Brief 45 – An Francesco Malavolti
Francesco Malavolti war ein junger Adeliger aus Siena. Gedrängt von seinem Freund Neri di Landoccio Pagliaresi wurde er vermutlich Anfang 1374 Caterinas Schüler. Er war damals 25 Jahre alt und wie sein Freund Neri von der Poesie begeistert. Zugleich war er aber auch dreist und hitzköpfig, lüstern und hemmungslos. Caterinas Reinheit und Ausstrahlung aber faszinierte ihn, so dass er durch sie zur Beichte fand und damit begann, die Kirche zu besuchen. Beeindruckt von Caterinas Ermahnungen lebte er mit seiner blutjungen 15jährigen Gattin in gegenseitigem Einvernehmen eine Zeitlang „im selben Haus, aber nicht im selben Bett …“
Unter dem Einfluss Caterinas begann er sein Leben zu ändern, wurde zeitweise auch ihr Sekretär und begleitete sie im Sommer 1377 auf ihrer Reise ins Val d‘Orcia-Gebiet. Nach dem Verlust seiner Frau und seiner Kinder wollte er zunächst Rhodos-Ritter werden, änderte aber dann nach einer Vision Caterinas seinen Plan und ließ sich 1388 in Monteoliveto Maggiore einkleiden. Nachdem er in verschiedenen Klöstern seines Ordens diverse Ämter innehatte (Kellermeister und Novizenmeister), wurde er während des Jahres 1411 von Papst Gregor XII. zum Abt von S. Emiliano in Coniuntoli in der Nähe von Sasso Ferrato ernannt.
Francesco Malavolti hat im Prozess von Castello (S. 556–604) ein wichtiges Zeugnis abgegeben über die Tugenden und das Wirken Caterinas während ihres Aufenthaltes in Val d‘ Orcia und ebenso über seine eigene Bekehrung.
Es wird vermutet, dass der Brief nach Caterinas Rückkehr aus Avignon entstanden ist, da Francesco seinen eigenen Angaben zufolge wieder in seine früheren Fehler zurückgefallen war. Allerdings schreibt Francesco, dass er sie „sofort nach ihrer Rückkehr nach Siena aufsuchte“ (Prozess, S. 562) – ob aus eigenem Antrieb oder erst nach Caterinas Aufforderung dazu, bleibt dabei offen. Jedenfalls kommt in diesem Brief ihre ganze mütterliche Besorgtheit zum Ausdruck: „Ich möchte Dich wiederfinden, Du kleines verlorenes Schaf! Ich ersehne es sehr!“
Du kostest mich viele Tränen
Januar 1377
Im Namen des gekreuzigten Jesus Christus und der lieben Maria.
Geliebter und allerliebster Sohn in Christus, dem lieben Jesus! Ich, Caterina, Dienerin und Magd der Diener Jesu Christi, schreibe Dir in seinem kostbaren Blut. Ich möchte Dich wiederfinden, Du kleines, verlorenes Schaf! Ich ersehne es sehr! Ich möchte Dich in den Schafstall und in die Herde Deiner Kameraden zurückführen. Aber es scheint, dass der Teufel Dich gestohlen und weit weggebracht hat, damit ich Dich nicht wieder finden kann. Ich, Deine arme Mutter, suche Dich und lasse nach Dir suchen, weil ich Dich gerne auf die Schultern nehmen möchte, auf die Schultern meiner Sorge und meines Mitleids mit Deiner Seele.[1]
Öffne die Augen Deines Verstandes, liebster Sohn! Blicke über die Dunkelheit hinaus! Erkenne Deine Sünde, nicht durch innere Niedergeschlagenheit, sondern durch Selbsterkenntnis und Vertrauen auf Gottes Güte.[2] Sieh, wie Du den vom himmlischen Vater erhaltenen Anteil der Gnade verschleudert hast. Tue, was der verlorene Sohn damals getan hat, der durch schlechten Lebenswandel sein Erbteil vergeudet hatte. Er erkannte seinen Fehler und lief zum Vater und bat um Erbarmen.[3] Das tue auch Du. Denn Du bist verarmt und in Not und Deine Seele kommt vor Hunger um. Kehre um und bitte Deinen himmlischen Vater um Erbarmen. Er wird Dir helfen und Dein Verlangen nicht zurückweisen, wenn es auf der Reue über Deine Sünden gründet. Nein, er wird dieses Verlangen gerne erfüllen.
O weh! O weh! Wo sind Deine guten Vorsätze? O ich Unglückliche! Ich habe entdeckt, dass der Teufel Deine Seele und Dein heiliges Verlangen gestohlen hat! Die Welt und ihre Diener haben Fallen gestellt und Dich mit ihren übermäßigen Annehmlichkeiten und Reizen geködert.
Steh auf! Nimm Deine Medizin! Schlafe nicht mehr! Tröste meine Seele und sei nicht so zögerlich über Dein Heil, dass Du mich um Deinen Besuch bringst. Gib dem Teufel nicht nach, wenn er Dich mit Furcht oder Verlegenheit zu täuschen versucht. Schneide diesen Knoten durch! Komm! Komm, liebster Sohn! – Ich kann Dich wohl lieber Sohn nennen, denn Du kostest mich so viele Tränen, soviel Schweiß und so viel Bitterkeit! Komm jetzt und kehre in Deine Herde zurück.
Ich entschuldige mich vor Gott, dass ich nicht mehr tun kann. Wenn Du kommst und wenn Du dableibst, werde ich von Dir nichts anderes mehr verlangen, als dass Du Gottes Willen erfüllst.[4]
Bleibe in der heiligen und zärtlichen Liebe Gottes.
Geliebter Jesus! Jesus, die Liebe!
[1] Vgl. das Gleichnis vom verlorenen Schäflein Lk 15,3–7.
[2] Vgl. Dialog 66: „Ich verlange keine eingehende Betrachtung der Sünde, sonst würde der Geist durch die Erinnerung an bestimmte hässliche Sünden befleckt werden. Das heißt, ich will nicht, dass der Mensch bloß seine Sünden im Besonderen und allgemeinen erwäge, ohne dabei auch das Blut und die Größe Meiner Barmherzigkeit zu betrachten – andernfalls käme er in große Verwirrung.“
[3] Vgl. das Gleichnis vom verlorenen Sohn Lk 15,11–32.
[4] Francesco bezeugt, dass er dieser Einladung natürlich sofort nachgekommen ist, „freilich nicht ohne Bangen und Furcht. Sie aber nahm mich wie eine wahrhaft gütige und liebenswerte Mutter mit fröhlichem Gesicht auf und stärkte mich wieder in meiner Haltlosigkeit“ (Prozess, S. 562).