicher Leiter der Schwesternschaft wirkte, in San Domenico in der Cappella delle Volte – jener kleinen Kapelle, die noch ganz von ihrem Geist erfüllt ist. Es gibt kleinere Meinungs­verschie­den­heiten über das Datum, an dem sie den Habit genommen hat, aber ich denke, es war sehr wahrscheinlich zu Beginn des Jahres 1363.

Dann begann jenes wunderbare Leben von nahezu unglaublicher Askese und mystischen Begegnungen mit dem Unsichtbaren, das die ganze Existenz dieses jungen Mädchens aus dem Volk zu einem neuartigen, nie zuvor gehörten Wunder machte. Was die Askese betraf, so setzte sie nur fort, was sie bereits begonnen hatte, als ihre Familie ihr die Freiheit dazu gewährte.

Nach und nach verzichtete Caterina auf eines nach dem anderen und befreite sich so aus jeder Abhängigkeit von Nahrung und Schlaf. Bald schon konnte sie sich auf rohe Kräuter, ein wenig Brot und Wasser beschränken. Dann wurde auch das Brot weggelassen, und sie aß nur noch die Kräuter. Aber selbst das wurde ihr zunehmend zur Qual, und es scheint, dass sie oftmals für lange Zeit allein vom Allerheiligsten Sakrament des Altares gelebt hat. „Zu jener Zeit, da mir vergönnt war, Zeuge ihres Lebens zu sein“, schreibt Fra Raimondo, „lebte sie ohne jede feste oder flüssige Nahrung. Durch keine natürliche Kraft gestärkt, ertrug sie mit fröhlichem Gesicht Schmerzen und Mühen, die für andere unerträglich gewesen wären.“

In späteren Jahren trank sie zumeist – um Aufsehen zu vermeiden (denn während diese Dinge Fra Raimondo und seinen Freunden als wunderbar erschienen, gab es andere, im geistlichen Leben durchaus angesehene Personen, die lauthals dagegen protestierten) – einen kleinen Schluck Wasser und zwang sich, ein wenig rohe Nahrung zu kauen, aber immer unter großen körperlichen Schmerzen.[13] Sie schlief auf einem rohen Brett. Anfangs trug sie ein härenes Unterhemd, tauschte es aber – da sie den geringsten Anschein von Unreinheit ablehnte – gegen eine Eisenkette aus, die sie so eng um ihre Hüften band, dass sie die Haut durchdrang und den zarten Körper verletzte. Gegen Ende ihres Lebens befahl ihr Fra Raimondo unter Hinweis auf den heiligen Gehorsam, diese Kette abzulegen, was sie, wenn auch ungern, tat. Schrittweise überwand sie das Bedürfnis zu schlafen, bis sie sich zeitweise nur eine halbe Stunde Schlaf im Verlauf von zwei Tagen und zwei Nächten gönnte – und dies sei, so gestand sie ihrem Beichtvater, der härteste aller Siege dieser Art gewesen. Besonders liebte sie es, im Gebet fortwährend zu wachen, während die Mönche von San Domenico, die sie ihre Brüder nannte, schliefen, und ein wenig auf ihrem harten Brett auszuruhen, wenn diese sich zur Matutin erhoben. Auch damit nicht zufrieden, schlug sie sich mit einer kleinen Geißel, bis ihr das Blut von den Schultern bis zu den Füßen lief. „Dreimal am Tag geißelte sie ihren Leib bis aufs Blut, um ihrem Erlöser Blut mit Blut zurückzuzahlen.“ So wurde sie, die ein außergewöhnlich robustes und gesundes Kind gewesen war (wie ihre Mutter Fra Raimondo erzählte), so geschwächt und ausgezehrt, dass es wie ein Wunder erschien, dass ihr glühender Geist immer noch in einem so armseligen Kerker gefangen sein konnte. Vergeblich flehte Lapa sie an, ihre Askese zu mildern. Als sie die Tochter einmal, kurz bevor sie den Habit der Dominikaner nahm, dazu bewegen konnte, sie nach Bad Vignone, eines der berühmten heißen Bäder des Umlandes, zu begleiten, wartete Caterina, bis sie unbeobachtet war, und setzte sich dann dem kochenden Wasser aus, während sie über die Qualen der Hölle und des Fegefeuers meditierte und ihren Schöpfer anflehte, die Leiden, die sie solcherart freiwillig erduldete, als jene Strafen anzunehmen, die sie (wie sie sagte) verdient hätte.

Caterina wurde also eine jener Heiligen, die sich der Ewigen Gerechtigkeit als Sühneopfer für die Sünden der Welt angeboten haben und die in den Augen vieler Menschen eher erschreckend, ja abstoßend wirken – namentlich in einer Zeit, die materiellen Gewinn und körperliche Bequemlichkeit anbetet.

