Gebet 7
Caterina erhielt nach ihrer Val d‘Orcia-Mission gegen Ende des Jahres 1377 von Papst Gregor XI. den Auftrag, als Friedensvermittlerin nach Florenz zu reisen, um den unseligen Konflikt zwischen dem Heiligen Stuhl und den Florentinern und ihren Verbündeten zu beenden. In den folgenden turbulenten Monaten ihres Aufenthaltes in der Arno-Metropole (Aufstand der Wollarbeiter, Ciompi) kam es zwar (ohne offensichtliche Bezugnahme auf ihre Bemühungen) zu Verhandlungen in Sarzana, aber sie blieben ohne konkretes Ergebnis, nachdem Gregor XI. Ende März 1378 unerwartet gestorben war. Unter seinem Nachfolger Urban VI. wurden die Gespräche erneut aufgenommen und am 28. Juli 1378 in Tivoli zum Abschluss gebracht. Nachdem nun der Friede wiederhergestellt war, konnte Caterina nach Siena zurückkehren, um dort ihr begonnenes Werk, den Dialog, zu Ende zu führen.
In Rom hatten sich inzwischen immer mehr Kardinäle von Papst Urban und seinen oft heftig eingeforderten Reformmaßnahmen abgewandt. Nachdem sie sich zuerst in Anagni und dann in Fondi versammelt hatten, wählten sie am 20. September 1378 einen Gegenpapst, der sich Clemens VII. nannte. Damit begann das große Abendländische Schisma, das die Kirche fast vierzig Jahre lang in zwei und zuletzt sogar in drei Lager aufspaltete. Papst Urban VI., der die Gefahr unterschätzt und erst viel zu spät (wenige Tage vor der Wahl des Gegenpapstes) ein neues Kardinalskollegium ernannt hatte, wandte sich in seiner Bedrängnis an Caterina und berief sie nach Rom.[1]
Caterina erreichte mit ihren Gefährten am 28. November die Heilige Stadt und blieb dort die folgenden eineinhalb Jahre bis zu ihrem Tod. Das durch Schisma und Unruhen verwüstete Rom bildet nun den Kontext für alle weiteren Gebete. Gleich im folgenden Gebet 7 konzentriert sich Caterinas Aufmerksamkeit daher gänzlich auf Papst Urban VI. und auf die von ihm erwählten neuen Kardinäle, die „neuen Pflanzen“, die sie fortan als wirksame Reforminstrumente in der Kirche sehen möchte. Die Notiz in einer Handschrift vermerkt, dass „die heilige Jungfrau dieses Gebet in Rom zur Zeit Urbans VI. am Tag des hl. Apostels Thomas verrichtet hat.“[2]
Für die neuen Kardinäle
Rom / 21. Dezember 1378, Fest des Hl. Apostels Thomas
Gottheit, Gottheit!
Ewige Gottheit, wahre Liebe!
Durch die Vereinigung
der Menschennatur Deines Wortes,
unseres Herrn Jesus Christus,
mit Deiner allmächtigen Gottheit,
hast Du uns, die wir verloren waren,
das Licht des heiligsten Glaubens geschenkt –
die Pupille im Auge unseres Verstandes,[3]
mit dem wir das wahre Ziel unserer Seele
sehen und erkennen:
Deine unergründbare Gottheit.[4]
Diesen Deinen Sohn hast Du Dir
für uns zu einem makellosen Opfer zubereitet
und ihn als Eckstein[5]
und als unerschütterliche feste Säule
der heiligen Mutter Kirche,[6]
Deiner einzigen Braut, eingesetzt.
Vor langer Zeit hast Du beschlossen,
Deine Kirche durch neue Pflanzen,
die mehr Frucht bringen, zu erneuern,
und von da an konnte niemand
Deinen heiligsten Willen durchkreuzen,
da er ewig und unveränderlich ist.[7]
Schau nicht auf unsere Sünden,
durch die ich mich unwürdig weiß, zu Dir zu beten.
Nimm heute in Deiner barmherzigsten Güte
diese Sünden von uns
kraft Deines heiligen Apostels Thomas!
Reinige meine Seele,
Du meine Liebe, höchster Gott,
und erhöre Deine Dienerin, die zu Dir ruft![8]
Du bist ein Feuer, das immer brennt.
Doch obgleich Du unablässig alles aufzehrst,
was die Seele außer Dir besitzt,
zerstörst Du nie die Dinge, welche Dir gefallen.
