Edmund G. Gardner
Die hl. Caterina von Siena
Eine Studie über Religion, Literatur und Geschichte
des 14. Jahrhunderts in Italien
5. Kapitel
Die geistliche Gemeinschaft
Caterina war nun knapp vierundzwanzig Jahre alt – eine wunderbar begabte Frau. Talente waren ihr verliehen worden, um den leidenschaftlichen Hunger und Durst nach Gerechtigkeit zu stillen: ein prophetischer Geist und eine so rasche und untrügliche Intuition, dass sie den Menschen wunderbar erschien, ein Zauber der Persönlichkeit, der so gewinnend und unwiderstehlich war, dass weder Mann noch Frau ihr widerstehen konnten, eine einfache, ungelehrte Weisheit, die die Künste und Raffinements der Welt über den Haufen warf. Und über allem eine so herausragende Sprache, so voll von mystischer Beredsamkeit, dass ihre Worte – ob geschrieben oder gesprochen – alle Herzen, die ihre Botschaft erreichte, zum Brennen brachten. In ekstatischer Versenkung dringt sie in Gebiete jenseits der Sinne und der Vernunft vor und begibt sich ganz allein in unerforschte und unbetretene Regionen des Geistes; wenn aber die Stimmen der Welt wieder in ihre Entrückung dringen, sind ihr ein gesunder Hausverstand und ein einfacher Humor nicht weniger eigen als die Erkenntnisse, die sie in den Gesprächen mit einer unsichtbaren Welt erworben hat.
Orlando Malavolti, der Sieneser Historiker des sechzehnten Jahrhunderts, behauptet, Caterina hätte bereits an Papst Urban V. geschrieben. Das ist offenkundig ein Irrtum. Ihre Zeit war noch nicht gekommen, um aus dem verborgenen Leben hinauszutreten in das, was ein Renaissance-Papst das „Spiel der Welt“ genannt hätte. Es ist merkwürdig, dass sie – obwohl sie in einem Brief an seinen Nachfolger einen Verweis auf Urban macht[1] – niemals die Hoffnungen und Befürchtungen erwähnt, die sein Kommen ausgelöst hatte. Ihr Eintritt in das öffentliche Leben scheint sich in den Monaten zwischen seiner Flucht aus Italien und seinem Tod in Avignon ereignet zu haben.
Den ganzen Sommer des Jahres 1370 war Caterinas Seele überwältigt von Visionen und Zeichen der göttlichen Geheimnisse. „In unserer unvollkommenen Sprache zu schildern, was ich sah“, meinte sie in späteren Jahren, „erschiene mir wie den Herrn zu lästern oder ihn durch meine Rede zu entwürdigen. Der Unterschied zwischen dem, was der von Gott erleuchtete und gestärkte Verstand begreift, und dem, was man in Worten ausdrücken kann, ist groß, dass sie fast widersprüchlich erscheinen.“ Als sie den Herrn um die Reinheit des Herzens bat, um das Allerheiligste Sakrament des Altares würdig empfangen zu können, schien es ihr, als ob ein Strom von Blut, gemischt mit Feuer, über sie ausgegossen würde, um Leib und Seele auf mystische Weise zu reinigen. Und einen oder zwei Tage später glaubte sie, Christus habe ihr Herz aus ihrer Brust genommen und ihr das Seine zum Tausch gegeben, mit dem sie künftig leben sollte. „Seht Ihr nicht, Vater“, sagte sie zu Fra Tommaso della Fonte, „dass ich nicht mehr die bin, die ich war, sondern dass ich in eine andere Person verwandelt bin? Mein Herz ist von Glück und Freude derart erfüllt, dass ich staune, wie meine Seele in meinem Körper bleiben kann. Eine solche Glut ist in meiner Seele, dass mir das äußere, natürliche Feuer im Vergleich dazu kalt erscheint.“
Als sie für diesen Beichtvater und für ihre anderen Gefährten betete, dass sie Anteil am ewigen Leben erhalten mögen, und Christus um ein Zeichen bat, dass ihre Gebete erhört worden wären, fühlte sie die Fläche ihrer ausgestreckten Hand von einem unsichtbaren Eisennagel durchbohrt und erhielt so einen Vorgeschmack auf die Stigmata, die Male der fünf Wunden Unseres Herrn in seiner Passion, die ihr später – obgleich unsichtbar – zuteilwerden sollten. „Der Reichtum an Gnaden, Offenbarungen und deutlichen Visionen“, schreibt Fra Raimondo, „erfüllte zu dieser Zeit die Seele dieser heiligen Jungfrau so vollständig, dass sie durch ihre große Liebe regelrecht dahinzusiechen begann. Und sie wurde so schwach, dass sie sich nicht mehr von ihrem Bett erheben konnte, obgleich sie an nichts anderem litt als an der Liebe zu ihrem ewigen Bräutigam, dessen Namen sie unablässig anrief, als wäre sie ihrer Sinne beraubt.“
Sie betete ernsthaft darum, dass sie bald von ihrem Körper, der sie an den Umarmungen ihres Bräutigams hinderte, befreit werden möge und dass sie – wenn das noch nicht geschehen könne – in der Zwischenzeit wenigstens durch die Teilnahme an den Leiden, die er auf Erden erduldet hatte, mit ihm vereint sein könne. Schließlich schien es, dass ihr Herz durch die Macht der Liebe gebrochen war. „So stark“, sagte sie, „war das Feuer der göttlichen Liebe und des Verlangens, mich mit ihm, den ich liebte, zu vereinigen, dass mein Herz, selbst wenn es aus Stein oder Eisen bestünde, ebenso gebrochen wäre.“ Es war an einem Sonntag im Herbst des Jahres 1370, als dieser mystische Tod über sie hereinbrach – eine Ekstase von etwa vier Stunden Dauer –, in der sie alle ihre Freunde wirklich tot glaubten und ihre Zelle mit Weinen und Klagen erfüllten. In dieser Unterbrechung ihres körperlichen Lebens war Caterina überzeugt, dass sie tatsächlich gestorben war, dass ihre Seele in die Ewigkeit eintrat, die Seligkeit der Anschauung des göttlichen Wesens kostete und, wie Dante, die geistigen Räume von Himmel, Fegefeuer und Hölle erblickte. Gleich Dante wurde sie aufgefordert, vor den Lebenden zu wiederholen, was sie gesehen habe, damit es der in Sünde lebenden Welt zugutekomme – in pro del mondo che mal vive[2]:
