Caterina und die Kirche
„Als wäre ihr die Farbe der Liebe entschwunden“ 1
Wer an Caterina von Siena denkt, verbindet damit zumeist ganz spontan ihren Einsatz für die Rückkehr des Papsttums nach Rom und – besonders in kirchenkritischen Kreisen – auch ihre freimütige Sprache über kirchliche Zustände. Buchtitel wie etwa „Eine Frau, die in der Kirche nicht schwieg“ verleiten daher heute zu der Annahme, man könnte bei so manchen utopischen Forderungen an die „Amtskirche“ in Caterina eine Verbündete sehen. Tatsächlich aber lehrte sie in Wort und Tat, dass nicht eine Änderung der Strukturen, sondern nur die persönliche spirituelle Erneuerung der blass gewordenen Braut Christi „die Farbe der Liebe“ wieder zurückgeben kann (vgl. Brief 177, 206, Dialog 122).
Als Papst Paul VI. im Jahre 1970 Teresa von Avila und Caterina von Siena zu Kirchenlehrerinnen ernannte, war dies nicht bloß eine Geste, um den Genius des Weiblichen in der Kirche zu würdigen, sondern der Papst wollte in den Wirren der Nachkonzilszeit am Beispiel dieser beiden heiligen Frauen aufzeigen, was für jede wahre Reform unabdingbar ist, nämlich zum einen das persönliche, vertrauensvolle Gebet und zum andern eine vorbehaltlose Liebe zur Kirche. Caterina hat mit ihrem Leben und zuletzt auch mit ihrem Sterben im Alter von 33 Jahren in Rom auf einzigartige Weise dafür Zeugnis abgelegt: „Wenn ich jetzt sterbe, dann nehmt es als sicher an, … dass ich mein Leben für die heilige Kirche hingegeben habe; dies halte ich für die höchste Gnade, die mir vom Herrn gewährt werden wird“ (Supplement III, 2, 2; III, 2, 4).
Caterinas theologisches Denken war zutiefst durchdrungen vom Mysterium der Trinität und der Einsicht ihrer eigenen Geschöpflichkeit, jener Grundlehre, die sie Christus selbst am Anfang ihres geistlichen Weges gelehrt hat mit den Worten: „Ich bin Der, der IST. Du aber bist diejenige, die nicht ist“ (Vita 92). Alles hat im dreifaltigen Gott seinen Ursprung: die Schöpfung, die Erschaffung des Menschen, die Sendung des Sohnes, der sich für uns zur Brücke gemacht hat, um Himmel und Erde zu verbinden, und auch die Kirche, die als Herberge auf der Christus-Brücke steht und gegründet wurde in seinem kostbaren Blut (vgl. Gebet 12).
Eine erste Vision aus Kindheitstagen war entscheidend für ihr weiteres Leben: Sie sah Christus auf einem Thron sitzend, angetan mit päpstlichen Gewändern und der Tiara, wie er ihr zulächelt und sie segnet. Von nun an wurde ihr Leben zunehmend erfüllt von der Liebe zu Christus – und damit untrennbar verbunden von der Liebe zur Kirche. Christus lieben und die Kirche lieben wird für sie eins, denn „die Kirche ist nichts anderes als derselbe Christus“ (Brief 171), sie „ist auf Liebe gegründet, und sie ist selber Liebe“ (Brief 371).
Caterinas Schriften (ihre 381 Briefe, der Dialog und die 26 Gebete), in denen diese Themen breit zur Sprache kommen, entstanden auf dem Hintergrund zweier Ereignisse, die ihre letzten Lebensjahre (1375–1380) prägten und sie in eine enge Beziehung zu den Päpsten brachten: zu Gregor XI. aufgrund des Konflikts mit der florentinischen Liga und zu Urban VI. im Zusammenhang mit dem beginnenden Abendländischen Schisma. Caterinas leidenschaftliches Eintreten für die Autorität des Papstes war damals neu. Sie nannte ihn „liebes Väterchen“, „Christus auf Erden“ und „Stellvertreter Christi“, aber sie übersah auch nicht die menschliche Schwäche. Gregor XI. fordert sie auf, seine Macht zu gebrauchen und würdige Prälaten in den Garten der Kirche einzupflanzen, andernfalls es besser wäre, er würde auf sein Amt verzichten (vgl. Brief 375), und Urban VI. ermahnt sie, sein ungestümes und heftiges Temperament zu mäßigen (Brief 364). Sie weiß, dass es auf Erden niemand Größeren gibt als den Papst, aber „wenn Ihr mich verließet, weil Ihr Missfallen und Entrüstung gegen mich hegt, so werde ich mich in den Wundmalen des gekreuzigten Christus verbergen, dessen Stellvertreter Ihr seid. Und ich weiß, dass Er mich aufnehmen wird, denn Er will nicht den Tod des Sünders“ (Brief 267).
