Brief 44 – An Ser Antonio di Ciolo
Antonio di Ciolo (Petraciolo) war, da er mit dem Titel „Ser“ angeschrieben wurde, ziemlich sicher ein Notar, vielleicht in Siena. Mehr ist über seine Person nicht bekannt.
Der Brief ist offenbar die Antwort auf ein Problem des Adressaten. Bei seinen Versuchungen und Sünden gegen die Reinheit rät und ermutigt ihn Caterina zu einer vermehrten Anbindung und Einigung mit Gott. Denn da der Mensch immer etwas von dem annimmt, das er liebt (sei es Gott, die Welt oder die Sünde), empfangen wir von Gott, der die höchste Reinheit ist, auch das Licht und den Duft der Enthaltsamkeit. Darüber hinaus erklärt sich Caterina auch dazu bereit, für ihn die Buße zu übernehmen.
Gebt der Welt einen Fußtritt!
Oktober/November 1377
Im Namen des gekreuzigten Jesus Christus und der lieben Jungfrau Maria.
Liebster Sohn in Christus, dem lieben Jesus. Ich, Caterina, Dienerin und Magd der Diener Jesu Christi, schreibe Euch in seinem kostbaren Blut. Ich möchte Euch in heiligem Verlangen mit unserem Erlöser vereint sehen, denn sonst können wir die Welt nicht zurückweisen noch die vollkommene Reinheit erlangen und leibliche und geistige Enthaltsamkeit üben.
Wenn wir Gott nicht näherkommen und mit ihm eins werden, indem wir unsere Zuneigung nach ihm ausrichten, verbinden wir uns – getrennt von ihm – notwendigerweise mit den Geschöpfen, mit gottfernen weltlichen Vergnügungen, Freuden und Ehrungen. Warum? Weil wir nicht leben können, ohne zu lieben und wir daher notwendigerweise entweder Gott lieben oder die Welt.
Wir werden immer mit dem eins, was wir lieben (mit dem Gegenstand unserer Liebe). Und in dieser Bindung werden wir verwandelt, denn wir nehmen immer etwas vom Objekt unserer Liebe an.[1]
Wenn wir die Welt lieben, haben wir nichts als Mühe in der Welt, denn die Welt bringt auf Grund der Sünde Dornen und schwere Sorgen. Unser Fleisch bringt uns nichts als den Gestank und das Gift der Sünde und Verderbnis – und zwar so sehr, dass jene, die dem Wollen des Fleisches und der sinnlichen Leidenschaft nachgeben, durch sie tödlich vergiftet werden,[2] weil sie in Todsünde fallen und das Gnadenleben verlieren. Eine solche Liebe kann nichts anderes hervorbringen. Sie macht uns ständig traurig und unzufrieden mit uns selbst, weil Gott erlaubt hat, dass wir durch diese ungeordnete Liebe uns selbst unerträglich werden.
Die Liebe, die auf Gottes gütigen Willen hingeordnet und durch ihre grundlegende Orientierung mit Gott vereint ist, gibt uns etwas von dem, was Gott in sich hat.
Gott ist höchste und ewige Lieblichkeit. Die Diener Gottes erfahren deshalb in den bitteren und schwierigen Dingen eine große Freude, weil sie gelassen und zufrieden sind, wenn sie herausfinden, dass Gott durch die Gnade in ihrem Innern wohnt. Denn sie geben sich mit nichts anderem als mit Gott zufrieden. Warum? Weil Gott größer ist, als sie es sind, und weil sie größer als die übrige Schöpfung sind.
Was Gott geschaffen hat, das hat er zum Dienst am Menschengeschlecht geschaffen, und das Menschengeschlecht hat er für sich selbst geschaffen, damit wir ihn aus ganzem Herzen und mit allen unseren Kräften lieben und ihm in Wahrheit dienen. Das ist der Grund, warum uns die weltlichen Dinge nicht befriedigen können, da sie geringer sind als wir. Also finden wir Ruhe und Frieden, wenn wir in Gott leben.[3] In ihm haben wir Anteil an einer solchen Weite des Herzens, dass der Schwung unserer Nächstenliebe groß genug ist, um alle zu umfangen.[4] In der Tat, wir tun unser Bestes, um unserem Nächsten zu dienen und ihm zu helfen und auf diese Weise unsere Liebe zu unserm Schöpfer zu bezeugen.
Gott ist die höchste ewige Reinheit. Daher haben beide, sowohl unsere Seele als auch unser Leib, Anteil an dieser Reinheit auf Grund unserer Gemeinschaft mit Gott, und wir halten unseren Geist und unsern Leib vollkommen rein, weil wir lieber sterben, als dass wir unsern Leib und unsern Geist verunreinigen und beschmutzen.