Andere Frauen haben zu verschiedenen Zeiten in der Geschichte der Kirche – insbesondere in Zeiten ihrer größten Verderbtheit – dieselben Mühen auf sich genommen, häufiger jedoch in der Abgeschiedenheit eines Klosters oder in den armseligen Hütten des Kleinbauernstandes. Caterina unterscheidet sich von solchen Heiligen wie etwa Fina von San Gimignano und Lydwina von Schiedam, die nahezu ihre Zeitgenossinnen waren, oder Rosa von Lima in späterer Zeit insofern, als diese „Existenz der Sühne“ nur einen kleinen Teil ihres Lebenswerks bildet; aber der Geist, der sie in ihren Leiden bestärkte, war der gleiche. Das hat ein moderner französischer Schriftsteller im Fall jener jungen holländischen Frau, die im selben Jahr geboren wurde, in dem Caterina starb, wunderbar ausgedrückt: „Sie tat Buße, ebenso wie andere Heilige ihrer Zeit, für die Seelen im Fegefeuer, für die Abscheulichkeit des Schismas, für die Ausschweifungen der Priester und Mönche, für die Bosheit der Völker und der Könige; aber, zusätzlich zu dieser Verpflichtung, die sie für die Wiedergutmachung der Sünden, die von einem Ende des Universums bis zum anderen begangen wurden, auf sich nahm, war ihr auch noch die Aufgabe auferlegt, der Sündenbock ihres eigenen Landes zu sein.“ Ein solches Leben der Sühne wäre unbegreiflich ohne eine Kenntnis der Ursachen, der Zahl und der Auswirkungen schwerer Sünden, deren Wiedergutmachung hier auf Erden sozusagen der Grund ihres Daseins (raison d’être) war.[14]

Für die Rettung anderer war Caterina bereit, wahre Höllenqualen auf sich zu nehmen. „‚Wie könnte ich zufrieden sein, Herr‘, betete sie, ‚wenn einer von denen, die wie ich nach deinem Bild und Gleichnis geschaffen worden sind, zugrunde geht und meinen Händen entrissen wird? Ich will, dass kein einziger von meinen Brüdern, die durch das Band der Natur und Gnade mit mir verbunden sind, auf irgendeine Weise verloren geht. Ich will, dass der alte Feind sie alle verliert, Du aber alle zum Lob und zur größeren Ehre Deines Namens gewinnst. Für mich wäre es nämlich viel besser, wenn alle gerettet würden und ich allein die Qualen der Hölle ertrüge – wenn nur meine Liebe zu Dir nicht enden würde –, als dass ich im Paradies wäre, sie alle aber der Verdammnis preisgegeben wären, denn die Ehre und der Ruhm Deines Namens wird größer sein, wenn das erste und nicht das zweite geschieht.‘ Und der Herr antwortete ihr, wie sie mir insgeheim anvertraute: ‚Die Liebe kann in der Hölle nicht bestehen, denn sie würde sie völlig vernichten. Es wäre leichter, dass die Hölle zerstört würde, als dass die Liebe in ihr bestehen könnte.‘ Darauf sagte sie: ‚Wenn Deine Wahrheit und Gerechtigkeit es ermöglichen könnten, möchte ich um alles, dass die Hölle völlig zerstört würde oder wenigstens keine Seele mehr in sie hinabstürzte. Wenn nur das Band der Liebe zu Dir gewahrt bleibt, so wäre es mir das Liebste, über den Eingang der Hölle gelegt zu werden und sie zu verschließen, so dass niemand mehr jemals dort eintreten könnte; so würden alle meine Nächsten gerettet werden.‘“[15] Und bei einer anderer Gelegenheit betete sie: „Herr, lade auf mich alle Schmerzen und alle Krankheiten, die es in der Welt gibt, um sie mit meinem Körper zu erdulden; ich will dir meinen Leib zum Opfer bringen und alle Sünden der Welt tragen, damit du ihn verschonst und ihn umwandelst zu einem anderen Leben.“ Als sie diese Worte gesprochen hatte, wurde sie ihrer Sinne beraubt und versank in Ekstase. Als sie jedoch wieder zu sich kam, war sie weiß wie Schnee und begann laut zu lachen und sagte: „O Liebe, Liebe, wie habe ich Dich mit Dir selbst besiegt. Denn Du willst, dass wir Dich flehentlich um das bitten, was Du (ohne uns) aus Dir selbst vollbringen kannst.“[16]

Das Erste, was Caterina tat, nachdem sie den Habit der Dominikaner empfangen hatte, war, dass sie sich für längere Zeit zurückzog. Drei Jahre lang hielt sie völliges Schweigen, indem sie nur mit ihrem Seelenführer Fra Tommaso della Fonte sprach, wenn sie beichtete und gelegentlich mit anderen Personen, wenn er sie dazu aufforderte. Sie lebte ständig in der frommen Abgeschiedenheit ihrer kleinen Zelle und verließ sie nicht, außer um die Messe zu besuchen. Mit Fra Raimondos poetischen Worten ausgedrückt „fand sie die Wüste in ihrem eigenen Haus und die Einsamkeit inmitten der Menschen.“

Nun begann die Reihe ihrer zahlreichen Visionen. In ihrer engen Zelle atmete sie den Duft der himmlischen Lilien und hörte die unbeschreiblichen Weisen des Paradieses, am lieblichsten auf den Lippen jener, die Christus auf Erden mit glühender Liebe verehrt hatten. „Vater“, sagte sie zu Fra Tommaso, „hört Ihr nicht Magdalena, wie sie mit lauter Stimme und einzigartiger Anmut singt, zusammen mit dem Chor der Seligen?“ Christus selbst erschien vor ihrem geistigen Auge, lehrte sie die verborgenen Mysterien der Gottheit, sprach immer wieder und vertraut von Freund zu Freund mit ihr und küsste sie mit „dem mystischen Kuss, der ihrem Geist die Süßigkeit unvorstellbarer Freude einflößte.“[17]