„Während meine Seele all diese Dinge sah, sprach der ewige Bräutigam, den ich schon völlig zu besitzen glaubte, zu mir: ‚Siehst du, welcher Herrlichkeit jene beraubt werden, die Mich beleidigen und wie groß die Strafe ist, die sie erleiden? Kehre also zurück und halte ihnen ihren Irrtum und auch die Gefahr und ihre Strafe vor Augen.‘ Und da meine Seele vor dieser Rückkehr entsetzt zurückwich, fügte der Herr hinzu: ‚Die Rettung vieler Seelen verlangt deine Rückkehr. Du wirst aber nicht mehr ein Leben führen wie bisher, noch wird dir künftig deine kleine Zelle als Wohnort dienen, vielmehr wirst du zum Heil der Seelen sogar deine eigene Heimatstadt verlassen müssen. Ich aber werde immer mit dir sein, Ich werde dich führen und zurückführen. Du wirst die Ehre Meines Namens und die heilbringenden Lehren vor die Kleinen und die Großen bringen, vor Laien, Kleriker und Ordensleute, denn Ich werde dir eine Stimme und eine Weisheit verleihen, der niemand widerstehen kann. Ich werde dich auch zu den Päpsten führen, zu den Lenkern der Kirche und des christlichen Volkes, denn ich will auf Meine gewohnte Art und Weise durch das Schwache den Stolz der Starken zuschanden machen.‘“[3]
Fra Bartolommeo di Domenico berichtet, dass er gerade in San Domenico predigte, als die Kunde vom Tod Caterinas verbreitet wurde. Nach der Predigt hörte er ebenfalls das Gerücht und eilte zu ihrer Zelle. Sie war so voll von Mönchen und Frauen, dass er kaum eintreten konnte, und sie erzählten ihm, sie sei vor einigen Stunden gestorben. In seiner Gegenwart erwachte sie langsam wieder zum Leben, konnte aber tagelang nichts als weinen und das traurige Schicksal ihrer Seele beklagen, die – nachdem sie zusammen mit den Engeln das Angesicht Gottes gesehen hatte – wieder in ihr leibliches Gefängnis zurückgeschickt worden war. Bis zuletzt glaubte Caterina, sie sei wirklich und wahrhaftig tot gewesen, und sie konnte niemals ohne Tränen über diese Vision sprechen. „Habt Ihr kein Mitleid, Vater“, sagte sie zu Fra Raimondo, „mit einer Seele, die aus ihrem dunklen Gefängnis befreit wurde und nun, nachdem sie ein so wunderbares Licht gesehen hatte, wieder in ihre frühere Dunkelheit eingeschlossen wurde? Ich bin jenes unglückliche Geschöpf, dem dies widerfahren ist, denn so hat es die göttliche Vorsehung meiner Sünden wegen bestimmt.“[4] Dennoch war diese Vision der Auftakt zu ihrem öffentlichen Leben – eine mystische Ankündigung für ihre große und wunderbare Berufung.
Von nun an wird Caterinas Wirken vor den Augen der ganzen Welt deutlich sichtbar, auch wenn sie das Gebiet der Republik Siena zunächst eine Zeit lang nur im Geiste verlässt. Eine Reihe von Bekehrungen stand am Anfang ihrer öffentlichen Sendung. Andrea di Naddino Bellanti, ein notorischer Sünder und Gotteslästerer, in der Blüte seiner Mannesjahre durch Krankheit niedergestreckt, wurde durch ihre Gebete zur Buße und einem Ende in Frieden geführt. Francesco Saracini, Alessas Schwiegervater, ein heftiger und gottloser alter Adeliger von achtzig Jahren, schloss auf ihr Geheiß hin Frieden mit seinem Feind, den er auf den Tod hasste, und wurde danach für die wenigen Monate seines Lebens, die ihm noch verblieben, ein Vorbild an aufrichtiger Frömmigkeit. Jacomo Tolomei, der wütende Sohn von Francesco und Rabe Tolomei, ein „erstaunlicher und zugleich überaus grausamer Mann“, ein zweifacher Mörder und der Schrecken der ganzen Stadt, stimmte nicht nur sanftmütig zu, als seine Schwestern Ghinoccia und Francesca den Schleier nahmen, sondern beichtete bei Fra Bartolommeo seine eigenen Sünden und „wurde vom Wolf zum Lamm, vom Löwen in einen Wachhund verwandelt.“ Einer seiner jüngeren Brüder, Matteo Tolomei, wurde Mitglied von Caterinas geistlicher Familie und trat in den Dominikanerorden ein.
Unter den Männern und Frauen, die alles aufgaben, um Caterinas Anhänger und Schüler zu werden, gab es einige, die sich von den Dominikaner-Terziarinnen und den Mönchen stark unterschieden. Neri di Landoccio Pagliaresi, ein volkssprachlicher Poet und dem Rang nach ein Adeliger aus einer der weniger bedeutenden Sieneser Familien, der sich ihr etwa um diese Zeit anschloss, ist der Erste einer Gruppe junger Menschen von hoher Geburt und Bildung, die ihre Familien verließen, um sich ihr anzuschließen und ihr als Sekretäre zu dienen, indem sie sich in Verehrung und freundschaftlicher Liebe an sie banden: In ihrem Dialog beschreibt sie dieses geistige Band aufrichtiger Ergebenheit als ein von Gott gewähltes Mittel, um eine in der Liebe noch unvollkommene Seele zur Vollkommenheit der Liebe zu führen. Wenn eine solche Seele auf diese Weise eine geistige und umfassende Liebe zu einem bestimmten Geschöpf empfindet, macht sie Fortschritte auf dem Weg der Tugend, weil durch diese geordnete Liebe alle ungeordneten Neigungen überwunden werden. Durch die Selbstlosigkeit und Vollkommenheit ihrer Liebe zu einem solchen Freund kann die Seele die Vollkommenheit oder Unvollkommenheit ihrer Liebe zu Gott erproben.[5] Sie ist ähnlich wie die Liebe Dantes zu Beatrice, aber zu Füßen des Kreuzes entfacht und auf den Stufen des Altars geopfert.
„Ihr habt mich gebeten, Euch als meinen Sohn anzunehmen“, schreibt sie an Neri im ersten ihrer Briefe an ihn, „und deshalb habe ich – unwürdig, elend und erbärmlich, wie ich bin – Euch bereits angenommen und nehme Euch mit zärtlicher Liebe an. Und ich verpflichte mich jetzt und für immer im Angesicht Gottes, für Euch die Last all Eurer Sünden zu tragen, die Ihr begangen habt und möglicherweise begehen werdet. Aber ich bitte Euch, auch mir einen Wunsch zu erfüllen: Macht Euch ganz dem gekreuzigten Christus gleichförmig, indem Ihr Euch völlig vom Umgang mit der Welt löst; denn auf keine andere Weise können wir diese Übereinstimmung mit Christus erreichen. Bekleidet Euch, bekleidet Euch mit dem gekreuzigten Christus. Denn er ist das Hochzeitsgewand, das Euch hier Gnade verleihen und Euch danach Euren Platz beim Gastmahl des ewigen Lebens sichern wird.“[6]
Sehr verschieden von diesem nervösen und sensiblen Dichter (der bis zum Ende von schrecklichen Phasen der Niedergeschlagenheit und Depression und von jagender Angst gequält wurde, er könnte nicht die Kraft besitzen durchzuhalten) war sein Freund und Gefährte, Francesco di Messer Vanni Malavolti, der Sohn einer der einflussreichsten und bedeutendsten Adelsfamilien Sienas.