Verbrenne und vernichte
mit dem Feuer Deines Geistes[9]
jede fleischliche Liebe und Zuneigung
und rotte sie aus bis auf den Grund
in den Herzen der neuen Pflanzen,
die Du so gnädig eingesetzt hast,
in den mystischen Leib der heiligen Kirche![10]
Verpflanze sie aus der Liebe zu den weltlichen Dingen
in den Garten Deiner Liebe
und gib ihnen ein neues Herz
mit der wahren Kenntnis Deines Willens!
Bewirke, dass sie die Welt, sich selbst
und ihre Eigenliebe verachten.
Erfülle sie mit der wahren Glut Deiner Liebe
und mache sie zu eifrigen Verfechtern
für Glaube und Tugend.
Und wenn sie sich so
von den trügerischen Wünschen und Eitelkeiten
dieser vergänglichen Welt gelöst haben,
dann lasse sie Dir allein nachfolgen
in lautester Reinheit und glühender Liebe.
Und dann gib, Du Lenker unseres Heiles,
dass dieser neue Bräutigam der Kirche[11]
sich stets von Deinem Ratschluss leiten lasse.
Lass ihn nur solche aufnehmen,
anhören und begünstigen,
die eine reine und lautere Gesinnung haben.
Und was die anderen neuen Pflanzen betrifft,
so lasse sie – so wie die Engel vor Dir im Himmel stehen –
vor unserem Herren,
Deinem Stellvertreter auf Erden, stehen
für die Erneuerung dieser heiligen Mutter Kirche[12]
nach dem Vorbild Deines eigenen Herzens
mit schlichtem Herzen und vollkommenem Wirken.
Lasse sie sich als das sehen, was sie sind:
neu eingepflanzte [Schösslinge]
in den Leib unseres Herrn Jesus Christus,
von dem Du in Deiner wunderbaren Vorsehung,
ohne menschliche Mithilfe,
gewisse unfruchtbare und unnütze Zweige
weggeschnitten hast.[13]
Und so wie Jesus selbst, der jetzt gerade geboren wird,
an Alter und Tugend reifer wird,
so mögen sie nun,
da sie in derselben Kirche geboren wurden,
durch ihr Vorbild und ihre tugendhaften Taten
in gleicher Weise Früchte tragen.[14]
Neu eingepfropfte Zweige
bringen aufgrund der natürlichen Anlage,
die sie von Dir haben,
duftendere Blüten hervor und auch bessere Früchte.
Genau so sei es auch mit ihnen:
Wenn die Regungen allen fleischlichen Begehrens
von ihnen entfernt worden sind
durch Deine himmlische Gabe – [15]
jenen Tau des Heiligen Geistes,
mit dem Du die heiligen Apostel durchtränkt hast –,
dann pflanze ihnen neue Tugenden ein.
Dir sollen sie einen süßen Duft spenden[16]
und der heiligen Kirche
die Anmut tugendhafter Taten und fruchtbaren Wirkens,
damit in ihnen Deine Braut erneuert werde!
O ewige Liebe!
Läutere eigens Deinen Stellvertreter,
damit er dadurch den anderen
ein gutes Beispiel der Reinheit und Unschuld geben kann
und Dir bereitwillig vor Deinem Angesicht dient.
Möge er das ihm unterstellte Volk erziehen
und auch die Ungläubigen
mit himmlischen Lehren anlocken,
und so Deiner unergründlichen Majestät
die Früchte [ihres] ewigen Heiles darbieten![17]
Damit Du gnädig diese Anliegen erhörst,
o höchste Güte,
sage ich, armselig wie ich bin, Dir für all das Dank.
Amen.
[1] Vgl. Legenda Maior 333.
[2] Handschrift des Generalarchivs der Dominikaner in Rom (Ms. XIV. 24).
[3] Die mittelalterliche Physiologie sah die Pupille nicht als eine Öffnung, durch die das Licht eindringt, sondern als das Licht selbst, als das entscheidende Element im Auge, um sehen zu können. Dementsprechend ist dann in
der Bildersprache Caterinas auch für das „Sehen” mit dem inneren Auge des
Geistes eine „Pupille” erforderlich: nämlich der Glaube bzw. das Licht des heiligen Glaubens. Vgl. Dialog 45: „[…] sie erkennt Meine Wahrheit, wenn ihr Verstand – der das Auge der Seele ist – in Mir erleuchtet ist. Die Pupille dieses Auges ist der heiligste Glaube. Und dieses Glaubenslicht lässt sie den Weg und die Lehre Meiner Wahrheit, des fleischgewordenen Wortes, unterscheiden, erkennen und befolgen.“
[4] Vgl. Röm 1,20: „Denn was an ihm unsichtbar ist, wird am Schöpfungswerk der Welt in den erschaffenen Dingen geistig wahrgenommen: seine ewige Macht und Gottheit“ (Vulg.). Auch 1 Tim 6,16: Er, „den kein Mensch gesehen hat noch je zu sehen vermag“, wohnt „in unzugänglichem Licht“.