Es ist aber nicht so, dass uns keine derartigen Gedanken kommen oder dass wir keine körperlichen Erregungen spüren. Aber solche Gedanken und Erregungen beflecken unsere Seele nicht. Nur unser Wille kann das tun, wenn er freiwillig unserer Schwachheit oder dem Denken in unserem Herzen zustimmt. Fehlt diese Zustimmung, dann begehen wir keine Sünde. Im Gegenteil, wir sammeln Verdienste, indem wir heiligen Widerstand leisten und von diesen Dornen die duftende Rose der vollkommenen Reinheit pflücken. Denn das führt uns zu einer tieferen Selbsterkenntnis, und wir wehren uns gegen unsere eigensüchtige Schwäche mit einem heiligen Hass. Wir laufen voll Liebe zum gekreuzigten Christus im ständigen demütigen Gebet und in dem Bewusstsein, dass es keinen anderen Weg gibt, um von solchem Übel befreit zu werden.
Wir sagten bereits, je näher wir ihm kommen, um so mehr teilen wir seine Reinheit. So wird tatsächlich wahr, dass wir aus diesen Kämpfen die reinste Rose pflücken. Das ist in der Tat das Heilmittel gegen diese teuflische Sünde unseres schwachen gebrechlichen Fleisches, damit wir Gott näherkommen und ihm durch unsere Liebe ähnlich werden.
Lieber Bruder, verliert keine Zeit! Die Zeit ist kurz und wartet nicht auf uns, ebenso wenig sollen wir auf sie warten! Was wäre das für eine Sache, wenn wir in solcher Blindheit weiterschlafen würden, ohne aufzuwachen! Aber es ist wahr, wir können nicht aufwachen oder diese Vereinigung (mit Gott) erlangen ohne das Licht. Im Licht des heiligsten Glaubens sollen wir unser Elend und unsere Sünde erkennen und mit diesem gereinigten Blick uns dann auf Gottes unbegreifliche Liebe konzentrieren: Gott hat diese Liebe zu uns geoffenbart im Wort, seinem eingeborenen Sohn. Und der Sohn hat sie uns geoffenbart in seinem Blut, das er mit solch brennender Liebe vergossen hat, als er wie ein Verliebter dem schändlichen Kreuzestod entgegenlief. Wenn wir also sehen, dass wir so sehr geliebt werden – können wir uns da von der Liebe fernhalten, ohne sie zu erwidern? Wir können es nicht!
O liebster Sohn, entfernt Euch nicht von diesem Licht, sondern befreit Euch von der Wolke der selbstsüchtigen Liebe und betrachtet mit lebendigem Glauben das unbefleckte, geschlachtete Lamm, das Euch mit so großer Liebe ruft! Wenn Ihr ihm antwortet, werdet Ihr diese vollkommene Vereinigung mit Gott erlangen, und wenn Ihr mit ihm eins geworden seid, werdet Ihr den Duft der vollkommenen Reinheit spüren.
Ein sehr gutes Mittel gegen dieses Laster (der Unreinheit) ist, an die Würde zu denken, die unser armes Fleisch durch unsere Vereinigung mit Gott erhalten hat, als die göttliche Natur mit unserer menschlichen Natur verbunden wurde. Wenn Ihr seht, wie Eure menschliche Natur über alle Chöre der Engel erhoben worden ist, werdet Ihr Euch schämen und zügeln, bevor Ihr Euch einem solchen Laster hingebt. Lasst Eure Sinne und Euer Verlangen sich auf diese Weise süß erheben – und der Gestank des Lasters wird verschwinden.
Darüber hinaus ist es auch gut, wenn wir unseren Leib züchtigen und kasteien durch Wachen und beständiges demütiges Beten und wenn wir uns festhalten am Baum des heiligsten Kreuzes. Auch sollen wir so weit wie möglich nicht mit Leuten verkehren, die ein ausschweifendes Leben führen. Zweifelt nicht daran, dass Gott Euch äußerst gnädig sein wird, wenn Ihr Euch anstrengt, diesen Knoten glatt durchzuschneiden und nicht versucht, ihn langsam zu lösen.[5]
Beeilt Euch und bringt Eure Angelegenheiten in Ordnung. Lauft mit innigem Verlangen zum Joch des heiligen Gehorsams. Dort werdet Ihr Euren Willen töten und Euren Körper in Zucht nehmen; dort werdet Ihr den Ernst des ewigen Lebens verstehen. Das alles dürft Ihr nicht als mühevoll betrachten, denn die Mühe wird sich für Euch in übergroße Freude verwandeln! Ich bin sicher, wenn Ihr den guten süßen Jesus bei Euch Wohnung nehmen lasst aus Liebe, wird es Euch gelingen. Anders aber nicht.[6]
Deshalb habe ich Euch gesagt, ich möchte Euch mit unserem Erlöser in der Liebe vereint sehen, damit Ihr die wahre Reinheit erlangt und die Leidenschaft ablegt, die Euch solche Schwierigkeiten bereitet. Ich zweifle nicht daran, dass Ihr ihrer Herr werdet, wenn Ihr Euch so, wie ich sagte, verhaltet.[7] Zumindest soll Euer Wille bereit sein, lieber zu sterben, als zu sündigen.