Im Mittelalter war die Kirche in der Theologie und auch in der spirituellen Literatur noch kein eigenes Thema, man sprach von Kanonistik, aber nicht von ihrem Mysterium. Die Kirche war verdichtet anwesend und sichtbar im Papst, denn „Petrus stellte in seiner Person … die gesamte Kirche dar“ (Augustinus). Caterinas Vision bestätigte diese Sichtweise.
Die aufkommende Kritik an der Institution, die Idee einer reinen ecclesia spiritualis, das Exil der Päpste in Avignon und das 40 Jahre dauernde Abendländische Schisma führten zu einem Vertrauensverlust und ließen das Interesse und die Freude an der Kirche zunehmend schwinden. Alles verlagerte sich in die persönliche Innerlichkeit (Stichwort: Devotio moderna); selbst in der Imitatio Christi kommt das Wort „Kirche“ nur vier Mal vor. Erst die Reformation zwang dann die Theologie dazu, über die Kirche und ihr Mysterium nachzudenken, und Kardinal Robert Bellarmin schuf so die erste Ekklesiologie. Caterina war hier allerdings die wichtige Ausnahme. Denn ein wesentlicher Teil ihrer Sendung bestand gerade darin, dieser Kirchenresignation entgegenzuwirken und aufzuzeigen, dass die sichtbare Kirche notwendig ist zur Vermittlung des Heils. Als die Florentiner dem von Gregor XI. über ihre Stadt verhängten Interdikt mit den Worten begegneten: Wir haben Christus im Herzen, gab Caterina zur Antwort: „Wir können unser Heil nicht anders erlangen als im mystischen Leib der heiligen Kirche, dessen Haupt Christus ist und dessen Glieder wir sind. Wer dem Christus auf Erden, der den Christus im Himmel vertritt, nicht gehorcht, wird am Blute des Gottessohnes nicht teilhaben. Denn Gott hat verfügt, dass uns dieses Blut durch seine Hände gespendet und gegeben wird und ebenso alle Sakramente der heiligen Kirche, die von diesem Blut das Leben empfangen“ (Brief 207).
Für Caterina galt: Wer den Papst ablehnt, lehnt Christus ab. Ein „Christus ja – Kirche nein“ wäre für sie undenkbar gewesen. Freilich, der Grund für eine Ablehnung der Kirche hing damals wie auch heute immer auch zusammen mit den Sünden ihrer Diener. Im Dialogo, dem spirituellen Hauptwerk Caterinas, lässt sie Gott Vater die Worte sprechen: „Sieh genau hin, wie schmutzig das Antlitz Meiner Braut ist, wie es vom Aussatz der Unreinheit und der Selbstsucht entstellt und aufgequollen ist durch den Stolz und die Habsucht derer, die sich an ihrer Brust nähren: an der Brust des universalen Leibes der Christenheit und des mystischen Leibes der heiligen Kirche“ (Dialog 14). Caterina sah die Kirche bildlich in zwei großen Kreisen, die aufeinander bezogen sind: einem äußeren – den „universalen Leib der christlichen Religion“, der alle getauften Laien umfasst – und in einem inneren, dem „Mystischen Leib“, womit sie den Klerus meinte, der mit der Verwaltung und Ausspendung der Eucharistie betraut ist und von ihr auch seine Würde bezieht.
Schuld an der Verweltlichung des Klerus ist die Eigenliebe, sie ist die Ursache jeglichen Übels. Caterinas Reformbemühungen zielten daher vor allem auf die Einsetzung tugendhafter und geeigneter Hirten. Hier aber sah sie in erster Linie den Papst gefordert. Denn „nur dazu“ wurde er bestellt und „mit solcher Würde ausgestattet“, andernfalls werde Gott selbst dies besorgen: „Er wird diese krummen Hölzer durch viele Heimsuchungen so lange strecken, bis er sie auf seine Weise geradegebogen hat“ (Brief 364). Wenn Caterina tadelte, galt dies stets der Person, aber niemals dem Amt. Ihre Kritik zerstörte nicht, sondern sie baute auf, sie war keine enthüllende Propaganda, sondern Aufforderung zum Guten. Immer jedoch schrieb sie das Versagen der Amtsträger ihrer eigenen Sündhaftigkeit zu mit der Bereitschaft, dafür jegliche Art von Buße auf sich zu nehmen.