Gleich zu Beginn dieser Visionen und Offenbarungen lehrte sie der Herr den einfachen Grundsatz, der das Fundament ihres gesamten Gottes- und Menschenbildes werden sollte: „Weißt du, meine Tochter, wer du bist und wer Ich bin? Du bist die, die nicht ist, und Ich bin der, der ist. Wenn du dieses Wissen in deiner Seele bewahrst, wird der Feind niemals imstande sein, dich zu betrügen, und du wirst allen seinen Fallen entkommen. Niemals wirst du in etwas einwilligen, was gegen Meine Gebote ist, und jede Gnade, jede Wahrheit, jede Klarheit wirst du ohne Schwierigkeit erlangen.“ „Eine Seele“, sagte Caterina zur Erläuterung, „die ihre eigene Nichtigkeit sieht und erkennt, dass ihr ganzes Gut ausschließlich in ihrem Schöpfer liegt, überlässt sich ihm völlig mit all ihren Kräften und ihrem ganzen Wesen, ja, sie versenkt sich ganz in ihren Schöpfer hinein, sodass sie alle ihre Handlungen in erster Linie und gänzlich auf ihn hin ausrichtet. Auch würde sie sich niemals von Dem trennen, in dem sie alles Gute und die vollkommene Glückseligkeit gefunden hat. Und durch die Schau der Liebe, die täglich in ihr zunimmt, wird sie so sehr in Gott hinein verwandelt, dass sie weder denken noch verstehen noch lieben noch sich an etwas anderes erinnern kann, außer an Gott und was Gott betrifft. Sie sieht die anderen Geschöpfe und sich selbst nur in Gott, sie denkt nicht an sich oder an sie, außer vorbehaltlos in Gott. Es ist wie bei einem, der ins Meer eintaucht und unter den Wellen schwimmt; er sieht und berührt nur das Wasser des Meeres und was im Wasser ist, die Dinge, die sich im Wasser befinden; er sieht, berührt und fühlt nichts außerhalb des Wassers. Wenn sich die Abbilder der Dinge, die außerhalb des Wassers sind, im Wasser spiegeln, kann er sie zwar sehen, aber nur im Wasser und wie sie im Wasser erscheinen – nicht anders. Und dies ist die geordnete und rechte Liebe zu sich selbst und zu allen Geschöpfen, bei der wir nicht fehlgehen können, weil sie notwendigerweise vom göttlichen Gebot geleitet wird und nichts anderes als Gott begehrt, da sie immer in Gott ausgeübt wird und stets in Ihm bleibt.“

Daraus leitete sie auch ihre Lehre vom heiligen Hass ab. Je mehr die so mit Gott verbundene Seele ihn liebt, umso mehr hasst sie das Unrecht, das sie gegen ihn begeht, und indem sie erkennt, dass die Wurzel jeder Sünde in ihrer eigenen Sinnlichkeit liegt, entflammt sie in heiligem Hass gegen diese und heißt den Geist unablässig gegen sie zu Felde ziehen. „Wehe der Seele“, sagte Caterina, „die den heiligen Hass nicht kennt; denn notwendig wird dort, wo er fehlt, die Eigenliebe regieren, die das Sammelbecken aller Sünden und die Wurzel und der Ursprung jeder bösen Begierde ist.“[18]

Diesen Grundsatz, auf dem ihre gesamte geistliche Lehre aufgebaut ist, erläuterte Caterina etwa neun oder zehn Jahre später umfassend einem Engländer, dem wir in ihrem Kreis begegnen werden, William Flete, einem der Augustinermönche von Lecceto. „Die heilige Mutter“, schrieb er zu Beginn des Jahres 1376, „die von sich selbst in der dritten Person sprach, sagte, dass sie zu Beginn ihrer Erleuchtung als Grundfeste ihres Lebens gegen die Eigenliebe den Stein der Selbsterkenntnis gesetzt habe, den sie wieder in drei kleine Einzelsteine unterschied: Der erste war das Bewusstsein ihrer eigenen Geschöpflichkeit; das heißt die Erkenntnis, dass sie das Sein nicht aus sich selbst, sondern einzig von ihrem Schöpfer hatte, sowohl in der Entstehung wie in der Erhaltung, und dass der Schöpfer alles das durch seine Gnade bewirkt hatte. Der zweite Stein war der Gesichtspunkt der Erlösung; das heißt, dass der Erlöser mit seinem Blut das Leben der Gnade, das bis dahin zerstört gewesen war, wiederhergestellt hat; und zwar aus reiner und glühender Liebe, die der Mensch durch nichts verdient hatte. Der dritte Stein war die Betrachtung ihrer eigenen Sünden, die sie nach der Taufe und der damit erwirkten Gnade begangen hat und für die sie die ewige Verdammnis verdient hätte, wobei sie stets über die ewige Güte Gottes staunte, dass er der Erde nicht befohlen hatte, sie zu verschlingen. Aus diesen drei Überlegungen war ein so großer Selbsthass entstanden, dass sie nichts nach ihrem eigenen Willen begehrte, sondern alles nach dem Willen Gottes, von dem sie wusste, dass er nur ihr Bestes wollte. Daraus folgte, dass sie zufrieden und froh über alle Leiden und Versuchungen war; nicht nur, weil sie ihr nach dem Willen Gottes auferlegt waren, sondern auch, weil sie sich bestraft und gezüchtigt sah. Sie hatte daher größtes Missfallen an dem, woran sie früher Freude empfand, und ein großes Wohlgefallen an den Dingen, die ihr früher eine Last waren.“