„Ich war damals etwa fünfundzwanzig Jahre alt“, schreibt Francesco, „recht hitzig und stolz auf meine Verwandtschaft und meine Herkunft und im Überfluss mit allen irdischen Gütern gesegnet. Durch mein noch jugendliches Alter verführt, lebte ich ausschweifend und völlig zügellos in den elenden Vergnügungen der Welt und des Fleisches, als ob ich niemals sterben sollte, und folgte rücksichtslos mit aller Kraft meinen ungeordneten Begierden. Da ich aber Umgang und Gemeinschaft mit vielen hatte, die mir an Alter und Herkunft ähnlich waren, traf es sich, dass unter meinen anderen lieben Gefährten ein vornehmer junger Mann aus Siena war – er hieß Neri di Landoccio di Messer Neri de‘ Pagliaresi –, mit dem ich viel Zeit verbrachte, einerseits weil er sehr tugendhaft und liebenswürdig war, andererseits auch, weil er sehr schöne Gedichte verfasste, an denen ich zu dieser Zeit den größten Gefallen fand. Nachdem wir längere Zeit befreundet gewesen waren, hatte dieser Neri (ohne mein Wissen) mehrfach vom Ruf dieser berühmten Jungfrau Caterina gehört und sogar mit ihr gesprochen, wodurch er wunderbar verwandelt und zu einem anderen Menschen geworden war. Da er mich wegen meines ausschweifenden Lebenswandels bedauerte und eher das Heil meiner Seele als das meines Körpers wünschte, beschwor er mich oftmals, ihn zu einem Gespräch mit der besagten Jungfrau Caterina zu begleiten. Ich kümmerte mich um diese Worte und Bitten nicht im Geringsten, vielmehr machte ich mich darüber lustig, ließ lange Zeit verstreichen und war nicht gewillt, seinem Wunsch nachzukommen. Schließlich aber – weil ich mich durch seine inständigen Bitten genötigt fühlte und ihm keinen Kummer bereiten wollte wegen des Bandes einzigartiger Zuneigung, mit dem er mir verbunden war – sagte ich ihm, ich wäre bereit, seinen Wunsch zu erfüllen. Gleichwohl gedachte ich, keineswegs aus einem Gefühl der Ehrerbietung dorthin zu gehen, sondern eher mit Geringschätzung und mit der Absicht – falls sie mir von geistlichen Dingen und insbesondere von einer Beichte predigen sollte –, ihr eine solche Antwort zu geben, dass sie niemals wieder mit mir sprechen würde. Mit diesem Vorsatz bereitete ich mich darauf vor, sie aufzusuchen. Wir gingen also beide zu der ruhmreichen Jungfrau. Doch kaum, dass ich ihr Antlitz erblickte, überfiel mich eine solche Furcht und ein solcher Schauder, dass ich beinahe ohnmächtig geworden wäre. Und obwohl ich wie gesagt nicht daran dachte oder die Absicht zu beichten hatte, verwandelte Gott auf ihr erstes Wort hin so wundersam mein Herz, dass ich geradewegs zur sakramentalen Beichte ging. Und diese erste Begegnung war so wirkungsvoll, dass ich ganz das Gegenteil dessen wurde, was ich zuvor gewesen war.“ Nach einigen weiteren Besuchen bei ihr gab er seine frühere Lebensweise vollständig auf. Der Wandel war so groß, dass er mit seiner Gemahlin, einer vornehmen jungen Dame, „liebreizend und schön von Gestalt, aber weit mehr von Tugend und Geist“, die ihm bisher nicht genügte und er „im Wunsch und in der Tat möglichst viele andere Frauen haben wollte“, nun mit ihrem Einverständnis lange Zeit enthaltsam mit ihr lebte. Und indem er die weltlichen Vergnügungen, die seine Seele erfreut hatten, mied, fand er seine Freude in den Kirchen und im Gespräch mit den Dienern Gottes und begann, Caterinas Haus häufiger zu besuchen und ihren Lehren zu lauschen.
Doch kurze Zeit später verfiel er in eine schwere Sünde, die, wie er sagt, nur Gott kannte. „Unmittelbar nachdem ich diese Sünde begangen hatte, ging ich – von Gott berührt – zur Wohnung der Jungfrau, und sobald ich ihr Haus betreten hatte, bevor ich ihr noch begegnet war, ließ sie mich gegen ihre Gewohnheit zu sich rufen. Nachdem sie alle anderen, die bei ihr waren, weggeschickt hatte, ließ sie mich bei ihr Platz nehmen und sagte zu mir: ‚Sag mir, wie lange ist es her, seit du zuletzt zur Beichte gegangen bist?‘ Darauf antwortete ich: ‚Letzten Samstag.‘ Das entsprach völlig der Wahrheit, denn das war der Brauch aller, die mit ihr Umgang hatten. Darauf sagte sie: ‚Geh sofort zur Beichte!‘ worauf ich antwortete: ‚Meine liebe Mutter, ich werde morgen, am Samstag, beichten.‘ Aber sie wiederholte nochmals: ‚Geh und tu, was ich dir sage.‘ Und als ich um einen Aufschub bat und mich weigerte, gerade jetzt zu gehen, sagte sie mit glühendem Antlitz zu mir: ‚Mein Sohn, wie kannst du glauben, dass ich nicht stets meine Augen offen halte über meine Kinder? Du könntest nichts tun oder sagen, ohne dass ich es wüsste. Und wie willst du vor mir verbergen, dass du soeben dies und jenes getan hast? Geh deshalb sofort und reinige dich von solch großer Schuld.‘ Als ich hörte, wie sie mir genau das sagte, was ich getan und gesagt hatte, beherzigte ich – verwirrt und voll Scham, ohne jede weitere Antwort – sofort ihren Rat und ging zur Beichte. Und nicht nur damals, auch bei vielen anderen Gelegenheiten machte sie mir mit bescheidenen und einfachen Worten nicht nur meine verborgenen Taten bewusst, sondern auch die Gedanken, die mir durch den Kopf gingen, die guten wie auch die schlechten.“[7]
