Einleitung
Die heilige Caterina von Siena ist in ihrer Bedeutung als Lehrerin der Kirche, als Patronin Europas und „Mystikerin des Apostolates“[1] nur zu verstehen, wenn man sich auch ihre tiefe Christus-Verbundenheit vor Augen hält und ihren beständigen Dialog mit dem dreifaltigen Gott.[2]
Bereits als Kind wurde ihr eine erste Begegnung mit der Welt des Übernatürlichen zuteil.[3] Nach ihrer Aufnahme bei den Bußschwestern des hl. Dominikus (den Mantellatinnen) folgten Jahre der Abgeschiedenheit in ihrer kleinen Kammer des Elternhauses und eine zunehmende Vertrautheit mit den Geheimnissen Gottes, wobei Christus selbst ihr persönlicher Lehrer war.[4] Auch während ihres späteren öffentlichen Wirkens im Dienst der Kirche und des Friedens setzte sich dieser lebendige Austausch mit Gott unvermindert fort. Dabei verbanden sich Gebet und Apostolat, mystisches Erleben und politisches Engagement zu einer Einheit, die für ihre Persönlichkeit charakteristisch werden sollte und sich auch in ihren Werken widerspiegelt.
Caterinas Gebetsgewohnheiten waren vielfältig und unabhängig von Ort und Zeit: früh morgens, nachts, in der Kirche, zu Hause, unterwegs, im Garten, jubelnd, unter Tränen, kniend oder ausgestreckt am Boden liegend im Zustand völliger Entrückung … Es war jedoch ein Beten, das sich nicht bloß in der Stille ihrer Seele vollzog, sondern oft auch deutlich vernehmbar geschah, etwa wenn sie nach der heiligen Messe am Morgen in Ekstase fiel oder wenn sie eine Tätigkeit spontan unterbrach, um sich sozusagen mit Gott „zu beraten“. Eine Reihe dieser Gebete wurden von ihren Schülern, die als ihre Sekretäre fungierten, aufgezeichnet und gesammelt, so dass wir heute davon Kenntnis haben: Einige finden sich in Raimunds Caterina-Biographie und auch im Ergänzungs-Werk des Tommaso Caffarini;[5] zahlreiche Gebete sind in Caterinas Briefen enthalten, und wieder andere finden sich in dem von ihr diktierten Buch, dem Dialog, am Ende der meisten Abschnitte in Form einer langen Danksagung.
Darüber hinaus gibt es aber auch noch Gebete, die nicht im Zusammenhang eines von ihr geführten Diktates, sondern (mit oder ohne ihr Wissen) als persönliche Mitschriften ihrer Schüler entstanden sind, wenn Caterina in Ekstase fiel und halblaut zu Gott zu sprechen begann.[6] Diese insgesamt 26 Gebete, die größtenteils während der letzten 16 Monate ihres Lebens in Rom entstanden sind, bilden den Inhalt dieses hier vorliegenden Bandes. Aufgrund der besonderen Art ihrer Entstehung hat man sie sehr bald als eigenständigen Teil verstanden und neben den Briefen und dem Dialog als drittes ihrer Werke zu sammeln und zu verbreiten begonnen.[7]
Acht Handschriften sind uns noch erhalten, in denen diese Gebete sowohl auf Italienisch als auch in lateinischer Sprache aufgeführt sind[8] (mit Ausnahme von sieben Gebeten, von denen nur eine lateinische Version überliefert ist). Nach der Erfindung des Buchdrucks hatte der venezianische Verleger Aldo Manuzio den Dominikaner Bartolomeo da Alzano damit beauftragt, die Texte Caterinas für eine Druckvorlage zusammenzutragen. Im Jahre 1500 wurden dann erstmals alle 25 Gebete[9] und 325 ihrer Briefe auf Italienisch herausgegeben. Welchen Handschriften die Gebete entnommen worden waren, ist nicht mehr zu rekonstruieren.[10] Ungeklärt bleibt auch die Frage, wie Caterinas Worte ursprünglich von ihren Sekretären aufgezeichnet wurden, während sie in ihrer Sieneser Mundart betete: Geschah dies ebenfalls auf Italienisch oder simultan auf Latein oder unmittelbar danach bei der Reinschrift?[11] Oder kamen die lateinischen Texte vielleicht überhaupt erst beim Kopieren der Handschriften zustande?[12] Und könnte es sich bei den italienischen Versionen einzelner Gebete nicht auch um eine spätere Rückübersetzung der lateinischen Original-Mitschriften handeln? Es wäre denkbar. Aber Tatsache ist auch, dass die Gebete von denselben Sekretären aufgezeichnet wurden, die weniger als ein Jahr zuvor das Diktat des Dialogs in Caterinas Muttersprache mitgeschrieben haben,[13] sodass es naheliegend scheint, ähnliches beim Entstehen der Gebete anzunehmen. Dann aber gebührte der italienischen Version der Vorrang, weil hier die Worte so wiedergegeben sind, wie sie aus dem Munde Caterinas zu vernehmen waren.