„Sie sagte auch, dass die Eigenliebe die Wurzel alles Bösen und die Zerstörung alles Guten sei, und dass es zwei Arten gäbe, nämlich die sinnliche und die geistige Eigenliebe. Erstere ist der Grund für alle sinnlichen Sünden und für alle, die offen und erkennbar sind und durch eine Neigung zu irdischen Dingen und Geschöpfen begangen werden; das heißt, wenn aus Liebe zu jenen die Gebote des Schöpfers missachtet und nicht befolgt werden. Die zweite Art der Eigenliebe, die spirituelle, ist jene, die trotz Verachtung aller irdischen Dinge, aller Geschöpfe und sogar der eigenen Sinne den Menschen dennoch so hartnäckig an seiner geistigen Vorliebe und an seiner eigenen Überzeugung festhalten lässt, dass er nicht gewillt ist, Gott zu dienen und auf seinen Wegen zu gehen, wenn sie nicht seinen eigenen Wünschen und Gefühlen entsprechen. Da Gott aber den Menschen ohne den [aus der Eigenliebe stammenden] Eigenwillen möchte, kann ein solcher unmöglich standhaft bleiben noch auf dem Weg Gottes ausharren; er muss notgedrungen zu Fall kommen, weil er mehr seinem eigenen Willen als dem Willen Gottes folgt. Dazu gehören alle, die sich ihre Stellung und Beschäftigung nach ihrem eigenen Gutdünken aussuchen wollen und nicht danach, wozu Gott sie ruft oder wozu ihnen kluge und einsichtige Menschen raten. Zu ihnen gehören auch jene, die zu sehr an einer bestimmten geistlichen Übung hängen, etwa am Fasten oder Ähnlichem, so als ob dies ein Ziel für sich wäre; wenn sie aber aus irgendeinem Grund diese Übung nicht ausführen können, geraten sie sogleich in Verzweiflung und geben auch alles andere auf. Auch solche gehören dazu, die ihre Liebe allzu sehr in geistlichen Tröstungen, in einem geistlichen Wohlgefühl, suchen und schnell verzweifeln, wenn ihnen dies versagt bleibt. Die wahre geistliche Liebe liebt Gott allein um seinetwillen und das Heil der Seele um Gottes willen. Sie ordnet alles diesem Ziel unter und denkt nicht über die Mittel nach, solange es nur um die Ehre Gottes und das Heil des Nächsten geht. Wer also echte geistliche Liebe besitzt, muss alles nach dem Willen Gottes und nicht nach dem der Menschen beurteilen und annehmen; und wenn er ohne jeden geistlichen Trost bleibt, muss er sogleich denken und sagen: Dies geschieht mir nach göttlichem Ratschluss, mit dem Einverständnis Gottes, der in allen Widrigkeiten, die er mir aufbürdet, nichts anderes sucht und will als meine Rechtfertigung und meine Rettung. Und mit diesem Gedanken wird alles Bittere süß.“[19]

In dem Maße aber, wie die Gespräche mit ihrem göttlichen Geliebten häufiger und vertrauter und die Offenbarung der göttlichen Herrlichkeit umfassender und überwältigender wurden, drängten sich auch die Manifestationen des Bösen in der Welt immer eindringlicher ihr auf. Und wie immer bei den Männern und Frauen des Mittelalters nahmen sie eine personale und anthropomorphe Gestalt in Form von Versuchungen des Teufels an. Anfangs hatte Caterina tatsächlich gezweifelt, ob die Heimsuchungen, die ihr als himmlische erschienen, nicht in Wirklichkeit eine solche teuflische Quelle haben könnten. „Aber Ich werde dich lehren“, sagte ihr die Stimme in ihrem Herzen, „wie du Meine Visionen von denen des Feindes unterscheiden kannst. Meine Vision beginnt bedrohlich, schenkt aber, je mehr sie zunimmt, immer größere Zuversicht; sie beginnt mit Bitternis und wird immer süßer. In den Visionen des Feindes geschieht das Gegenteil, denn zu Beginn scheinen sie Freude, Zuversicht oder Wohlgefühl zu bringen, später jedoch wachsen Angst und Bitterkeit ständig in der Seele derer, die sie schauen. Ebenso sind Meine Wege verschieden von seinen Wegen. Der Weg der Buße und Meiner Gebote scheint zu Beginn hart und schwierig; aber je länger man ihn geht, desto leichter und angenehmer wird er. Der Weg der Laster dagegen scheint anfangs recht annehmlich, wird aber in seinem Verlauf immer bitterer und zerstörerischer. Aber Ich will dir ein anderes Zeichen geben, das noch weit untrüglicher und sicherer ist: Glaube Mir, da Ich die Wahrheit bin, lässt Meine Vision die Seele eine immer tiefere Erkenntnis der Wahrheit erfahren. Diese Erkenntnis der Wahrheit über Mich und über sich selbst, das heißt die Gottes- und Selbsterkenntnis, ist für die Seele besonders notwendig; sie ist die Voraussetzung dafür, dass der Mensch sich für geringhält und Mich ehrt – und das macht die echte Demut aus. Deshalb wird die Seele aus Meinen Anschauungen stets demütiger, weil sie sich selbst und ihre eigene Niederträchtigkeit immer besser erkennt und verachtet. In den Visionen des Feindes aber geschieht das Gegenteil: Da der Teufel der Vater der Lüge und der König aller Kinder des Stolzes ist und nur das geben kann, was er besitzt, entstehen aus seinen Visionen in der Seele stets der Eigensinn und ein vermessenes Vertrauen auf sich selbst als die eigentliche Auswirkung des Stolzes; die Seele bleibt überheblich und aufgeblasen. Wenn du dich also immer sorgfältig prüfst, wirst du unterscheiden können, woher die Vision kommt: ob von der Wahrheit oder von der Lüge. Denn die Wahrheit macht die Seele stets demütig, die Lüge aber stolz.“[20]