Caterina nannte sich am Beginn ihrer Briefe stets „Dienerin und Magd (wörtl.: schiava – Sklavin) der Diener Jesu Christi“, d.h. der Priester, und sie schrieb allen in seinem kostbaren Blut. Das Blut Christi war für Caterina gleichsam der Brennpunkt, in dem das ganze göttliche Heilsgeheimnis sichtbar wird: die Wahrheit über den Menschen, seine Würde, die Schwere der Sünde, aber auch das Erbarmen Gottes und die am Kreuz sich verströmende Liebe des Erlösers. Denn Blut ist Liebe. Dieses Blut aber wurde der Kirche anvertraut, und der Papst als Kellermeister hat die Schlüssel dazu. Er ist beauftragt, „Diener einzusetzen, damit sie helfen, das Blut dem ganzen weltumfassenden Leib der Christenheit zuzuführen“ (Dialog 115). Da sich der Sohn Gottes bei seinem Eintritt in die Welt mit der Menschheit vermählte und am Kreuz für alle gestorben ist, hat sein Stellvertreter, der Papst, vor Gott auch eine Verantwortung für das Heil seiner Geschöpfe (Brief 218), d.h. für das Heil aller Seelen. Caterina nannte daher die Getauften die „rechtmäßigen“ Kinder des Papstes, während sie die „Nicht-Christen“ als seine „unehelichen Kinder“ bezeichnete, die es heimzuholen gelte in die Hürde des Herrn. Der von ihr ersehnte santo passaggio, die heilige Überfahrt zu den Ungläubigen in Verbindung mit dem zu erwartenden und ersehnten Martyrium, sollte dazu ihr missionarischer Beitrag sein. Zudem würden die Neubekehrten mit ihrem Glaubenseifer zu einem Sauerteig werden für die lauen Christen des Abendlandes (Brief 239 und 218).
Von den „drei wesentlichen Dingen“ (Brief 206) die sie damals in zahlreichen Briefen einforderte: Gregors Rückkehr nach Rom, eine Reform der Kirche und die Notwendigkeit eines Kreuzzuges, war nur das erste gelungen, denn statt der Reform kam das Schisma, und der Kreuzzug war in weite Ferne gerückt. Als sie in einer Vision sah, wie sich das Schiff der Kirche auf ihre Schultern senkte, war sie bereit, ihr Leben zu geben. Und Gott nahm es an, indem er ihr Herz über der Kirche zerdrückte. Wenige Wochen später, am 29. April 1380, starb sie, völlig abgezehrt und entkräftet und von den Dämonen furchtbar gequält und geschlagen aus Liebe zur Kirche.
In einem ihrer letzten Briefe berichtete Caterina, wie ihr ein Einblick in die Unergründlichkeit Gottes gewährt wurde und sie darin das Bild der Kirche erblickte, wie es ihr schon immer vor Augen stand: „In diesem Abgrund sah ich die Würde des Menschen, sein Elend, wenn er in die Todsünde fällt, und die Notwendigkeit der heiligen Kirche, die Gott meinem Herzen offenbarte. Und ich sah, dass niemand zu Gott zurückkehren kann, um seine Schönheit im Abgrund der Dreieinigkeit zu verkosten, ohne die Hilfe dieser süßen Braut. Denn wir alle müssen durch die Pforte des gekreuzigten Jesus Christus gehen, und diese Pforte steht nur in der heiligen Kirche. Ich sah, dass diese Braut Leben schenkte, da sie eine solche Lebensfülle besitzt, dass niemand sie töten kann, und dass sie Kraft und Licht spendet, und dass niemand sie in ihrem Wesen schwächen oder verdunkeln kann. Und ich sah, dass ihre Fruchtbarkeit nie geringer wird, sondern sich ständig vermehrt“ (Brief 371).
W. S. / Beitrag für das Informationsblatt der Priesterbruderschaft St. Petrus, August / September 2022
Anmerkungen:
1) Brief 177 an Kardinal Pietro Corsini nach Avignon, April 1376.