Bei einer späteren Gelegenheit schrieb Caterina an Francesco: „Ich kann Dich wohl lieber Sohn nennen, denn Du hast mich so viele Tränen, so viel Schweiß und so viel bitteren Kummer gekostet.“ Doch vorerst befand sich der junge Mann im ersten Eifer seiner Bekehrung. „Von einem bestialischen, ja nahezu dämonischen Menschen“, sagt er, „war ich zu wahrer Erkenntnis und zu einem Leben nach dem Geiste gelangt.“ Seine Verwandten und Freunde versuchten mit allen Mitteln, ihn von seiner neuen Lebensweise wieder abzubringen. Besonders zweien missfiel sein Wandel zum Guten – „und das, wie ich glaube, weil uns zuvor die größte Übereinstimmung in den lüsternen Eitelkeiten dieser Welt verband.“ Der eine war ein angeheirateter Verwandter, Neri di Guccio degli Ugurghieri (ein Mitglied einer der ältesten feudalen Familien Sienas), und der andere ein Freund, Niccolò di Bindo Ghelli. Wann immer sie Francesco trafen, beschimpften sie Caterina und erklärten sich bereit, ihr dasselbe ins Gesicht zu sagen. „Kommt also“, sagte Francesco schließlich, „ich werde euch mit ihr bekannt machen. Wenn ihr sie überzeugt, verspreche ich, mit euch in mein früheres Leben zurückzukehren. Aber nehmt euch in Acht, denn wenn ihr zu ihr geht, wird sie euch vor dem Weggehen bekehrt haben und euch beide dazu bringen, eure Sünden zu beichten.“ Das, so beteuerten sie, würde nicht einmal Christus selbst bewirken können; dennoch begleiteten sie ihn einige Tage später zum Haus der Heiligen. Und obwohl sie mit der Absicht gekommen waren, alles Böse gegen sie zu sagen, konnten sie kein Wort hervorbringen, sobald sie in ihrer Gegenwart waren:
„Dann begann sie, sie liebevoll zu ermahnen wegen vieler Worte, die sie oftmals mir gegenüber gebraucht hatten, als wäre sie selbst stets anwesend gewesen, wenn sie solche Dinge sagten, obwohl sie nie etwas davon von mir erfahren hatte, wofür Gott mein Zeuge sein möge. Als sie diese Worte von der Jungfrau vernahmen, waren sie erschüttert und verwirrt und begannen bitterlich zu weinen, und sie antworteten nichts anderes als dies: ‚Sagt uns, Herrin, was wir tun sollen, denn wir sind bereit, alles zu tun, was immer Euch gut dünkt zu bestimmen.‘ Darauf antwortete die Jungfrau: ‚Ich wünsche, dass ihr sofort zur Beichte geht, und dass du, Francesco, sie zu meinem Beichtvater, Fra Tommaso, begleitest.‘ Und als wir von dort aufbrachen, gingen wir gemeinsam direkt zum Konvent der Predigerbrüder von Siena, wo der besagte Beichtvater war, und dort beichteten beide mit größter Ergebenheit und unter Tränen ihre Sünden. Und sie wandelten ihre Lebensweise so vollkommen, dass sie die ganze Fastenzeit hindurch stets an den frommen Predigten teilnahmen, alle bösen Reden sein ließen und aufrichtig und gottesfürchtig lebten. Und so erweist sich deutlich, auf welch wunderbare Weise jene beiden, die ihr so sehr auswichen, dennoch nicht den Händen jener kleinen heiligen Jungfrau Caterina entkommen konnten.“[8]
Weitere Laienschüler, die sich zu dieser Zeit der geistlichen Familie Caterinas anschlossen, waren Gabriele di Davino Piccolomini, ein verheirateter Mann, und Nigi di Doccio Arzocchi, offenbar ein Jugendlicher, beide Mitglieder adeliger Häuser. Weniger eng mit ihr verbunden, aber ein glühender Verfechter ihrer Heiligkeit und ihrer Sendung war Tommaso di Guelfaccio, der Anhänger von Giovanni Colombini, ein Mann, in den die Regierung der Republik großes Vertrauen setzte. Ganz anderer Prägung war dagegen Ser Cristofano di Gano Guidini, ein Notar, der durch Neri di Landoccio und Nigi di Doccio ihr Schüler wurde und uns seine Memoiren hinterlassen hat. Cristofano gehörte zur Partei der Riformatori, bekleidete verschiedene kleinere Ämter innerhalb der Regierung und saß in späteren Jahren zweimal im obersten Magistrat als einer der fünfzehn Verteidiger. Nachdem er einige Zeit mit Caterina und ihrem Kreis verbunden gewesen war, wünschte er, der Welt zu entsagen und in den Ordensstand zu treten, gab aber dann den Bitten seiner Mutter nach und entschloss sich zu heiraten. Er hat uns einen Brief mit Ratschlägen hinterlassen, den Caterina ihm anlässlich der Wahl einer Gattin schrieb, in dem sie ihn liebevoll für seine Entscheidung, die Berufung zu einem spirituellen Leben zu verwerfen, tadelt, ihm jedoch aufträgt, in allem, was er tut, die Ehre Gottes und das Heil seiner Seele zu suchen.[9] Ein einfacher und geradliniger Mann, nicht ohne Bildung, war er möglicherweise das am meisten praktisch veranlagte Mitglied der Gefolgschaft.
Vermutlich durch Ser Cristofano gelangte eine noch wichtigere Persönlichkeit in Caterinas Einflussbereich: der Maler und demokratische Politiker Andrea di Vanni. Andrea di Vanni war an der revolutionären Bewegung beteiligt, die zur Vormachtstellung der Riformatori geführt hatte, und ein gewichtiger Mann im Rat der neuen Beamten der Republik, der häufig mit schwierigen Missionen betraut wurde. Er war mit dem ehrenwerten Notar gut bekannt und stand seinem ältesten Sohn Pate. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass er tatsächlich zu Caterinas geistlicher Familie gehörte, und ihre Briefe an ihn, als er das Amt des Capitano del popolo innehatte, stammen aus späterer Zeit. Andrea war nach den Maßstäben seiner Zeit ein loyaler und gewissenhafter Politiker und zugleich ein fruchtbarer Maler, der mit seiner Kunst ein edles und eindrucksvolles Idealbild der heiligen Jungfrau schuf.[10] Das bedeutendste seiner erhaltenen Werke ist gewiss das große Altarbild in der Kirche von Santo Stefano auf der Lizza. Aber auch wenn es restauriert und wohl auch übermalt wurde, so wäre doch jeder gefühllos zu nennen, der nicht gerührt auf dieses seltsame, überirdische, beinahe grobe, aber unermesslich berührende und anziehende Bildnis Caterinas blicken würde, das aus seiner Hand stammt und noch immer die Cappella delle Volte in San Domenico bewacht.