Und wieder, als sie um Kraft gegen diese Angriffe bat: „Meine Tochter, wenn du die Tugend der Stärke gewinnen willst, musst du Mich nachahmen. Denn obwohl Ich aus göttlicher Kraft die Macht des Feindes zunichtemachen und ihn auf andere Weise hätte besiegen können, wollte Ich euch mit Meinen menschlichen Taten ein Beispiel geben und auf keinem anderen Weg als auf dem Weg des Kreuzes siegen, um euch sowohl durch die Tat als auch durch das Wort zu lehren. Wenn ihr also stark werden wollt, um jede Macht des Feindes zu überwinden, müsst ihr das Kreuz zu eurem Trost nehmen, wie Ich es getan habe. Denn Ich bin, wie Mein Apostel sagt angesichts der vor Mir liegenden Freude auf das so schmachvolle, harte Kreuz zugeeilt, damit ihr euch entschließt, Schmerzen und Leiden nicht nur geduldig zu ertragen, sondern sie sogar bereitwillig als Tröstungen anzunehmen. Und sie sind wahrhaft Tröstungen: Denn je mehr ihr um Meinetwillen darunter leidet, desto mehr werdet ihr Mir gleich. Und wenn ihr Teilhaber am Leiden werdet, werdet ihr – nach der Lehre Meines Apostels – auch teilhaben am Trost. Halte also, Meine Tochter, die süßen Dinge um Meinetwillen für bitter und das Bittere als süß und fürchte künftig nichts, denn in allem wirst du stark bleiben.“[21]

Gegen Ende der drei Jahre kam eine Zeit, da diese Angriffe und Versuchungen schrecklich und unerträglich wurden. Männliche und weibliche Luftgestalten schienen mit obszönen Worten und noch obszöneren Gesten in ihre kleine Zelle einzudringen, umschwärmten sie wie die Seelen der Verdammten in Dantes Inferno und luden diese schlichte und keusche Seele zu einem wollüstigen Gelage ein. Ihre Anspielungen waren so abscheulich und so hartnäckig, dass sie in heilloser Angst aus ihrer Zelle, die wie ein Kreis der Hölle geworden war, floh und Zuflucht in der Kirche suchte. Doch sie verfolgten sie auch dort, obwohl ihre Macht an diesem Ort begrenzt war. Und Christus schien ihr weit weg zu sein. Schließlich rief sie in Erinnerung an die Worte aus ihrer Vision: „Ich habe das Leiden zu meinem Trost erwählt, und ich will gerne diese und alle anderen Qualen im Namen des Erlösers so lange ertragen, wie es Seiner Majestät gefällt.“ „Kaum hatte sie das gesagt, da zerstob die ganze Schar der Dämonen in einem wilden Durcheinander, und ein großes Licht von oben erschien, das den ganzen Raum erleuchtete. Und in diesem Licht erschien ihr der gekreuzigte Herr Jesus Christus selbst, blutüberströmt, so wie er mit seinem eigenen Blut ins Allerheiligste eingetreten war; und vom Kreuz sprach er zur heiligen Jungfrau: ‚Meine Tochter Caterina, siehst du, wie viel Ich für dich gelitten habe? Lass es dir also nicht zu schwerfallen, auch für Mich zu leiden.‘ Dann näherte er sich ihr in einer anderer Gestalt, um sie zu trösten und sprach liebevoll über den Sieg, den sie in diesem Kampf bereits errungen hatte. Sie aber sagte, ähnlich dem heiligen Antonius: ‚Wo warst du, mein Herr, als mein Herz von so viel Schändlichkeiten gequält wurde?‘ Darauf antwortete ihr der Herr: ‚Ich war in deinem Herzen … Weil du, Meine Tochter, mit Meiner, nicht mit deiner Kraft so treu gekämpft hast, verdienst du nun eine noch größere Gunst von Mir; und deshalb werde Ich Mich dir von nun an öfter und in vertrauterer Weise offenbaren.‘“

Dies war das erste Mal, dass die göttliche Stimme sie mit ihrem Namen nannte, und das entzückte sie so sehr, dass sie ihren Beichtvater, Fra Tommaso, bat, er möge sie immer so ansprechen: Meine Tochter Caterina, damit diese Freude weiterhin erhalten bleibe. Ihre Gespräche mit dem Erlöser wurden häufiger, länger und vertrauter. Manchmal erschien er ihr zusammen mit seiner jungfräulichen Mutter, manchmal mit dem heiligen Dominikus, der heiligen Maria Magdalena, dem heiligen Evangelisten Johannes, dem heiligen Paulus oder mit anderen Heiligen, „aber meistens kam er unerwartet und sprach mit ihr wie ein Freund mit seinem vertrauten Freund, so dass (wie sie mir manchmal insgeheim und verlegen gestand) der Herr und sie öfter gemeinsam die Psalmen beteten, indem sie in ihrem Zimmer auf und ab gingen, wie es bei zwei Ordensleuten oder Klerikern üblich ist, wenn sie mitsammen das Brevier beten. O staunenswerter, wunderbarer und in unseren Tagen nie gehörter Ausdruck der Vertrautheit mit Gott!“[22]

