Gebet 20
Weil sich Caterina vorzugsweise vom Geist der Liturgie der Kirche inspirieren ließ, nimmt Cavallini an, dass es sich hier um jenen Donnerstag in der Osterwoche handelt, an dem zur Zeit Caterinas das Evangelium von der Begegnung Maria Magdalenas mit dem Auferstandenen verlesen wurde.
Das Gebet ist inhaltlich zunächst noch erfüllt vom Licht der Osternacht mit ihrer eindrucksvollen Symbolik, ehe sich Caterina dann unvermittelt dem Gartenmotiv zuwendet, einem Bild, von dem sie immer wieder gerne Gebrauch machte.[2] Gott selbst ist jener „unvergleichliche ewige Garten“, der durch die Sünde für den Menschen verschlossen war. Aus diesem Garten wurde der Mensch „hervorgezogen“, um die „Blüte der Herrlichkeit und dann die Frucht der Tugend“ zu tragen, was jedoch durch die Sünde verhindert wurde. Christus aber hat uns durch seine Passion mit dem „Schlüssel der Gottheit“ in der „Hand der Menschheit“ diesen Garten wieder geöffnet. Das heißt, er „musste“ leiden, um so in seine Herrlichkeit und damit gleichsam „in sich selbst“ einzutreten.[3]
Christus, unsere Auferstehung
Osterwoche, 14. April 1379 / Rom. Über das genaue Datum dieses Gebetes gibt es unterschiedliche Auffassungen.[1]
unsere Auferstehung, o unsere Auferstehung![4]
O hohe und ewige Dreifaltigkeit,
nimm meine Seele aus meinem Leib![5]
O Erlöser und unsere Auferstehung!
O ewige Dreifaltigkeit!
O immer brennendes Feuer,
Feuer, das niemals erlischt,
das sich nie verringert noch jemals verringert werden kann,
selbst wenn die ganze Welt Feuer von Dir entnähme![6]
O Du lichtspendendes Licht,
in dessen Licht wir das Licht erschauen![7]
In Deinem Licht sehe ich, und ohne dieses Licht
könnte ich nichts sehen,
denn Du bist der, der IST, und ich bin die, die nicht ist.
In diesem Licht erkenne ich meine Not
und die Not Deiner Kirche und der ganzen Welt.
Und weil ich [dies alles] in Deinem Licht erkenne,
bitte ich Dich darum:
Nimm meine Seele aus meinem Leib
für das Heil der ganzen Welt!
Nicht, dass ich aus mir selbst
irgendeine Frucht bringen könnte –
aber ich kann es durch die Kraft Deiner Liebe,
die jegliches Gute zu erwirken vermag.[8]
Daher wirkt die Seele das Heil so in sich
und mit Gewinn für den Nächsten,
wie Deine Gottheit, hohe und ewige Dreifaltigkeit,
in unserem Menschsein gewirkt hat –
indem sie unsere menschliche Natur
als Werkzeug benutzte.
Durch einen endlichen Akt
hat Deine Gottheit mittels unserer Menschheit
einen unendlichen Gewinn für uns erwirkt,
und zwar nicht durch die Kraft des Menschseins,
sondern kraft Deiner Gottheit.[9]
In dieser Kraft, o ewige Dreieinigkeit,
sind eindeutig alle Dinge, die am Sein teilhaben,
geschaffen worden,
und jede geistliche und zeitliche Fähigkeit,
die wir besitzen, kommt von Dir.[10]
Und es ist wahrhaft Dein Wille, dass wir damit wirken
und dabei unseren freien Willen gebrauchen.[11]
O ewige Dreifaltigkeit, o ewige Dreifaltigkeit!
In Deinem Licht erkennen wir,
dass Du dieser einzigartige und ewige Garten bist,
der Blumen und Früchte in sich umschließt,[12]
und Du Dir selbst jene herrliche Blüte bist,
die Dir Ehre erweist und Dir Frucht einbringt –
von keinem anderen kannst Du dies entgegennehmen.
Denn könntest Du es noch von jemand empfangen,
so würde es scheinen,
als wärest Du nicht der ewige, allmächtige Gott,
da jeder, der Dir dies erweisen wollte,
damit den Eindruck erweckte,
nicht wirklich aus Dir entstanden zu sein.