Die Tatsache, dass eine junge Frau solcherart von Männern umgeben war, die zum Teil nicht älter waren als sie selbst, gab bösen Gedanken und verleumderischen Zungen Nahrung. Die bitterste aller Anschuldigungen, die Caterina ertragen musste, war gegen sie gerichtet. Eine Frau namens Andrea, die sie pflegte, während sie langsam an einem Krebsleiden dahinsiechte, beschuldigte sie vor der Priorin und den Mitschwestern, sich der Unkeuschheit schuldig gemacht zu haben. Trotz Lapas heftiger Entrüstung betreute Caterina ihre Verleumderin liebevoll bis zum Ende und gewann zuletzt auch ihre Seele für ihren himmlischen Bräutigam. Im ersten Schmerz über die lügnerische Anschuldigung hatte sie unter Tränen zu Ihm gebetet, ihre Unschuld zu bekräftigen. Aber als er ihr zur Antwort gab, sie solle zwischen einer Perlenkrone und einer Dornenkrone wählen, drückte sie eifrig und leidenschaftlich die Dornenkrone auf ihre Stirn. Bei dieser Gelegenheit unterwarf sich Caterina, um sich für einen momentanen Anfall von Abscheu gegen den schlimmen körperlichen Zustand der Patientin zu strafen, einem Martyrium, das zu grausam ist, um hier geschildert zu werden.
„Liebste Tochter“, sprach die göttliche Stimme bei anderer Gelegenheit in ihrem Herzen, „du sollst wissen, dass die bevorstehende Zeit deiner irdischen Pilgerschaft von Meinen wunderbaren, neuen Gaben an dich so erfüllt sein wird, dass sie Erstaunen und Ungläubigkeit in den Herzen der unwissenden und weltlich gesinnten Menschen hervorrufen werden. Sehr viele, auch solche, die dich lieben, werden zu zweifeln beginnen und meinen, dass das, was dir durch Meine übergroße Liebe geschieht, eine Täuschung sei. Denn Ich werde in deine Seele eine solche Gnadenfülle ausgießen, dass sie auf wundersame Weise auch deinen Leib erfassen wird und er dadurch eine ganz ungewohnte Lebensweise erfährt und annehmen wird. Dein Herz wird so glühend für das Heil der Nächsten entbrennen, dass du ohne Rücksicht auf dein Geschlecht deine frühere Art zu leben völlig ändern und auch die Gesellschaft von Männern und Frauen nicht mehr scheuen wirst. Nein, für die Rettung ihrer Seelen wirst du dich jeder Mühe unterziehen, die in deiner Macht steht. Daran werden sehr viele Anstoß nehmen, und es wird sich Widerspruch regen, so dass die Herzen vieler offenbar werden. Aber sei nicht beunruhigt und fürchte dich vor nichts: Denn Ich werde immer mit dir sein und deine Seele vor verleumderischen Zungen und vor dem Mund derer, die lügen, bewahren. Führe also unerschrocken aus, was immer dir der Heilige Geist befiehlt, denn durch dich will Ich viele Seelen aus dem Schlund der Hölle befreien und sie durch Meine Gnade in das Himmelreich führen.“[11]
Vermutlich um diese Zeit wurde ein letzter Versuch aus dem religiösen Teil der Stadt unternommen, Caterinas Werk zu behindern, und er kam von zwei Männern in Siena, die – nach Francesco Malavoltis Worten – „Geistliche von hohem Ansehen in den Augen der Welt“ waren. Der eine, Fra Gabriele da Volterra, ein Franziskaner und später der Provinzobere, ein „Magister der Heiligen Theologie“ mit hohem Ansehen ob seiner Bildung und seiner Predigten, war eine Art kleiner „Bruder Elias“, der im Kloster San Francesco prunkvoll wie ein großer Prälat lebte. Der andere war ein Mönch aus dem Orden der Augustiner-Eremiten, Fra Giovanni Tantucci (bekannt als Giovanni Terzo, um ihn von zwei anderen „Johannes“, die vor ihm in den Orden eingetreten waren, zu unterscheiden), ebenfalls ein „Magister der heiligen Theologie“, der in England gewesen war und seinen Doktorgrad an der Universität von Cambridge erworben hatte. Diese beiden murrten über Caterina und sagten – in traditionell pharisäischer Art und Weise –, sie sei eine ungebildete Frau, die einfache Gemüter mit falschen Auslegungen der Heiligen Schrift verwirre und sie zusammen mit ihr in die Hölle führe. Sie beschlossen, ihr ihre Irrtümer vor Augen zu führen, und kamen eines Tages mit zwei Gefährten zu Besuch, in der Absicht, sie durch schwierige theologische Fragen zum Schweigen zu bringen. Eine Anzahl von Männern und Frauen waren bei ihr, als sie ankamen: Fra Tommaso della Fonte, Fra Matteo Tolomei, ein gewisser Niccolò di Mino, Tommaso di Guelfaccio, Neri di Landoccio, Gabriele Piccolomini, Alessa, Lisa, Cecca und andere, einschließlich Francesco Malavolti, der berichtet, was dann geschah:
„Während wir so den heiligmäßigen und wunderbaren Worten und Lehren dieser heiligen Jungfrau lauschten, unterbrach sie plötzlich ihre Rede, ganz entflammt und mit gerötetem Antlitz. Sie hob die Augen zum Himmel und sagte: ‚Gelobt seist Du, lieber und ewiger Bräutigam, der Du so viele neue Wege findest, auf denen Du die Seelen an Dich ziehst oder zu Dir führst.‘ Und sie sprach noch viele andere Worte, an die ich mich nicht genau erinnere und nicht imstande wäre, sie so wiederzugeben, wie sie von ihr geäußert wurden. Aber wir waren alle gespannt und beobachteten, was sie tat, denn ihre Bewegungen und alle ihre Worte waren sehr geheimnisvoll und nicht ohne bestimmten Grund. So erwarteten wir den Ausgang, den die Sache notwendig nehmen musste. Dann sagte Fra Tommaso, ihr Beichtvater, zu ihr: ‚Sag mir, Tochter, was bedeutet das, was du gerade getan hast? Was meinst du? Lass uns etwas davon verstehen.‘ Sie aber antwortete wie eine gehorsame Tochter: ‚Mein Vater, Ihr werdet bald zwei große Fische ins Netz gehen sehen‘, dann sagte sie nichts mehr. Wir wussten auch bei diesen Worten noch nicht, was sie sagen wollte. Aber während wir so im Unklaren waren und den Ausgang der Sache erwarteten, sagte eine der Gefährtinnen der Jungfrau, die mit ihr das Haus teilte: ‚Mutter, unten warten Magister Gabriele de Volterra von den Minderbrüdern mit einem Gefährten und Magister Giovanni Terzo von den Mönchen von St. Augustin, ebenfalls mit einem Gefährten, die zu Euch kommen wollen.“