Während der Zeit der Zurückgezogenheit lernte Caterina lesen, obwohl sie sich scheinbar nichts anderes als die Psalmen und das Offizium der Kirche anzueignen versuchte. Fra Raimondo berichtet uns, dass sie ursprünglich ein Alphabet von einer ihrer Gefährtinnen bekommen hatte, es aber so schwierig fand, weiterzukommen, und fürchtete, Zeit zu verlieren, dass sie zu Gott betete und auf wunderbare Weise unterrichtet wurde. Als er sie kennen lernte, konnte sie alle Schriften schnell und ohne Anstrengung lesen, jedoch anders als andere Menschen, nämlich so, dass sie zwar die Bedeutung der Worte erkannte, ohne jedoch die Silben buchstabieren zu können. Lesen war allerdings nicht ihre einzige Erholung. Sie hatte große Freude an allen Arten von Blumen und flocht sie in ihrer Freizeit zu Kreuzen und Girlanden, während sie mystische Lieder zur Verherrlichung Gottes sang. Diese [Gebinde] schickte oder gab sie als Zeichen der Liebe Christi an andere weiter – entweder persönlich oder durch Fra Tommaso della Fonte. Ein junger Dominikanermönch, Tommaso di Antonio Caffarini, der kurze Zeit später sehr eng mit Caterinas geistlichem Leben verbunden sein sollte, berichtet uns, dass er, bevor er sie kennen lernte, einige dieser mystischen Gaben durch ihren Beichtvater erhalten hatte.[23]

Zur gleichen Zeit wurden – vielleicht unvermeidlich – ihre Ekstasen immer häufiger. Nach der Kommunion oder zu anderen Zeiten, wenn sie über die in Gott verborgenen Geheimnisse meditierte, war sie für einige Zeit ihrer Sinne beraubt, und ihr Körper blieb starr und scheinbar leblos, unempfindlich gegenüber Berührungen oder Verletzungen. Dies nahm mit den Jahren zu und dauerte ihr ganzes Leben lang an. Diese Phänomene sind in den Legenden von Heiligen und Mystikerinnen nicht ungewöhnlich, und es würde auch nicht schwierig sein, eine rein natürliche und wissenschaftliche Erklärung dafür zu finden.

Zweifellos gibt es viele, die das einfach als eine Form von Katalepsie betrachten und in den meisten dieser visionären Vorgänge lediglich hysterische Phänomene sehen. Sogar gläubige Anhänger der heiligen Caterina scheinen dies als ein mögliches oder wahrscheinliches Element in ihrem Leben zu betrachten. In den Aufzeichnungen über ihre Offenbarungen werden wir mit Dingen konfrontiert, die nicht wörtlich genommen werden können, die vielleicht manchmal sogar unser religiöses Empfinden verletzen und die gleichzeitig mit tiefgründigen Wahrheiten einhergehen, die mit bewundernswerter Genauigkeit und verblüffender Inspiration formuliert sind und jeden Schritt des schwierigen Weges des Gläubigen vom Menschlichen zum Göttlichen hin erhellen. Dass im Leben vieler der größten mystischen Heiligen neben dem Besitz einer übernatürlichen Offenbarung auch Phänomene auftraten, die durchaus mit organischer Hysterie in Verbindung gebracht werden können, kann man ohne weiteres zugeben. Im Falle der heiligen Teresa wurde sogar behauptet, dass sie – obwohl sie an einer Art von organischer Hysterie litt – die Vorgänge in ihrer eigenen Seele so klar und genau kannte, dass sie zwischen diesen beiden Erfahrungsqualitäten, der natürlichen und der übernatürlichen, ganz genau unterscheiden konnte, und dass diese Tatsache der stärkste Beweis für die Wahrheit ihres Berichts über letztere sei.[24] Caterina mit ihrer unerschütterlichen Tapferkeit und ruhigen Entschlossenheit, ihrem starken Willen, den sie den Herrschenden und Mächtigen dieser Welt aufzwingen konnte, ihrer praktischen Vernunft und engelgleichen Weisheit, ist – wie Teresa – meilenweit entfernt von einer hysterischen Persönlichkeit; trotzdem war ihr – mit allen ihren himmlischen Begabungen – dieses Phänomen, vielleicht als der Paulinische „Stachel im Fleisch, der Bote Satans, um mich zu quälen“, auferlegt. Sie hatte früh gelernt, zwischen den beiden Arten von Visionen – jener, die von ihrem göttlichen Lehrer kamen, und jener, die das Werk des Vaters der Lüge waren – zu unterscheiden. Aber ich glaube nicht, dass sie zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen so genau differenziert hat, wie es für die heilige Teresa behauptet wird. Manchmal sehen diese Visionen wie Halluzinationen aus, denen ein Arzt möglicherweise einen hysterischen Ursprung zuordnen würde. Doch die „Fülle der Offenbarungen“ ist eindeutig vorhanden.

Die mystischen Offenbarungen und göttlichen Zwiegespräche während dieser drei Jahre fanden ihren Höhepunkt in der „mystischen Vermählung“ Caterinas mit Christus am letzten Tag des Karnevals, ich nehme an, höchstwahrscheinlich im Jahr 1366.

