Brief 69 – An Sano di Maco di Mazzacorno
Insgesamt 8 Briefe sind uns an diesen Schüler Caterinas, einem Wollarbeiter aus Siena, erhalten. Im ersten Brief an Sano di Maco schreibt Caterina, daß sie gerade bei Gherardo Buonconti in Pisa wohnt und das Haus nicht verlässt. Es ist beginnende Fastenzeit und ihre Gedanken kreisen um das Geheimnis der Erlösung, wie unsere Sünden eingeschrieben wurden in das Fell des Lammes und wie dieser Schuldschein dann zerrissen wurde …
Eingeschrieben in das Fell des Lammes
Anfang 1375
Im Namen des gekreuzigten Jesus Christus und der lieben Maria.
Liebster Bruder in Christus Jesus. Ich, Caterina, Dienerin und Magd der Diener Jesu Christi, schreibe Euch, um Euch im kostbaren Blut des Gottessohnes zu ermutigen. Ich möchte in Euch dieselbe Kraft des heiligen Glaubens und der Beharrlichkeit sehen, wie sie die kanaanäische Frau besaß. Sie hatte einen so starken Glauben, dass sie die Befreiung ihrer Tochter vom Teufel erwirkte. Ja mehr noch, weil Gott zeigen wollte, wie sehr ihm ihr Glaube gefiel, überließ er ihrem Glauben auch den Sieg. Und so sagte er: „Deiner Tochter geschehe, wie du es willst“ (vgl. Mt 15,28). O wunderbare, einzigartige Tugend! Du bist es, die uns die Anwesenheit des göttlichen Liebesfeuers in der Seele enthüllt, denn die Menschen glauben und erhoffen nur das, was sie lieben.
Diese drei Tugenden (Glaube, Hoffnung, Liebe) gehen Hand in Hand, denn es gibt keine Liebe ohne den Glauben, und keinen Glauben ohne Hoffnung. Sie sind wie drei Säulen, die unsere Seelenburg stützen, und zwar so sehr, dass kein Wind der Versuchung, keine beleidigenden Worte, keine Schmeicheleien der Welt und keine irdische Liebe – sei es der Ehefrau oder der Kinder – sie zerstören können. Immer bedarf es der zuverlässigen Unterstützung dieser drei Säulen.
Wir werden also das tun, was die kanaanäische Frau getan hat. Wenn wir Christus an unserer Seele vorbeigehen sehen, werden wir uns mit ganzem Herzen in aufrichtiger Reue und Verachtung für die Sünde an ihn wenden und sagen: „Herr, befreie meine Tochter – das heißt meine Seele![1] Denn sie wird von einem Dämon gequält mit allen möglichen Versuchungen und schlechten Gedanken.“ Wenn wir standhalten und unseren Willen so zähmen, dass wir alles, was wir lieben und begehren nur in Gott lieben; wenn wir uns demütigen und uns des Friedens und der Ruhe unwürdig erachten; wenn wir im Glauben und mit zuversichtlicher Geduld erwarten, dass wir im gekreuzigten Christus alles vermögen – dann sprechen wir mit dem Apostel Paulus: „Ich vermag alles, aber nicht durch mich, sondern im gekreuzigten Christus, der in mir ist und mir Kraft gibt“ (vgl. Phil 4,13). Dann werden wir das süße Wort hören: „Was du willst, soll geschehen. Deine Tochter – das heißt, Deine Seele – ist geheilt.“
Hier offenbart die unermessliche Güte Gottes den Schatz, den sie unserer Seele schenkt, unseren freien Willen, den weder der Teufel noch irgend jemand zu einer einzigen Todsünde zwingen kann, wenn wir es selbst nicht wollen.