Als Caterina ihnen entgegengehen wollte, kamen die beiden ins Zimmer. Sie setzten sich und die anderen gruppierten sich rundherum, weil sie sagten, sie wollten nichts im Geheimen mit ihr besprechen. Dann begannen der Franziskaner und der Augustiner nacheinander, „wie zwei wilde Löwen“ sie abwechselnd mit den schwierigsten theologischen Fragen zu bedrängen, in der Hoffnung, sie vor ihren Freunden und Schülern in Verwirrung zu bringen. „Aber der Heilige Geist, der keinen verlässt, der auf ihn vertraut, verließ diese Seine demütige Magd nicht, sondern verlieh ihr so große Weisheit und Stärke, dass – wären hier nicht nur zwei solche Männer, sondern deren tausend oder zehntausend gewesen – sie alle geschlagen und einen strahlenden Sieg über sie davongetragen hätte, ebenso wie derselbe Heilige Geist durch den Mund Davids sprach: Tausend werden zu deiner Seite fallen und zehntausend zu deiner Rechten.“ Ganz entflammt in göttlichem Eifer, aber dennoch mit äußerster Ehrerbietung gegen ihre beiden Opponenten, rügte Caterina ihre aufgeblasene und fruchtlose Wissenschaft, ihre Ausrichtung auf das Lob der Menschen, und sprach so gewinnend von der Liebe Christi, dass die beiden im selben Augenblick bekehrt wurden. Magister Gabriele lebte in solchem Luxus, dass er sich in seinem Konvent aus drei Zellen eine eingerichtet und sie so prächtig ausgestattet hatte, dass es für einen Kardinal übertrieben gewesen wäre, einschließlich „eines besonders vornehmen Bettes mit einer Seidendecke und Vorhängen rundum und so vielen anderen Dingen, dass sie – zusammen mit seinen Büchern – hunderte von Dukaten wert gewesen wären. Er nahm die Schlüssel von seinem Gürtel und sagte vor uns allen: ‚Ist hier niemand, der gehen und alles, was ich in meiner Zelle habe, verteilen und um Gottes willen verschenken möchte?‘ Da standen Niccolò di Mino und Tommaso di Guelfaccio auf, nahmen die Schlüssel und sagten zu ihm: ‚Was wollt Ihr, dass wir tun?‘ Und Magister Gabriele antwortete ihnen: ‚Geht in meine Zelle, und was immer ihr darin findet, das verteilt und verschenkt um Gottes willen, sodass nichts für mich darin bleibt außer meinem Brevier.“ Sie nahmen ihn beim Wort, verteilten seine Bücher unter den Mitbrüdern des Konvents, die studierten, und gaben den Rest den Armen. Ihm ließen sie nur, was für einen einfachen Franziskanermönch der strengen Observanz genügte. Gabriele selbst ging kurz danach nach Santa Croce in Florenz und widmete sich dort dem Dienst an den Brüdern im Refektorium und anderen Handlungen der Demut, obwohl er immer noch der Provinzobere war. Auch Magister Giovanni verschenkte alles, was er besaß, und behielt nur sein Brevier. Er wurde einer von Caterinas unmittelbaren Anhängern und begleitete sie später auf ihren Reisen bis zu ihrem Tod. Auch war er einer der drei Beichtväter, die vom Papst dazu ausersehen wurden, um die Beichten derer abzunehmen, die sich durch ihr Wirken bekehrt hatten.[12]
Es war zweifellos Magister Giovanni Tantucci, der Caterina mit den Eremiten von Lecceto in Berührung brachte. Der Konvent San Salvatore in Lecceto war das Mutterhaus der Augustiner-Eremiten in der Toskana, „ein gesegneter Ort“, schreibt der Historiker Ambrogio Landucci aus dem siebzehnten Jahrhundert, „an dem der Allmächtige so viele Wunder gewirkt hat.“ Er liegt jenseits von Belcaro, einige Kilometer westlich von Siena, in den Überresten eines einst berühmten Steineichenwaldes. Der Ort war ursprünglich bekannt als Convento di Selva, das Kloster im Wald, und wurde auch Selva di Lago genannt, wegen des Sees oder (später trockengelegten) Sumpfes, der sich am Fuß des Hügels ausbreitete, auf dem sich das Kloster noch immer abgelegen und schmucklos erhebt. Seit dem Mittelalter rankten sich wunderbare Legenden um das Kloster und den Wald. Wundersame Wasser sprudelten aus dem trockenen Boden; die Steine nahmen geheimnisvolle Farben an, um an den Gekreuzigten zu erinnern; die Blumen des Waldes besaßen wunderbare, heilende Eigenschaften, „alles eindeutige Zeichen dafür, dass hier eine ständige Quelle des Paradieses entsprang.“ Engel waren in Menschengestalt herabgestiegen, um mit den Eremiten in ihrem Refektorium zu essen oder ihnen in ihrer Not beizustehen. Christus selbst war in diesem Wald erschienen, um den jungen Mönch Giovanni di Guccio in seiner Berufung zu bestärken. Aber auch Dämonen lauerten in ihm, die bereit waren, die Seelen der Unachtsamen zu umgarnen, so wie es dem jungen Sieneser Ritter Ambrogio Sansedoni ergangen war, der sorglos unter den Steineichen spazieren ging und mit einem scheinbar schönen Mädchen konfrontiert wurde, das von zwei Strolchen an einen Baum gefesselt worden war und das sich erst durch ein Kreuzzeichen in seiner wahren Natur zeigte.
Die großen Tage des Klosters gehörten jedoch der Vergangenheit an, obwohl das Haus noch immer von Fra Niccolò Tini geführt wurde, dem Prior, dessen sanftes Gemüt, grenzenlose Demut und Barmherzigkeit so liebevoll von seinem Novizen, Filippo Agazzari, gerühmt werden. Sowohl Fra Niccolò als auch Fra Filippo müssen während Caterinas gesamter Erdenzeit im Kloster gelebt haben. Sie scheint jedoch weder mit dem ersteren etwas zu tun gehabt zu haben (auf den sie sich nur indirekt in einem Brief bezieht), noch macht letzterer in seinen faszinierenden Assempri jemals eine Erwähnung von ihr oder ihren Anhängern. Es ist in der Tat etwas verwunderlich, dass ein Zeitgenosse aus Siena, der nachweislich ein heiligmäßiges Leben und fromme Gespräche führte, der Caterina häufig gesehen oder zumindest alles über sie gehört haben muss, in späteren Jahren das religiöse und gesellschaftliche Leben seiner Zeit so darstellt, als hätte es eine solche Person niemals gegeben.[13] Im Konvent gab es offensichtlich eine Partei, die gegen Caterina opponierte. Jedenfalls ist sicher, dass keiner der Mönche von Lecceto, die nun Caterinas Schüler wurden – William Flete, Felice de‘ Tancredi (bekannt als Fra Felice da Massa), Antonio da Nizza oder Giovanni Tantucci selbst – in den Seiten von Fra Filippo auftaucht, wobei wenigstens der Erstgenannte zu seiner Zeit ein einigermaßen bekannter Mann war.