Mit dem Ausdruck „mystische Vermählung“ bezeichnen die großen Mystikerinnen definitiv etwas anderes – nicht im Ausmaß, aber in der Art – als das, was jede Nonne als Erfahrung geltend machen könnte, wenn sie Christus ihre Jungfräulichkeit weiht. Sie glauben offenkundig, dass einige auserwählte Seelen, nachdem sie den Weg der Reinigung und Erleuchtung gegangen sind, durch viele Leiden und Demütigungen geprüft und durch tiefe Meditation über geistliche Dinge erleuchtet wurden, einen Zustand mystischer Vollkommenheit erreichen, welchen sie die „mystische Hochzeit“ nennen, in der sie durch eine geistige Vision Christi im Innersten ihrer Seele mit Ihm auf besondere und seltsam absorbierende Weise verbunden und in gewissem Sinn eins mit Ihm werden. Die mystischen Dichter Spaniens, die heilige Teresa und der heilige Johannes vom Kreuz, unterscheiden zwischen „mystischer Vermählung“ und „mystischer Hochzeit“, für welche die erstere nur eine Vorbereitung ist. „Das, was Gott hier einer Seele in einem Augenblick mitteilt“, sagt die heilige Teresa, „ist ein so großes Geheimnis und eine so erhabene Gnade, und was sie dabei empfindet, eine so überaus große Beseligung, dass ich nicht weiß, womit ich es vergleichen könnte, außer damit, dass der Herr ihr in diesem Augenblick auf eine erhabenere Weise als sonst in einer Vision oder geistigen Erbauung die Herrlichkeit des Himmels deutlicher zeigen will. Mehr lässt sich darüber nicht sagen (sofern man es überhaupt verstehen kann), als dass die Seele mit Gott eins geworden ist. Denn da er selbst Geist ist, wollte Seine Majestät die Liebe, die er zu uns hat, dadurch offenbaren, dass er einigen Personen zu verstehen gibt, wie weit sie geht, damit wir seine Größe preisen; weil er beschlossen hat, sich dem Geschöpf so innig zu verbinden, dass er niemals wieder von ihm getrennt wird – so wie auch die Eheleute nicht mehr getrennt werden können.“[25]

Es scheint, dass Caterina eine „mystische Hochzeit“, wie sie die heilige Teresa und der heilige Johannes vom Kreuz verstehen, in dieser Welt nicht für möglich hält, wenigstens nicht für jemanden, der, wie sie – obwohl er stets mit Christus geht und mit Ihm spricht, auch mitten unter den Menschen –, nichtsdestoweniger eher zu einem Leben tätiger Sorge in Seinem Namen als zur reinen Kontemplation berufen ist. Ihre „mystische Verlobung“ sollte ihre mystische Erfüllung erst in der ewigen Hochzeit des Paradieses finden. „Es wäre Torheit“, schreibt der heilige Johannes vom Kreuz, „zu glauben, dass die Sprache der Liebe und der mystischen Erkenntnis mit irgendwelchen Worten erklärt werden könnte.“ Die liebenden Seelen, in denen der Geist wohnt, „gebrauchen Bilder, besonderer Vergleiche und Ähnlichkeiten; sie verbergen etwas von dem, was sie empfinden und sprechen in der Überfülle des Geistes eher geheimnisvolle Mysterien aus, als dass sie sich in klaren Worten ausdrücken.“ „Es ist besser, die Äußerungen der Liebe in der ihnen eigenen Überschwänglichkeit zu belassen, damit jeder sie nach dem Maß seines Geistes und seiner Fähigkeit anwenden kann, als sie auf einen bestimmten Aspekt zu reduzieren, der nicht dem Geschmack eines jeden entspricht.“[26] Ein Mystiker muss seine Vision in den symbolischen Ausdrücken seiner Zeit wiedergeben; daher ist es nicht verwunderlich, dass Caterina ihre mystische Vermählung in einer Metaphorik beschreibt, die an die italienische Malerei des vierzehnten Jahrhunderts denken lässt.

Sie hatte immer und immer wieder, erzählt uns Fra Raimondo, um die Gabe der vollkommenen Tugend des Glaubens gebetet, damit er niemals erschüttert oder durch einen Angriff des Feindes zu Fall gebracht werde, und immer wieder hatte sie dieselbe Antwort gehört: Ich werde dich im Glauben mit Mir verbinden. Schließlich, am letzten Tag des Karnevals, während ganz Siena sich den üblichen Festlichkeiten der Saison hingab, sagte ihr die Stimme, dass nun die Zeit gekommen sei: „Ich werde heute mit dir das Fest der Verlobung deiner Seele feierlich begehen und dich, wie Ich versprochen habe, im Glauben mit Mir vermählen.“ „Während der Herr noch sprach, erschienen die allerseligste Jungfrau, seine Mutter, der heilige Evangelist Johannes, der glorreiche Apostel Paulus und der heilige Dominikus, ihr Ordensvater, und mit ihnen der Prophet David, der den Psalter in seinen Händen hielt, um zu musizieren; und während er die lieblichsten Melodien spielte, ergriff die jungfräuliche Gottesmutter mit ihrer heiligen Hand die Hand Caterinas, streckte sie ihrem Sohn entgegen und bat Ihn, er möge sich mit ihr im Glauben vermählen. Der eingeborene Sohn Gottes neigte sich huldvoll ihr zu und zog einen goldenen Ring hervor, der in seiner Mitte mit vier Perlen besetzt war, die einen prachtvollen Diamanten umschlossen. Und während er ihn über den Ringfinger von Caterinas rechter Hand streifte, sprach er: ‚Siehe, ich vermähle dich Mir, deinem Schöpfer und Erlöser, im Glauben, den du bis zur ewigen Hochzeit mit Mir im Himmel ohne Makel bewahren wirst. Von nun an, Meine Tochter, führe voll Zuversicht und ohne zu zögern das aus, was dir durch die Anordnung Meiner Vorsehung in die Hände gelegt wird; denn durch die Kraft des Glaubens bis du nun gefestigt, und so wirst du alle deine Widersacher erfolgreich überwinden.‘ Danach verschwand die Vision, der Ring aber blieb stets an ihrem Finger; und wenn er auch für andere nicht sichtbar war, so hatte ihn Caterina dennoch ständig vor Augen. Tatsächlich   bekannte sie mir mehrmals, wenn auch nur zaghaft, dass sie den Ring immer an ihrem Finger spüre, und dass es keinen Augenblick gegeben habe, wo sie ihn nicht gesehen hätte.“[27]

 


[1] Aeneis, II. 368, 369 („Überall ist herzzerreißendes Wehgeschrei, überall Entsetzen und Tod in tausend Gestalten“).