Caterinas Werke sind keine leichte Lektüre, und sie eignen sich daher auch nicht für ein rasches und schnelles Überlesen. Das gilt zwar für alle ihre Schriften, besonders aber für diese 26 Gebete. Wer sie zum ersten Mal zur Hand nimmt, steht vermutlich vor einer doppelten Hürde: Zum einen vor ihrer bilderreichen Sprachgestalt und zum andern vor ihrer theologischen Dichte. Beides ist für heutige Leser eher ungewohnt. Als sich der Konzilstheologe und spätere Kardinal P. Yves Congar O.P. erstmals damit befasste, war er, wie er in einem Vortrag bekannte,[14] über den „unglaublich dogmatischen“ Stil dieser Gebete zunächst etwas verwirrt. Dann aber habe er sich an den Beginn des Epheser-Briefes des hl. Paulus erinnert und daran, dass die Theologie, die heilige Lehre von Gott, sich letztlich in Lobpreis verwandeln müsse – in Feuer und leidenschaftliche Glut, wie es eben bei der hl. Caterina geschieht.
Die Gebete sind in der Tat wie eine lebendige Dogmatik, wie eine ins Gebet gebrachte Glaubenslehre. Caterinas Schüler von damals erblickten darin unverkennbar die Handschrift und das Wirken des Heiligen Geistes.[15] Frei von jeglicher Sentimentalität oder verdächtiger Frömmigkeit nähren sich diese Gebete – von der Vision der Mysterien Gottes, wie sie Caterina selbst zuteil wurde, einmal abgesehen – zuallererst aus den Quellen der Heiligen Schrift und der Liturgie, vornehmlich aus jener des jeweiligen Tages, an dem das Gebet entstanden ist, und aus verschiedenen Gedanken der heiligen Kirchenlehrer Augustinus und Thomas von Aquin.
Caterina betrachtet in ihrer ekstatischen Schau die Größe und Herrlichkeit des dreifaltigen Gottes und erkennt dabei zugleich ihr eigenes Nichts. Sie sieht die Liebe, die den Schöpfer „gezwungen“ hat, den Menschen aus sich hervorzuziehen „wie eine Blume“ (Gebet 20) und ihn, damit die ganze Trinität ihre Zustimmung geben könnte, nach Seinem Bild und Gleichnis zu erschaffen (Gebet 1). Und sie sieht dieses Bild in den drei Kräften der Seele eingeprägt, im Gedächtnis, um sich der Gaben und Wohltaten Gottes zu erinnern, im Verstand, um Gott zu erkennen, und im Willen, um Ihn dafür dankbar zu lieben und zu preisen (Gebet 1). Doch da der Mensch durch den Ungehorsam Adams sein Ziel, für das er geschaffen war, nicht erreichen konnte, weil die Sünde diese Wahrheit verdunkelte, wurde der Sohn des ewigen Vaters gesandt als Erlöser und als das Licht der Welt, um die Wahrheit in uns zur Erfüllung zu bringen (Gebet 13 und 18). In diesem Licht schaut sie nun das Unfassbare: Sie sieht, wie Gott sich im Schoß Mariens mit der Menschheit vereint und dann wie ein pazzo d‘amore, wie ein Liebesnarr (Gebet 10), zum schändlichen Tod am Kreuz eilt, um uns, die fruchtlosen „Todesbäume“, wieder zu „Bäumen des Lebens“ zu machen (vgl. Gebet 17), und wie sich Gott selbst dem Menschen zur Nahrung schenkt und zugleich „Tisch“, „Speise“ und „Diener“ ist (vgl. Gebet 12). Und sie sieht, wie als bleibendes Mittel dazu im Blut des Sohnes die Kirche entsteht, der „Garten Gottes“ (Gebet 9), und wie Er den Papst als Wächter einsetzt und ihm die Priester als Diener der Kirche zur Seite stellt.