Aber, wie schon gesagt,
bist Du Dir selbst die Ehre und Frucht,
weil alle Ehre und Früchte, die Deine Geschöpfe Dir bieten, von Dir stammen.
Von Dir empfangen wir sie –
deshalb können wir sie Dir zurückerstatten.[13]
Wir waren eingeschlossen, im Garten deines Herzens,[14]
o ewiger Vater:
Du hast uns aus Deinem heiligen Inneren
wie eine Blume hervorgezogen[15]
mit den drei Kräften unserer Seele.
Und in jede einzelne dieser Fähigkeiten
hast du den Keim hineingelegt,
damit sie in Deinem Garten Früchte tragen
und mit den Früchten, die Du ihnen gegeben hast,
zu Dir zurückkehren könnten.
Und auch Du würdest in die Seele zurückkehren,
um sie mit Deiner Seligkeit zu erfüllen;[16]
in dieser Glückseligkeit wohnt dann die Seele –
wie die Fische im Meer
und das Meer in den Fischen.[17]
Du hast uns das Gedächtnis verliehen,
damit wir Deine Wohltaten festhalten
und so Deinem Namen die Blüte der Ehre
und für uns selbst
die Frucht des Nutzens hervorbringen könnten.
Du hast uns auch den Verstand gegeben,
um Deine Wahrheit zu verstehen,
und Deinen Willen, der nur unsere Heiligung möchte
und der will, dass zuerst die Blüte der Ehre ersprießt
und danach die Frucht der Tugenden.
Und Du hast uns unseren Willen gegeben,
damit wir lieben können, was unser Verstand gesehen
und was unser Gedächtnis festgehalten hat.
Und wenn ich in Dich blicke,
o ewige Dreifaltigkeit, Du Licht, so sehe ich,
dass wir durch unsere begangene Schuld
diese Blüte der Gnade verloren haben.
Seitdem waren wir weder geneigt noch in der Lage,
Dir Ruhm und Ehre zu erweisen
und Dich auf jene Weise
und zu jenem Endziel zu verherrlichen,
für das Du uns erschaffen hast.
Daher bist Du also der Sünde wegen
nicht so in Deine Herrlichkeit eingegangen,
wie Deine Wahrheit es beabsichtigte.[18]
Dein Garten war verschlossen,
und so konnten wir Deine Früchte nicht empfangen.
Deshalb hast Du das Wort, Deinen eingeborenen Sohn,
zum Pförtner gemacht.
Du hast ihm den Schlüssel der Gottheit gegeben,[19]
und die Menschheit war seine Hand.
Du hast diese beiden vereint,
um das Tor Deiner Gnade zu öffnen,
denn die Gottheit konnte es nicht öffnen
ohne die Menschheit,
die es durch die Sünde Adams[20] verschlossen hatte,
noch konnte es das einfache Menschsein ohne die Gottheit.
Denn ein bloß menschlicher Akt wäre endlich gewesen,
der Verstoß aber war begangen worden
gegen das unendliche Gut,
und die Strafe musste direkt aus der Schuld entspringen.
Daher gab es keinen anderen ausreichenden Weg.[21]
O süßer Pförtner, o demütiges Lamm!
Du bist der Gärtner,
der das Tor des himmlischen Gartens geöffnet hat –
das Paradies.
Du reichst uns die Blüten und Früchte
der ewigen Gottheit.
Nun weiß ich gewiss, dass Du die Wahrheit gesagt hast,
als Du in der Gestalt eines Fremdlings
Deinen beiden Jüngern auf dem Weg erschienen bist.
Du hast gesagt, dass Christus auf diese Art hätte leiden
und auf dem Weg des Kreuzes
in seine Herrlichkeit eingehen müssen.[22]
Und Du hast ihnen gezeigt,
dass es von Mose, Elija, Jesaja, David
und den anderen,
die von Dir geweissagt hatten,
so prophezeit worden war.[23]
Du hast ihnen die Schriften erklärt,
sie aber haben es nicht verstanden,
weil ihre Gedanken verdunkelt waren,
aber Du selbst hast Dich verstanden.
Was war denn Deine Herrlichkeit, o süßes liebevolles Wort?
Du selbst –
und Du musstest leiden,
um so in Dich selbst einzugehen!
Amen.