William Flete war ein Engländer aus Cambridge, der sich bei den Augustiner-Eremiten in Lecceto niedergelassen hatte und möglicherweise durch seine Bekanntschaft mit Giovanni Tantucci, der vermutlich sein Studienkollege an den Ufern des Cam gewesen war, dorthin geführt wurde. In Caterinas Kreis wurden diese beiden Gelehrten üblicherweise mit ihren akademischen Titeln bezeichnet, wobei Giovanni der „Magister“ und William der „Bachelor“ war. In den Steineichenwäldern führte er ein noch strengeres Leben, als es ihm seine Regel vorschrieb. Er widmete sich den Werken der Buße und seinen Studien, vermied jeden Umgang mit Außenstehenden und schloss sich auch kaum den anderen Mönchen an, da er nur abends oder zu den kirchlichen Offizien in den Konvent zurückkehrte.[14]
Aus einem Brief Caterinas an ihn geht hervor, dass ihr schien, der brave Eremit aus England schenke der Abtötung um ihrer selbst willen zu viel Beachtung. Es gibt jene, erläutert sie ihm, „die ihr Verlangen mehr darauf gerichtet haben, den Körper zu kasteien, als ihren Eigenwillen zu überwinden. Sie sättigen sich an der Tafel der Buße und sind gut und vollkommen. Aber wenn sie nicht zugleich eine große Demut besitzen und ihren Trost nicht darin finden, nach Gottes Willen zu urteilen und nicht nach jenem der Menschen, trüben sie sehr oft ihre Vollkommenheit, da sie sich zum Richter über jene erheben, die nicht denselben Weg gehen wie sie. Und das geschieht ihnen, weil sie mehr Eifer und Verlangen auf die Abtötung des Körpers als auf das Bezwingen des Eigenwillens verwendet haben. Sie wollen stets Zeit, Ort und geistliche Tröstungen nach ihrer Art auswählen, ebenso die Leiden der Welt und die Angriffe des Teufels. Dadurch, und von ihrem eigenen Willen hinters Licht geführt, sagen sie sich: ‚Ich will diese Tröstung und nicht diese Angriffe und Verwirrungen des Teufels; nicht etwa um meinetwillen, sondern um Gott mehr zu gefallen und zu besitzen, denn mir scheint, dass ich ihn auf diese Weise eher besitze als auf andere Weise.‘ Dadurch aber geraten sie oftmals in Kummer und Überdruss, werden sich selbst zur Last und trüben so ihre Vollkommenheit. Dahinter verbirgt sich unbemerkt der Geruch des Stolzes. Denn wären sie wirklich demütig und nicht eingebildet, würden sie zweifellos erkennen, dass die erste süße Wahrheit Zustand, Zeit, Ort, Tröstung und Betrübnis vorgibt, je nachdem es für unser Heil notwendig ist und zur Erlangung der Vollkommenheit, zu der wir berufen sind. Sie würden erkennen, dass alles aus Liebe gegeben wurde und sie daher alles in Liebe und Ehrfurcht in Empfang nehmen müssen.“
Die Seelen, die diese vollkommene Erleuchtung besitzen und von sehnsüchtiger Liebe entflammt sind, eilen zum Tisch dieses heiligen Verlangens. „Sie verlieren sich selbst, indem sie den alten Menschen, das heißt, ihre Sinnlichkeit, ablegen und den neuen Menschen anziehen, den lieben Jesus Christus, dem sie nun unerschrocken nachfolgen. Das sind also jene, die sich am Tisch des heiligen Verlangens nähren und ihre Sorge eher auf das Bezwingen ihres Eigenwillens als auf die Abtötung ihres Leibes ausgerichtet haben. Sie haben zwar ihren Leib abgetötet, aber nicht als ihr vorrangiges Ziel, sondern nur als ein Hilfsmittel zur Beherrschung ihres Eigenwillens. Denn ihr oberstes Ziel sollte sein und ist es, den Eigenwillen zu überwinden, sodass sie nichts anderes mehr suchen und wollen, als nur dem gekreuzigten Christus nachzufolgen zum Lob und Ruhm Seines Namens und zum Heil der Seelen. Dann leben sie immer in Ruhe und Frieden. Niemand kann sie empören, denn sie haben das abgelegt, was in ihnen die Empörung entstehen lässt, nämlich ihren Eigenwillen. Alle Verfolgungen, die die Welt und der Teufel erfinden können, schwinden unter ihren Füßen dahin. Zwar stehen sie, von ihrem glühenden Verlangen getrieben, gleichsam im Wasser, aber sie gehen nicht unter. Sie freuen sich über alles; beurteilen und verurteilen aber weder die Diener Gottes noch irgendeine andere vernünftige Kreatur, sondern sie freuen sich an jedem Stand und jeder anderen Art und Lebensweise, die sie wahrnehmen, indem sie sagen: ‚Dank sei Dir, ewiger Vater, der Du viele Wohnungen in Deinem Haus hast.‘ Über diese Vielfalt freuen sie sich mehr, als wenn alle den einen gleichen Weg beschritten, weil dabei die Größe von Gottes Güte noch deutlicher sichtbar wird. Und sie geben auch kein Urteil ab über das, was sie ausdrücklich als Sünde erkennen, sondern sie sagen vielmehr von echtem und heiligem Mitleid ergriffen: ‚Heute trifft es dich, und morgen könnte es mich treffen, wäre da nicht die göttliche Gnade, die mich davor bewahrt.‘“[15]
Wenig später ermahnt sie ihn und Fra Antonio (den Einsiedler aus Nizza, der, wie Cristofano di Gano berichtet, der auserwählte Gefährte des Engländers war), sich durch ihre Liebe zur Einsamkeit nicht von ihren Pflichten des Gehorsams und der Nächstenliebe abbringen zu lassen:
„Ich trage Euch im Namen Christi des Gekreuzigten auf, nicht nur das eine oder andere Mal in der Woche im Konvent auf Wunsch des Priors die Messe zu lesen, sondern jeden Tag, wenn Ihr merkt, dass es sein Wunsch ist. Denn wenn Ihr auch Eure Tröstungen preisgebt, so verliert Ihr deshalb nicht den Stand der Gnade; vielmehr erlangt Ihr noch mehr Gnade, wenn Ihr Euren Eigenwillen preisgebt. Um zu zeigen, dass wir uns an den Seelen sättigen und an den Mitmenschen Geschmack finden, möchte ich, dass wir nicht nur auf unsere eigenen Tröstungen bedacht sind. Wir müssen ebenso Achtsamkeit und Mitgefühl zeigen für die Sorgen unserer Mitmenschen und insbesondere für jene, die mit uns durch das eine Band der Liebe vereint sind. Wenn Ihr nicht so handeln würdet, wäre es wirklich ein großer Fehler. Und deshalb möchte ich, dass Ihr auf die Sorgen und Nöte von Frate Antonio achtet, und ich wünsche und erbitte von Frate Antonio, die Euren anzuhören. Im Namen Christi und in meinem eigenen Namen bitte ich Euch, es so zu tun. Auf diese Weise werdet Ihr die aufrichtige Liebe in Euch bewahren; andernfalls würdet Ihr dem Teufel Raum geben, um Zwietracht zu säen.“[16]
Ein anderes frühes Mitglied der geistlichen Familie war Messer Matteo di Fazio de‘ Cenni, „ein würdiger Diener Gottes“, der nach einer zügellosen Jugend durch den Einfluss William Fletes bekehrt worden war und sich nun einem tätigen Leben der Nächstenliebe als Leiter der Casa della Misericordia, eines der wichtigsten Spitäler Sienas, widmete. Sano di Maco, ein Plebejer, der Geschäftsverbindungen mit der Familie Benincasa unterhielt und einigen Einfluss innerhalb der Handwerker-Regierung besaß, wurde ebenfalls einer von Caterinas Söhnen im Glauben. Ein alter Einsiedler, Fra Santi di Teramo, „ein Heiliger sowohl dem Namen nach als auch in seinen Taten“, ein Anachoret aus den Abruzzen, der mit Pietro Petroni und Giovanni Colombini eng verbunden war, schloss sich ebenfalls diesem Kreis an. „In seinen alten Tagen“, schreibt Raimondo, „als er diese kostbare Perle, die Jungfrau Caterina, fand, verließ er die Ruhe seiner Zelle und seine bisherige Lebensweise, um nicht nur sich selbst, sondern auch anderen zu helfen. Und folgte ihr, vor allem wegen der Zeichen und Wunder, die er täglich an sich selbst und an anderen sah. Er versicherte, dass er in der Gemeinschaft mit ihr und im Hören auf ihre Lehren mehr Ruhe und Trost für sein Gemüt und auch größere Fortschritte in den Tugenden erlangte, als er sie je in der Einsamkeit seiner Zelle gefunden hatte.“[17]
Zwei weitere Personen, deren Namen noch enger mit dem Caterinas verbunden werden sollten, fehlen noch, um die Gemeinschaft zu vervollständigen: Raimondo da Capua selbst und jener junge Landsmann und geliebte Schüler der heiligen Jungfrau, auf den er sich schließlich berufen konnte, um die Wahrheit der Vita über seine geistliche Lehrerin zu bezeugen: „Er ist Zeuge fast aller dieser Erzählungen, so dass ich mit dem Evangelisten Johannes sagen kann: Er weiß, dass das, was er sagt, wahr ist, das heißt, der Kartäuser Stefano weiß, dass Raimondo aus dem Orden der Prediger, der – obgleich ungeeignet und unwürdig – diese Legenda verfasst hat, die Wahrheit spricht.“
[1] Brief 231 (7).
[2] [Vgl. Purg. xxxii, 103].
[3] Legenda, II. vi. 1– 9, 17, 20–23 (§§ 178–193, 206, 212–216).
[4] Contestatio Fr. Bartholomaei, S. 1332–1333; Legenda, II. vi. 21 (§ 213).
[5] Dialogo, Kap. 144.
[6] Brief 99 (272). In allen folgenden Briefen spricht Caterina ihn mit „du“ an.
[7] Contestatio Francisci de Malavoltis, Kap. i., Casanatense MS., S. 430–433; [Prozess, S. 558–561].
[8] Contestatio Francisci de Malavoltis, Kap. iii., MS. cit., S. 439, 440; [Prozess, S. 569–570].
[9] Brief 43 (240). Vgl. Memorie di Ser Cristofano di Gano Guidini, S. 31–33, und Grottanelli, Orazioni di Santa Brigida (Siena, 1867), S. 4. Cristofano verfasste eine Vita Giovanni Colombinis, übersetzte Caterinas Dialogo ins Lateinische und ließ eine italienische Version der Offenbarungen der hl. Birgitta für die Confraternität Unserer Lieben Frau kopieren.
[10] Vgl. F. M. Perkins, Andrea Vanni, in: Burlington Magazine, Bd. ii. (London, 1903). Er scheint sich selbst „Andrea di Vanni“ genannt zu haben; Vanni wurde erst in späterer Zeit zum Familiennamen. Verschiedene Dokumente über sein öffentliches Wirken, zusammen mit einigen seiner Briefe an die Signoria als Botschafter des Papstes (1373, 1384, 1385), werden bei G. Milanesi zitiert: Documenti per la Storia dell‘ Arte Senese, Bd. i. Dok. 90–95, 137; ferner Borghesi und Banchi, Nuovi documenti, S. 27, 54, 55.
[11] Legenda, II. v. 1. (§ 165).
[12] Contestatio Francisci de Malavoltis, Kap. iii., MS. cit., S. 441–445; [Prozess, S. 571–576].
[13] Fra Niccolò Tini (angeblich ein Marescotti) war Prior von Lecceto von 1332 bis 1388. Sein Leben wird in Fra Filippos Assempro 41 dargestellt. Filippo trat im Jahr 1353 unter ihm als Novize ein, begann 1397 seine Assempri zu verfassen und wurde 1398 zum Prior gewählt. Giovanni Tantucci (der 1391 starb) folgte offensichtlich Fra Niccolò als Prior. Vgl. Carpellini, Gli Assempri di Fra Filippo da Siena, S. xxvi., xxvii., und Landucci, Sacra Leccetana Selva, S. 103–109.
[14] Vgl. Memorie di Ser Cristofano, etc., S. 34. William Flete war früher mit Giovanni Colombini bekannt gewesen, der ihm und dem Prior eine Nachricht übermittelte, Lettere del B. Giovanni Colombini, 80.
[15] Brief 64 (124)
[16] Brief 77 (128).
[17] Legenda, III. i. 10 (§ 340). Vgl. Bartholomaeus Senensis, Vita B. Petri Petroni, III. 6.