In der Schau dieser allerbarmenden Güte sieht sie aber auch die Nöte der Welt und das Drama der Kirche, die in der Sünde des Menschen ihren Ursprung haben. Caterina selbst fühlt sich mitverantwortlich und beklagt daher vor Gott ihr Versagen: „Ich habe gegen den Herrn gesündigt, erbarme Dich meiner!“ Dieses Bekenntnis fehlt in keinem ihrer Gebete. Und dann fleht sie zu Gott, sie dafür zu strafen (in einer Weise, die uns erschauern lässt): „Lass meine Knochen bis aufs Mark zermalmt werden für Deinen Stellvertreter auf Erden, den einzigen Bräutigam Deiner Braut. Für ihn bitte ich Dich, erhöre mich!“(Gebet 1). Ihre Bitten umfassen alle und alles: die Rettung der Seelen, die Bekehrung der Sünder und das Heil der Welt; vor allem aber die heilige Kirche. Sie fleht für deren Einheit, für den Papst und die Priester, sie fleht für die Kardinäle, sie betet für den, der ihr an diesem Tag die Lossprechung gegeben hat, der ihr am Morgen die heilige Kommunion reichte und immer wieder für jene, die Gott ihr eigens anvertraut hat, um für sie zu sorgen und sie „mit einer besonderen Liebe zu lieben“ (Gebet 11).
Damit waren ihre zahlreichen Schüler gemeint und die Mitglieder ihrer „geistlichen Familie“. Caterina hatte sie nicht nur Gott anempfohlen, sondern sie in all den Jahren auch über das rechte Beten belehrt: Über die Notwendigkeit des Gebetes bestehe kein Zweifel, da die Menschen es Gott und dem Nächsten schulden. Auch hätten sie überall Gelegenheit dazu, „weil sie den Ort ihres Gebetes, wo Gott aus Gnade wohnt“[16], beständig mit sich trügen, nämlich das Haus ihrer Seele. Das Gebet verbinde die Seele mit Gott.[17] Wie eine „Mutter“ würde es die Tugenden „nähren“[18] und in den Menschen Glaube, Hoffnung und Liebe stärken. Ohne Gebet blieben sie kraftlos und schwach; daher versuche der Teufel, sie am Beten zu hindern, wo und wie er nur kann, denn „das Gebet ist die Waffe, die ihn besiegt.“[19] Wenn Caterina über das Gebet sprach, ging es ihr nie um irgendwelche speziellen Methoden. Denn so wie ihr eigenes Beten viele Formen annehmen konnte, gestand sie dies auch anderen zu. Ein Gebet sollte nur demütig und beharrlich sein und gläubig, das heißt vertrauensvoll. Demütig sollte es sein, im Bewusstsein der eigenen Armut und Sündhaftigkeit, vertrauensvoll aus dem Glauben an Gottes Macht und Weisheit und ausdauernd gegen alle Widerstände, die uns von innen und außen bedrängen.[20]
In einem ihrer letzten Briefe hatte Caterina geschrieben: „Ich weiß, dass Gottes unendliche Güte nichts verweigert, was in demütig-beharrlichem und gläubigem Gebet erfleht wird, sofern es ein rechtes Beten ist.“[21] Drei Monate später kam Caterina vor ihren Schülern, die in Rom um ihr Krankenlager versammelt waren, in einer Unterweisung noch einmal darauf zu sprechen.[22] Dabei äußerte sie, dass wer immer den Wunsch habe, sein Leben Gott ganz zu schenken, zuerst sein Herz von aller irdischen Anhänglichkeit frei machen müsse. Dies aber, so sagte sie weiter, sei nur möglich durch demütiges und ausdauerndes Gebet – und zwar nicht nur durch das mündliche, mit Worten zu den dafür vorgesehenen Gebetszeiten, sondern vor allem durch das innere Gebet, das immer geübt werden könne und um das sie sich ein Leben lang bemüht habe.[23]