[1] Hilarius Barth übernimmt die Datierung von der Rubrik, wie sie in der lateinischen Druckausgabe des Bernardino Misinta 1496 in Brescia aufscheinen: Rom, Donnerstag, 5. April. Weil der 5. April 1379 auf den Dienstag in der Karwoche fiel, der Inhalt des Gebetes aber in die Osterzeit weist, vermutet Barth, dass es sich um das darauffolgende Jahr 1380 handelt, wo der 5. April der Donnerstag nach dem „Weißen Sonntag“ war.
[2] Besonders als Bild für die Kirche, aber auch für die Seele des Menschen oder für die einzelnen Ordensgemeinschaften.
[3] Vgl. die Belehrung der Emmaus-Jünger durch Christus (Lk 24,26).
[4] Joh 11,25: „Ich bin die Auferstehung und das Leben.“
[5] Vgl. Dialog 124: „O ewiger Vater, nimm meinem Leib die Seele […].“
[6] Vgl. Dialog 110: „Wenn du eine brennendes Lampe hättest und die ganze Welt käme, um sich daran ein Licht anzuzünden, dann würde dadurch das Licht deiner Lampe nicht weniger, und doch besäße jeder das Licht ganz.“
[7] Ps 36,10: „Denn bei dir ist die Quelle des Lebens, in deinem Licht schauen wir das Licht.“
[8] Vgl. Dialog 3–6.
[9] Thomas von Aquin, Summ. theol. III, q. 48, a. 6: „Das Wirkende ist zweifach: das Hauptwirkende und das werkzeuglich Wirkende. Das Hauptwirkende des menschlichen Heiles nämlich ist Gott. Weil aber die Menschheit Christi Werkzeug der Gottheit ist [Johannes von Damaskus], wirken folgerichtig alle Tätigkeiten und Leiden Christi in der Kraft der Gottheit werkzeuglich auf das menschliche Heil hin. Demnach verursacht das Leiden Christi wirkursächlich das menschliche Heil.“
[10] Vgl. Hebr 1,3: „Er trägt das All durch sein machtvolles Wort.“
[11] Vgl. Gen 2,15: „Gott, der Herr, nahm also den Menschen und setzte ihn in den Garten von Eden, damit er ihn bebaue und behüte.“
[12] Das ist die einzige Stelle in Caterinas Schriften, wo Gott als Garten bezeichnet wird, als Paradies, als der ersehnte Lebensbereich des Menschen. Vgl. Hld 4,12: „Ein verschlossener Garten ist meine Schwester Braut […].“
[13] 1Kor 4,7: „Was hast du, das du nicht empfangen hättest? Wenn du es aber empfangen hast, warum rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen?“
[14] Wörtl.: seno – Schoß.
[15] Das schöne Bild für die Erschaffung des Menschen, dass Gott uns aus seinem Innersten heraus- bzw. hervorgezogen hat, findet sich auch in Gebet 1+2, 4, 13 und in den Briefen 95, 108, 138, 227, 246 und 281.
[16] Vgl. Dialog 51: „Es ist wahr: Wenn die Seele mit der Hand der freien Entscheidung alle ihre Kräfte in Meinem Namen versammelt, wie Ich es dir erklärt habe, dann sind alle geistlichen oder weltlichen Handlungen eines Menschen damit verbunden […] und dann werde Ich durch Gnade in ihrer Mitte wohnen.“
[17] Vgl. Dialog 2, wo sich das Bild auf die Vereinigung in der heiligen Kommunion bezieht.
[18] Vgl. Lk 24,26: „Musste nicht der Messias all das erleiden, um so in seine Herrlichkeit zu gelangen?“
[19] Caterina spricht zumeist vom Schlüssel des Blutes oder vom Schlüssel des Gehorsams, mit dem Christus uns den Himmel geöffnet hat, aber nirgends sonst vom Schlüssel der Gottheit.
[20] Wörtl.: des ersten Menschen.
[21] Vgl. Thomas von Aquin, Summ. theol. III, q. 1, a. 2.
[22] Lk 24,13-35.
[23] Lk 24,44: „Dann sprach er zu ihnen: Das sind die Worte, die ich zu euch gesagt habe, als ich noch bei euch war: Alles muss in Erfüllung gehen, was im Gesetz des Mose, bei den Propheten und in den Psalmen über mich gesagt ist.“ Caterina vermengt hier offensichtlich verschiedene Evangelien Teile – was bei ihr durchaus nicht unüblich ist.