Taucht ein in das Blut des gekreuzigten Christus und fangt ein neues Leben an in der Hoffnung, dass Eure Sünden im Blut und im Feuer der Liebe ausgelöscht werden. Was mich betrifft, so möchte ich Eure Sünden übernehmen und sie durch Gebete und Tränen im Feuer der göttlichen Liebe auflösen; und ich will auch die Buße für Euch übernehmen. Das Einzige, worum ich Euch dringend bitte, ist, dass Ihr Euch darauf konzentriert, Euch schnellstens von der Welt zu lösen. Gebt ihr einen Fußtritt![8] Denn wenn Ihr es nicht tut, wird es nicht lange dauern, und sie gibt ihn Euch! Leistet dem Heiligen Geist, der Euch ruft, keinen Widerstand. Mehr will ich nicht sagen.
Bleibt in der heiligen und zärtlichen Liebe Gottes.
Geliebter Jesus! Jesus, die Liebe! Maria!
[1] Vgl. Br. 163 An Monna Franceschina in Lucca: „Es ist bezeichnend für die Liebe, dass ihr immer mit Liebe vergolten wird und der Liebende in den Geliebten verwandelt wird.“ Vgl. Hos 9,10: Nachdem sich das Volk dem Götzen geweiht hatte: „Sie wurden so abscheulich wie der, den sie liebten.“ Vgl. auch Thomas von Aquin, Summ. theol., I-II, q.28, a.1, ad 3: „Die Liebe macht, dass das Wirkliche selbst, das geliebt wird, in gewissem Sinn eins wird mit dem Liebenden.“ Und in I-II, q.26, a.2, ad 2: „Die Einigung gehört zur Liebe.“
[2] Vgl. Br. 21 an eine unbekannte Person (hier S. 387): „Denkt an den gekreuzigten Christus. Neutralisiert das Gift in Eurem Fleisch, indem Ihr Euch das gegeißelte Fleisch des gekreuzigten Christus, des Gottmenschen, vor Augen haltet. Denn durch die Vereinigung der göttlichen mit der menschlichen Natur hat unser Fleisch eine so hohe Würde erlangt, dass es über alle Engelchöre erhöht ist.“
[3] Vgl. Augustinus, Confessiones (I, 1): „Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir.“
[4] Die Weite der Liebe Gottes, die alle (und daher auch uns selbst) umfängt, macht zugleich auch uns bereit, dass wir allen Menschen die geschuldete Nächstenliebe erweisen.
[5] Caterina wiederholt diese Ermahnung auch in anderen Briefen. In Br. 130 und 318 verweist sie dabei auf die Kürze des Lebens, die es notwendig macht, bei einer Bindung an die Welt den Knoten eher rasch durchzuschneiden als ihn allmählich und mühsam aufzubinden. Und in Br. 72 erklärt sie, dass dieses rasche Durchtrennen mit dem „zweischneidigen Schwert“ (des Hasses auf die Sünde und der Liebe zur Tugend) geschehen muss. Ausführlich entfaltet sie dieses ganze Thema dann in Br. 205 und 329 (hier S. 117 und 128), wo sie Stefano Maconi dazu antreibt, sich für eine endgültige Bindung an Gott (Priestertum bzw. Ordenseintritt) zu entscheiden.
[6] Vgl. Joh 14,23: „Wenn jemand mich liebt, wird er an meinem Wort festhalten; mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen.“
[7] Es ist möglich, dass Ciolo sogar an einen Ordenseintritt denkt, jedenfalls ermutigt ihn Caterina zu einem Leben in der Nachfolge Christi.
[8] Ein paar Wochen später schrieb Caterina aus dem Orcia-Tal an den Abt Martino von Passignano (Br. 22): „Auf, liebster Vater, geben wir der Welt mit all ihrem Glanz, ihren Vergnügungen und Reichtum einen Fußtritt!“ Ähnlich im folgenden Jahr an Ristoro Canigiani, der 1378 nach den Unruhen in Florenz das Aufenthaltsrecht verlor und die Stadt verlassen musste (Br. 301): „Gebt der Welt einen Fußtritt! Vertreibt sie aus Eurem Herzen und Eurer Zuneigung, so wie sie auch Euch vertreibt.“