Ihrer Nichte Sr. Eugenia hatte Caterina einmal ausführlich dargelegt, dass dieses geistige oder innere Gebet nur zu erreichen sei, wenn wir auch bereit wären, mit Sorgfalt und Demut das mündliche Gebet zu pflegen, das heißt, „wenn wir nicht nur mit unserer Zunge beten, sondern auch mit unserem Herzen bei Gott sind“.[24] Und wenn wir innerlich „irgendwie dazu gedrängt werden, an unseren Schöpfer zu denken, dann sollten wir das mündliche Gebet unterbrechen und unseren Sinn voll Liebe darauf richten, was Gott uns zeigt. Und wenn dann dieser Besuch vorbei ist und wir noch Zeit haben, sollten wir das mündliche Gebet wieder aufnehmen.“[25]
Neben diesen einfachen und praktischen Ratschlägen erinnert Caterina in ihren Schriften gleichwohl auch daran, dass es für einen wahren Fortschritt im geistlichen Leben und ebenso im Gebet noch weitere Punkte gibt, die unumgänglich sind: einer davon ist unsere Beziehung zur heiligen Menschheit des Erlösers, zum gekreuzigten Christus, und ein anderer unsere Antwort auf dieses Erbarmen, indem wir unser ganzes Tun und Bemühen auf die Ehre Gottes richten und Mitsorge tragen für das Heil des Nächsten.
Zeugnisse aus dem Kreis ihrer „geistlicher Familie“
Thomas von Siena, Caffarini:[26] „Seit langem hatte [Caterina] die regelmäßige Gewohnheit, sich immer zur Abendstunde so sehr in Gott zu versenken, dass wie durch einen Zwang ihr Geist bis zu dem Grade entrückt wurde, dass die Tätigkeit der Sinne in einem Zeitraum von sechs Stunden aufgehoben wurde. In dieser Erhebung ihres Geistes pflegte sie öfters so andächtige und feurige Worte zu sprechen, dass die Zuhörer wiederholt voll Gottergebenheit in süße Tränen ausbrachen. Was sie nämlich im Inneren erfuhr und verkostete, ließ sie mit ihrer leiblichen Zunge nach außen verlauten.“[27]
„[Ich erfuhr zudem auch], dass die Jungfrau ihre Nachtwachen bis in den Morgen ausdehnte, indem sie ihrer Gewohnheit nach vornehmlich über das Leben Christi und über die evangelischen Wahrheiten, in denen sie ganz besonders von ihrem Bräutigam unterwiesen wurde, meditierte; auch indem sie Gott selbst lobte und für viele betete. […] Vor allem flehte sie den Herrn an für die Brüder aus dem Predigerorden des heiligen Dominikus […]. Wenn diese Brüder sich zur Matutin erhoben, pflegte sie für kurze Zeit sich zur Ruhe zu begeben, indem sie zum Herrn sagte: Bis jetzt, o Herr, haben meine Brüder geruht, und ich habe für sie gebetet und mich ganz Deinem Lob hingegeben; jetzt aber erheben sie sich zu Deinem Lob und zum Gebet, und so kann ich mich nun ein wenig auf meinem Lager ausruhen. Mehrmals habe ich auch bemerkt, dass die Jungfrau in ihre Gebete ab und zu die Worte einfügte: Ich habe gesündigt, Herr, erbarme Dich meiner! Am Ende ihrer Gebete kreuzte sie regelmäßig ihre Arme, senkte das Haupt und schickte demütig die genannten Worte zum Herrn empor.“[28]
Stefano Maconi[29]: „Wenn Caterina bisweilen gezwungen war, von Ereignissen dieser Welt oder von Dingen zu hören, die für das ewige Heil des Menschen unnütz sind, fiel sie sogleich in Ekstase und ihr Leib verharrte so ohne jede sinnliche Empfindung. Auf solche Weise wurde sie während ihrer Gebete täglich entrückt, wie wir es selbst hundert- oder tausendmal gesehen haben. Dabei blieben ihre Glieder oft so starr und steif, dass man eher ihre Knochen hätte brechen können, als dass man in der Lage gewesen wäre, ihre Glieder zu bewegen. […] Vor allem wenn ihr Geist sich erhabenen Dingen hingab und sich mit größerer Inbrunst im Gebet versenkte oder mit stärkerem Drang nach oben gerichtet war, überwand sie sogar die Erdenschwere des Leibes, und so wurde sie oftmals von vielen Menschen gesehen, wie sie sich im Gebet von der Erde löste und frei in der Luft schwebte. Einer dieser Zeugen bin auch ich, und ich war darüber aufs höchste verwundert.“[30]