[5] Vermutlich eine Anspielung auf die Lesung zum Fest des hl. Apostels Thomas am 21. Dezember, Eph 2,20: „Ihr seid auf das Fundament der Apostel und Propheten gebaut; der Schlussstein ist Christus Jesus selbst.“ Vgl. auch Jes 28,16: „Seht her, ich lege einen Grundstein in Zion, einen harten und kostbaren Eckstein, ein Fundament, das sicher und fest ist.“
[6] Vgl. 1 Tim 3,15: „Die Kirche des lebendigen Gottes, die die Säule und das Fundament der Wahrheit ist.“
[7] Was dafür der Anlass war „vor langer Zeit“, bleibt offen. Mit den „neuen Pflanzen“ könnten (wie Barth Anm. 71 vermutet) neben den neuernannten Kardinälen auch jene Ordensleute gemeint sein, die auf Caterinas Wunsch und Drängen vom Papst als „heiliges Beratergremium“ nach Rom berufen wurden (vgl. Doku. XXI, 53–55; und Br. 326 und 327 vom 15. Dezember 1378).
[8] Vgl. Ps 141,1: „Herr, […] höre auf meine Stimme, wenn ich zu Dir rufe.“
[9] Vgl. Dialog 167: „Du bist das Feuer, das immer brennt und sich nie verzehrt; Du bist das Feuer, das in seiner Glut jede selbstsüchtige Liebe der Seele verzehrt und alle Kälte hinwegnimmt.“
[10] Caterina benutzt oft das Bild von den Pflanzen im Garten der Kirche, um es dann auf die Diener Gottes zu beziehen, vor allem aber auf die Hierarchie. Hier sind sicherlich die von Urban VI. im September 1378 ernannten Kardinäle gemeint – loyale Italiener, mit denen der Papst diejenigen ersetzte, die von ihm abgefallen waren.
[11] Papst Urban VI. war erst etwas über acht Monate im Amt. Caterina hatte früher an Papst Gregor geschrieben (Br. 252): „Ihr wisst wohl, Heiliger Vater, wenn Ihr die heilige Kirche zur Braut genommen habt, seid Ihr auch damit einverstanden, für sie hart zu arbeiten.“
[12] Hilarius Barth (Meditative Gebete, Anm. 73) vermutet hinter der wiederholten Bezeichnung der Kirche als „Mutter“ – ein Ausdruck, der bei Caterina selten vorkommt, da sie meist von der Kirche als „Braut“ spricht – eine persönliche Hinzufügung des Schreibers dieses Gebetes und denkt dabei an Tommaso Petra, der nicht nur Urban VI. als Sekretär diente, sondern auch mit Caterina eng befreundet war. Dabei wäre es denkbar, dass er an diesem Tag (möglicherweise sein Namenstag) Caterina um ein Gebetsgedenken bat.
[13] Eine Anspielung auf die schismatischen Kardinäle.
[14] Caterina spielt hier auf die Nähe des Weihnachtsfestes an. Dabei verbindet sie die Geburt des Jesuskindes mit der Neugeburt der Reformgruppe um Urban VI. und – im weiteren Verlauf des Gebetes – mit der Ausgießung des Heiligen Geistes über die Apostel an Pfingsten.
[15] Vgl. den Hymnus Veni Creator Spiritus, in dem der Heilige Geist angerufen wird als „donum Dei altissimi“, als „Gabe Gottes, des Allerhöchsten“.
[16] Vgl. Eph 5,2 (Vulg.): „Liebt einander, weil auch Christus uns geliebt und sich für uns hingegeben hat als Gabe und als Opfer zu einem lieblichen Wohlgeruch (in odorem suavitatis).“
[17] Gemeint sind die Muslime, deren Bekehrung, wie Caterina hoffte, zu erreichen wäre durch den geplanten Kreuzzug, für den sie sich bis zum Ende ihres Lebens eingesetzt hat.