O liebster Sohn in Christus Jesus, denkt mit festem Glauben daran, dass diese Worte auch zu uns gesagt sind bis zum Augenblick des Todes. Bedenkt auch, dass Gott dieselben Worte sprach, als er uns schuf: „Was du willst, soll geschehen“ – das heißt: „Ich habe dich frei erschaffen, so dass du niemandem unterworfen bist außer Mir.“ O süßes, grenzenloses Feuer der Liebe, wie deutlich zeigst Du uns die hohe Würde Deiner Geschöpfe! Denn Du hast alles geschaffen, damit es uns diene, uns aber hast Du gemacht, damit wir Dir dienen. Aber wir Unglücklichen und Elenden lieben die Welt mit ihrer Pracht und ihren Fehlern, und so verlieren wir die Herrschaft und werden Diener und Knechte der Sünde, indem wir den Teufel zu unserem Herren machen. O wie gefährlich ist seine Macht! Er geht ständig umher und sucht, wen er verschlingen kann. Mir scheint es töricht, so einem Herrn zu dienen. Nein, ich möchte, dass wir zu jenen Seelen gehören, die in Gott verliebt sind und die sich als Sklaven betrachten, die durch das Blut des Lammes erkauft worden sind. Jetzt können die Sklaven sich nicht selbst noch einmal verkaufen, noch können sie ihren Herrn wechseln. Wir sind nicht mit Gold erkauft worden, auch nicht mit der Süßigkeit der Liebe allein, sondern mit Blut.[2]
Unsere Herzen und Seelen müssten aus Liebe zerspringen! Sie sollten sich eilig erheben, um dem guten und süßen Jesus voll Ehrfurcht zu dienen. Denn der Teufel hielt uns gefesselt als sein Eigentum, als seine Knechte und Gefangene, aber Jesus hat uns gerettet. Er hat die Verantwortung für uns übernommen, die Schuld bezahlt und dann die Fesseln gelöst. Wann hat er diese Verantwortung für uns übernommen? Als er unsere Menschennatur annahm und ein Diener wurde. O weh! Aber das allein genügte nicht, er musste auch noch unsere Schuld begleichen. Und wann ist dies geschehen? Als er uns sein Leben gab am Holz des heiligsten Kreuzes, um uns das verlorene Gnadenleben wiederzugeben. O unschätzbare, süße Liebe, Du hast den Schuldschein zerrissen, der den Menschen an den Teufel gebunden hatte, und hast ihn ans heiligste Kreuz geheftet![3] Dieser Schuldschein bestand aus dem Fell des Lammes, des makellosen Lammes. Christus hat uns in sich eingeschrieben und dann das Lammfell zerrissen. Trösten wir also unsere Seelen in dem Bewusstsein, dass unser Schuldschein, in dem wir eingeschrieben waren, zerrissen ist und dass unser Feind und Widersacher uns nicht mehr zurückfordern kann. Beeilen wir uns, liebster Sohn! Umfangen wir die Tugenden mit wahrem und heiligem Eifer und denken wir an das milde Lamm, das mit so brennender Liebe sein Blut für uns vergossen hat. Mehr will ich nicht sagen.
Denkt daran, dass wir jetzt in diesem Leben – so wie die kanaanäische Frau (vgl. Mt 15,21–28) – nur die Brotreste haben können, die vom Tisch fallen, das heißt, die Gnaden, die wir erhalten und die vom Tisch des Herrn herunterfallen. Aber wenn wir einst im ewigen Leben sind und Gott von Angesicht schauen und genießen dürfen, dann bekommen wir die Speisen, die am Tisch sind. Geht also der schweren Arbeit nicht aus dem Weg. Ich werde Euch Brotreste und auch Speisen schicken wie einem Sohn.[4] Ihr aber kämpft und predigt[5] wie ein Mann.[6]
Ihr sollt wissen, dass es uns allen durch Gottes Güte gut geht. Die Ehre Gottes wird jeden Tag deutlicher sichtbar. Wir haben das Haus des Gherardo nie verlassen; wir werden dann hinausgehen, wenn Gott es haben möchte.[7] Sobald ich kann, werde ich Euch darüber schreiben.
Bleibt in der heiligen und zärtlichen Liebe Gottes!
[1] Caterina hatte diese Interpretation gewiß aus den von ihr gelesenen oder gehörten Texten der Kirchenväter. Hieronymus schreibt in seinem Matthäus-Kommentar (PL 26, 113): „Unter der Tochter der Kanaanäerin verstehe ich aber die Seelen der Gläubigen.“
[2] Vgl. 1 Petr 1,18–19: „Ihr wisst, dass ihr … nicht um einen vergänglichen Preis losgekauft wurdet, nicht um Silber oder Gold, sondern mit dem kostbaren Blut Christi, des Lammes ohne Fehl und Makel.“
[3] Vgl. Kol 2,14: „Er hat den Schuldschein, der gegen uns sprach, durchgestrichen und seine Forderungen, die uns anklagten, aufgehoben. Er hat ihn dadurch getilgt, dass er ihn an das Kreuz geheftet hat.“
[4] Damit meint Caterina ihr Gebet für Sano di Maco. In Br. 291 bittet sie Papst Urban VI.: „Versagt mir nicht die Brosamen, die ich für Eure Kinder erbitte.“ Und im Brief an Giovanni da Parma (Br. 309) schreibt sie: „In diesem Leben essen wir die Brosamen der Gnade, im ewigen Leben werden wir gute, vorzügliche Speisen genießen.“
[5] Die zweite Ermahnung „e predicate – und predigt“, wurde von den meisten Kopisten weggelassen. Vermutlich, um Missverständnissen vorzubeugen, denn Sano war nicht ordiniert, sondern nur Mitglied einer Laien-Bruderschaft.
[6] Ital. virilmente.
[7] Caterina war, als sie diesen Brief schrieb, in Pisa zu Gast im Haus des Gherardo Buonconti (für etwa zwei Monate) neben der kleinen romanischen Kirche Santa Cristina am Arno Ufer, in der sie am 1. April 1375 die Stigmen empfing. Die erste Zeit ihres Pisa-Aufenthaltes war daher vor allem dem Gebet und dem Studium gewidmet (und den Kranken, die zu ihr kamen, vgl. R. 258), ehe sie dann die politischen Auseinandersetzungen zu einer vermehrten Präsenz in der Öffentlichkeit zwangen.