Bartolomeo Dominici[31]: „Nach Empfang der Hostie wurde ihr Geist zu Gott entrückt, so dass sie sofort den Gebrauch der äußeren Sinne verlor und die Glieder ihres Körpers derart erstarrten, dass man sie eher hätte brechen als beugen können. So verharrte sie jeden Tag drei Stunden und länger völlig entrückt und empfindungslos. Oftmals wenn sie in einer solchen Ekstase versunken war, sprach sie mit Gott und brachte mit deutlicher Stimme ihre tiefen und frommen Anliegen vor. Fast immer waren Leute anwesend, und alle wurden zu kindlichen und frommen Tränen gerührt, wenn sie diese Worte hörten. Die Gebete sind zu einem großen Teil Wort für Wort schriftlich aufgezeichnet worden: Einige habe ich, die größere Anzahl jedoch haben andere niedergeschrieben, wenn sie, wie erwähnt, mit klarer und deutlich vernehmbarer Stimme betete.
Der Kürze wegen unterlasse ich es, von der gedanklichen Tiefe dieser Gebete zu sprechen. Jedenfalls zeigen ihre Äußerungen und der Sinn dieser Gebete, dass es keineswegs Worte einer ungebildeten Frau waren, sondern die Lehre und die Gedanken eines großen Gelehrten. Und so war es in der Tat, denn nicht sie war es, die sprach, sondern der Heilige Geist, der durch sie redete, wie es für jeden Frommen klar ersichtlich ist, wenn er diese Gebete liest.“[32]
Bartolomeo Dominici berichtet weiter, wie Gott selbst sie über das rechte Beten belehrte:
„Beim Lesen oder beim lauten Beten solle sie nicht darauf achten, viel zu lesen oder zu beten, sondern sie müsse jedes einzelne Wort genau betrachten, und wenn sie ein Wort gefunden hätte, das ihr Herz besonders erfreut, solle sie in ihrer Betrachtung so lange darin verharren, als ihr Herz Freude daran genieße. Auf diese Weise gelangte sie so vollkommen zu einem inneren Gebet, dass sie kein einziges Vaterunser sprechen konnte, ohne sogleich im Geist entrückt zu werden. […] Ihr Herz begann so sehr im Gebet zu versinken, dass ihr alle Sinne schwanden und sie gänzlich unempfindlich blieb. Wenn sie durch eine solche Ekstase entrückt wurde, erstarrten allmählich ihre Glieder vollständig und konnten nicht mehr gebeugt werden; eher wären sie gebrochen.“[33]
Raimund von Capua[34]: Nachdem sich Caterina von Gott die Gnade des Lesens erbeten hatte: „Von nun an begann sie sich die Bücher zu verschaffen, die das heilige Offizium zum Inhalt haben. In ihnen las sie Psalmen, Hymnen und die anderen im Stundengebet vorgeschriebenen Texte. Neben anderen Worten, die sie damals sprach, war ihr besonders eines lieb geworden, das sie bis zu ihrem Tod begleitete; es war der Psalmvers, mit dem jedes Stundengebet beginnt: O Gott, komm mir zu Hilfe. Herr, eile mir zu helfen. Diesen Vers sprach sie in ihrer Muttersprache immer wieder. Als sich schließlich ihre Seele immer vollkommener in die Meditation versenkte, traten allmählich die in Worte gefassten Gebete zurück; schließlich kam es durch die so zahlreichen Entrückungen des Geistes dahin, dass sie kaum das Vaterunser mit Worten einmal zu Ende beten konnte, ohne dass ihre Seele der äußeren Sinne beraubt wurde.“[35]
Würdigung durch die Kirche