[2] [Eine Art Jagdhund, der sich von „Weisheit, Liebe und Tugend“ nährt].

[3] Comentum super Dantis Aldigherii Comoediam, iii. S. 181.

[4] Vgl. insbesondere die Briefe des Simon Lingonensis (1359) und des Elias Raimundi (1368), Monumenta ordinis Fratrum Praedicatorum historica, Bd. v. S. 299, 306.

[5] Vgl. Inf. xv. 106 –114 mit dem Dialogo, Kap. 124.

[6] Matteo Villani, i. 1, 2: Cronica Sanese, S. 123, 124; Il Polistore (Rer. It. Script. xxiv.), Kap. 32; Cronica di Pisa, S. 1020, 1021. Die Angaben von Zeitgenossen – obwohl sie unglaublich schockierend scheinen –, wonach in Siena 80.000 Menschen und in Florenz 96.000 Menschen starben, sind möglicherweise mehr oder weniger zutreffend. Im Jahrzehnt vor der Pestepidemie betrug die Bevölkerung von Florenz zwischen 120.000 und 125.000 Personen. Überlebende wurden nicht mehr als 30.000 gezählt. Im Jahr 1351 lag die Bevölkerungszahl von Florenz noch immer unter 50.000. Vgl. N. Rodolico, La Democrazia Fiorentina nel suo tramonto, S. 29–39. Diese Zahlen beinhalten nicht das Umland.

[7] Vgl. M. Villani, i. 4, 5: Cronica Sanese, S. 124, 125.

[8] Vgl. G. Pardi: Della Vita e degli Scritti di Giovanni Colombini. Giovanni sendet einen Gruß an Lisa in einem seiner Briefe (adressiert an ihre Cousine, Caterina di Tommaso Colombini, Begründerin des Schwesternordens der Gesuati). Lisas Zwillingsschwester Francesca wurde, wie sie, eine Dominikaner-Terziarin.

[9] Legenda, I. II. I (§26). Die Leggenda minore (S. 10) bezeichnet Caterina als Lapas jüngstes Kind. Vgl. Grottanelli, Albero della Famiglia Benincasa, in Bd. i. von Tommaseos Ausgabe der Briefe.

[10] Legenda, I. ii. 2 (§ 27). Vgl. Vita Nuova, §§ 2, 21.

[11] Legenda, I. iv. 5, 6 (§§ 49, 50).

[12] Ibid., I. vi. I (§ 57).

[13] Bei einer bestimmten Gelegenheit scheint sie, um absonderliches Verhalten zu vermeiden, den Papst ersucht zu haben, ein strenges Fasten bei Brot und Wasser über sie zu verhängen, als Bedingung, um einen Ablass zu gewinnen. Vgl. Brief 228 (278) und die Anmerkungen von Gigli und Tommaseo hierzu. Einen ausführlichen Bericht, der allerdings von jenem Raimondos leicht abweicht, gibt Stefano Maconi, Epistola Domni Stephani, § 18 [vgl. Prozess, S. 394–396].

[14] J. K. Huysmans, Sainte Lydwine de Schiedam, S. 61– 65.

[15] Legenda, Prolog I. (§ 15).

[16] Supplementum (Casanatense, MS.), S. 30 [= Suppl. II, 3, 16]. Vgl. Dante, Par. xx. 94–99.

[17] Tantucci, S. 36, 45.

[18] Legenda, I. x. 1, 8, 9 (§§ 92, 100, 101).

[19] Relatione d’una dottrina, o documento spirituale, scritta nell‘anno del Signore 1376, il giorno settimo del mese di Gennaio, da Fra Guglielmo Flete inglese – Bericht über eine Lehre oder ein geistliches Dokument, verfasst im Jahr des Herrn 1376, am siebten Tag des Monats Januar, von Bruder William Flete aus England. Veröffentlicht durch Gigli als Anhang zum Dialogo, [= Suppl. III, 2, 3]. Vgl. Briefe 64 (124), 71 (358), 213 (163).

[20] Legenda, I. ix. 4 (§ 85).

[21] Ibid., I. xi. 1 (§ 104).

[22] Legenda, I. xi. 5, 6 (§§ 109 - 112).

[23] Contestatio Fr. Thomae Caffarini, Processus, S. 1260; [Prozess, S. 56f, 302].

[24] Zu dieser schwierigen Frage siehe G. Hahn, Les phénomènes hystériques et les révélations de Sainte Thérèse (Revue des Questions Scientifiques, xiii. S. 553–569, xiv. S. 39–84); vgl. auch H. Joly, Psychologie des Saints, S. 110, 111, und W. James, The Varieties of Religious Experience, S. 14–18.

[25] El Castillo Interior, Moradas sétimas, Kap. ii. (Übersetzung: Dalton)

[26] Cántico Espiritual entre el Alma y Cristo, su Eposo, prólogo (Übersetzung: D. Lewis).

[27] Legenda, I. xii. 1, 2 (§ 115).