Papst Paul VI. (1963–1978): „Von ihrem Sterbebett aus richtete sie in der schmalen Zelle bei der Kirche S. Maria sopra Minerva in Rom, umgeben von ihren getreuen Jüngern, an den Herrn dieses ergreifende Gebet, das wie ein Testament ihres Glaubens und ihrer dankbaren, treuen Kirchenliebe klingt: O ewiger Gott, empfange das Opfer meines Lebens für den mystischen Leib Deiner heiligen Kirche. Ich habe nichts anderes zu geben als das, was Du selbst mir gegeben hast. So nimm mein Herz denn hin und presse es aus über das Antlitz Deiner Braut! (Brief 371). Die Botschaft also eines ganz lauteren Glaubens, einer demütigen und großmütigen Hingabe an die katholische Kirche, diesen mystischen Leib und diese Braut des göttlichen Erlösers, das ist die typische Botschaft der neuen Kirchenlehrerin Caterina von Siena, die ein leuchtendes Beispiel für alle ist, die sich rühmen, zu dieser Kirche zu gehören.“[36]
Johannes Paul II. (1978–2005): „[…] Schließlich gibt es noch die Gebete, die man in den letzten Lebensjahren von ihren Lippen erntete, als die Heilige ihre Seele und ihre Sehnsucht im unmittelbaren Sprechen mit dem Herrn ausgoss. Es sind echte Improvisationen, die spontan aufsteigen aus dem in göttliches Licht getauchten Geist und aus dem Herzen, das Schmerz empfindet über das Elend der Menschen. Gebete ohne Banalität in den Begriffen oder Bitten, vielmehr in leidenschaftlichem und vertrauensvollem Ton und mit Ausdrücken, die oft kühn, aber absolut rechtgläubig sind.“[37]
Der vorliegenden Übersetzung der Gebete liegt die kritische Edition Cavallinis von 1978 zugrunde.[38] Die Nummerierung der Gebete entspricht der chronologischen Reihung der englischen Noffke-Ausgabe. Auch Cavallini hat sich in einer späteren Veröffentlichung (Siena 1993) dieser Ordnung angeschlossen.[39] Um die inhaltliche und visuelle Dichte der Gebete für ein betrachtendes Lesen zu erleichtern, wurde versucht, die Texte in Anlehnung an die Formgebung in den liturgischen Büchern syntaktisch aufzugliedern. Die Überschriften der Gebete stammen von Cavallini und zum Teil vom Herausgeber.
Werner Schmid
Kleinhain, am 29. April 2019
[1] So der Titel der Biographie von Jacques Leclercq: Die Mystikerin des Apostolates, St. Katharina von Siena, die Römisch-Katholische Heilige, Vechta 1929.
[2] Ein Ausdruck dafür ist Caterinas spirituelles Hauptwerk, das sie selbst zwar nur ihr „Buch“ nannte, allgemein aber unter dem Titel: Dialog bzw. Gespräch mit Gott über seine Vorsehung bekannt wurde. Die Ernennung zur Kirchenlehrerin erfolgte 1970 durch Papst Paul VI. und zur Patronin Europas im Jahre 1999 durch Papst Johannes Paul II.
[3] Vgl. Legenda Maior 29–32.
[4] Ebd. 84 und 92.
[5] Raimund von Capua hat in der Legenda Maior verschiedene Gebete (aus der Erinnerung oder aus tatsächlichen Notizen) wiedergegeben, während Tommaso Caffarini vor allem aus schriftlichen Quellen, etwa den Miracula, geschöpft hat (vgl. Supplementum II, 3). In jüngster Zeit gab es Versuche, Caterinas Gebete aus dem Kontext ihrer Entstehung herauszulösen und als Ganzes zu veröffentlichen. Vgl. Tutte le preghiere di S. Caterina da Siena, Dottore della Chiesa, von einem anonymen „Cateriniano“, Rom 1971; Meditative Gebete, ed. Hilarius M. Barth O.P., Einsiedeln 1981; Le preghiere di Santa Caterina da Siena, ed. Angelo Belloni, Roma 2011.
[6] Vgl. die Aussagen ihrer Schüler am Schluss dieser Einleitung.
[7] Tommaso Caffarini spricht von 22 Gebeten und erwähnt außerdem, dass er 24 gesammelt hatte, sie auch kopieren und weiterverbreiten ließ und dass ihm Stefano Maconi brieflich über eine Sammlung der Gebete berichtet habe (vgl. Prozess, S. 144).
[8] Davon befinden sich je eine Handschrift in Rom, Neapel, Bologna und Wien und drei in der Stadtbibliothek in Siena. Eine achte, die weder Cavallini noch Barth noch Noffke in ihren Gebetseditionen erwähnt haben, ist die Handschrift 2˚ Cod. ms. 123 der Universitätsbibliothek der LMU München. Dabei handelt es sich um eine in Italien um 1460 entstandene Sammelhandschrift, die auch 22 Gebete der hl. Caterina von Siena enthält: fol.135ra–146vb Catharina de Senis: orationes XXII, Recensio Stephani Maconi et Thomae de Senis. Dann folgen ab fol. 147ra die Sermones IV in laudem Catharinae de Senis. Zu dieser Fassung s. M.-H. Laurent, Traditio 6 (1948), S. 358f. Die in der Münchner Handschrift aufgeführten 22 Gebete in Latein mit den Rubriken auf fol. 146vab entsprechen auch in der Reihenfolge jenen, die Cavallini in ihrer Edition von 1978 vorgelegt hat und die in dieser Form nur im Codex R (Rom) und in S1 (Siena) enthalten sind. Offenbar erst einige Jahre später wurde der Codex in München auch von Cavallini „entdeckt“, wie aus ihrem Benutzer-Eintrag hervorgeht: „5. 12. 82, Giuliana Cavallini, Centro Naz. di Studi Cateriniani, Roma, fol. 135ra–146vb.“ Auch Suzanne Noffke erwähnte die Handschrift erst später in einem Artikel über die Überlieferung der Werke Caterinas, vgl. A Companion to Catherine of Siena, hg. von Carolyn Muessig, George Ferzoco und Beverly Mayne Kienzle, Boston 2012, S. 335.
[9] Da in späteren Ausgaben das Gebet 1 aufgrund einer Unterbrechung, in der Caterina längere Zeit schweigend verharrte, in zwei selbständige Gebete geteilt wurde, hat sich ihre Anzahl auf 26 erweitert.
[10] Unklar ist, ob die sieben oben erwähnten Gebete für die Druckausgabe aus dem Lateinischen ins Italienische zurückübersetzt wurden oder ob es damals dafür eine Handschrift als Vorlage gab, die uns heute nicht mehr erhalten ist.
[11] Wie dies eine Rubrik der Handschriften in Rom, Siena und Neapel nahezulegen scheint. Latein war damals die Gelehrtensprache und zudem notwendig, um Caterinas Schriften auch europaweit bekannt zu machen, vgl. Prozess, S. 131.
[12] Vgl. etwa Prozess, S. 85.
[13] Übersetzungen des Dialogs ins Lateinische erfolgten erst nach Caterinas Tod.
[14] Vgl. Yves Congar O.P., Der Heilige Geist in den Gebeten der hl. Caterina von Siena, Atti, Congresso Internazionale di Studi Cateriniani, Roma 1981, S. 333.
[15] Vgl. Prozess, S. 446f.
[16] Brief 213 an Daniella da Orvieto.
[17] Vgl. Brief 203 an einige Olivetaner Novizen.
[18] Vgl. Brief 67 an den Vallombrosaner Konvent.
[19] Brief 169a an Don Niccoloso di Francia.
[20] Vgl. dazu den diesbezüglichen Brief an Tommaso Caffarini (Brief 325). Ähnlich dazu Brief 203 und Brief 81 an Francesca Tolomei.
[21] Der Brief an Papst Urban VI. (Brief 364) hat inhaltliche Gemeinsamkeiten mit Gebet 25 vom 1. Jänner 1380.
[22] Diese Unterweisung – eine Art geistliches Testament –, in der Caterina die wesentlichen Punkte ihrer eigenen geistlichen Erfahrung noch einmal zusammengefasst hat, wird sowohl von Raimund von Capua als auch von Tommaso Caffarini ausführlich wiedergegeben (vgl. Legenda Maior 360–362, Supplementum III, 2, 2; Legenda Minor III, 4).
[23] Caterina spricht meist von drei Arten des Gebetes, indem sie noch vor dem mündlichen auf das „ständige Gebet“, nämlich auf die grundsätzliche Ausrichtung unseres Lebens auf Gott hin verweist. Dies sei das Erste und Wichtigste, denn „ein solches Verlangen betet immer – ich meine damit die liebende Hingabe, in der wir etwas tun. Sie betet andauernd vor unserem Schöpfer, egal wo wir sind oder wann es geschieht“ (Br. 154 an Francesco Tebaldi). Diese „ständige heilige Sehnsucht“ betet immer, weil sie alle geistlichen und körperlichen Tätigkeiten auf die Verherrlichung Gottes ausrichtet“ (Brief 26 an Sr. Eugenia). Zu den drei Arten des Gebetes vgl. auch Brief 353 an Catella, Checca und Caterina Dentice, Brief 154 an den Kartäuser Francesco Tebaldi und vor allem Dialog 65–71.
[24] Brief 26 an Sr. Eugenia in Montepulciano.
[25] Ebd.
[26] Tommaso Antonii de Senis (Caffarini), ein Schüler Caterinas, gelehrter Dominikaner, gebürtig aus Siena. Thomas hat sich nach Caterinas Tod von Venedig aus, wo er die letzten 40 Jahre seines Lebens verbrachte (1394–1434), besonders um ihre Verehrung und die Verbreitung ihrer Werke verdient gemacht.
[27] Supplementum II, 3, 8.
[28] Prozess, S. 54f.
[29] Stefano di Corrado Maconi aus Siena, etwa gleich alt wie Caterina, seit 1376 ihr Schüler, Sekretär und Begleiter auf ihren Reisen, wurde nach ihrem Tod ihrer Weisung gemäß Kartäuser. Als späterer Generaloberer des Gesamtordens war er zusammen mit seinem Freund Tommaso Caffarini an der Verehrung Caterinas und der Verbreitung ihrer Werke maßgeblich beteiligt.
[30] Prozess, S. 387–389.
[31] Schüler Caterinas, in Siena geboren, gelehrter Dominikaner, der Caterina auf ihren Reisen begleitet hat und gelegentlich ihr Beichtvater war.
[32] Prozess, S. 446f.
[33] Ebd., S. 449.
[34] Caterinas Beichtvater und geistlicher Leiter. Er verfasste nach ihrem Tod ihre maßgebliche Biographie, die Legenda Maior.
[35] Legenda Maior 113.
[36] Ansprache von Papst Paul VI. am 4. Oktober 1970 in St. Peter in Rom anlässlich der Erhebung der hl. Caterina von Siena zur Würde einer Kirchenlehrerin (AAS LXII, 1970, S. 329–335).
[37] Amantissima Providentia, Apostolisches Schreiben von Papst Johannes Paul II. am 29. April 1980 zum 600. Jahrestag des Heimgangs der hl. Caterina von Siena
(AAS LXXII, 1980, S. 569–581).
[38] Bei der Übersetzung des Textes sowie für Einleitung und Anmerkungen der einzelnen Gebete wurden auch die Übertragungen von Suzanne Noffke O.P. (Prayers) und Hilarius M. Barth O.P. (Meditative Gebete) verwendet, ebenso die Übersetzung von Joseph M. Scheller O.P. (Hl. Katharina von Siena, Gebete. Übertragen und eingeleitet von P. Dr. Joseph Maria Scheller O.P., Vechta i. O. 1936) und die Ausgabe der Gebete Caterinas im heutigen Italienisch von Angelo Belloni (Le preghiere di Caterina da Siena, a cura di Angelo Belloni, Roma 2011).
[39] Die jeweils unterschiedlichen Zählweisen, wie sie von Gigli, Cavallini und Barth bisher vorgenommen wurden, erschwerten die Auffindung der einzelnen Gebete und ließen sich nur mit Hilfe einer eigens angefügten Konkordanz richtig zuordnen. – Girolamo Gigli hatte in seiner Ausgabe der Werke Caterinas von Siena (Siena 1707) den italienischen Text der Gebete von Aldo Manuzio übernommen.