Brief 381 – An Iacomo di Viva
Der Adressat, Iacomo di Viva in der Costarda dei Barbieri[1] in Siena ist uns nur von diesem Brief bekannt. Möglicherweise war er ein Verwandter des Kartäusers Don Pietro di Giovanni di Viva aus der Kartause Maggiano bei Siena, an den Caterina einen Brief gerichtet hat (Br. 287a)[2] und der dann 1380 Prior in Maggiano wurde. Jedenfalls trägt der hier vorliegende Brief das Datum „Aus dem Kartäuser Kloster, 29. April“.[3]
Da bei der Adresse des Briefes die Ortsangabe fehlt und nur der Name einer Gasse in Siena angegeben ist, wird vermutet, dass der Brief auch in Siena entstanden ist, und zwar bei einem Kurzbesuch Caterinas in der vor der Stadt gelegenen Kartause Maggiano. Nachdem Caterina am 29. April 1378 in Florenz war und am 29. April 1379 in Rom (am 29. April 1380 starb sie dort), bleibt für die Entstehung des Briefes nur das Jahr 1377. Der Brief ist einer von jenen acht Briefen, die im Original erhalten sind (Oxford, St. Aloysius Church). Er wurde von R. Fawtier entdeckt und trägt daher neben der Nummer 381 auch die Bezeichnung F 16. Was bei dem Brief auffällt (neben der Tatsache, dass er in keiner Briefsammlung aufscheint), ist sein unterschiedlicher Stil und Ausdruck. Dennoch wird an der Echtheit des Briefes, das heißt an der Autorschaft Caterinas nicht gezweifelt.
Es handelt sich jedenfalls um einen ermutigenden Brief für einen, der offenbar mit schweren (sexuellen?) Versuchungen zu kämpfen hat. Den Weg des Guten zu gehen und die Nächstenliebe zu üben – das ist der Rat, den Caterina hier gibt.
Den Weg des Guten gehen
29. April 1377
Liebster Sohn in Christus, dem lieben Jesus! Ich, Caterina, Dienerin und Magd der Diener Jesu Christi, schreibe Euch in seinem kostbaren Blut, um Euch zu ermutigen, in seiner Gnade und in der heiligen Gottesfurcht standzuhalten. Denn diese Furcht ist eine Schranke gegen die Sünde und gleichzeitig eine unerschöpfliche Quelle des Guten. Denkt daran, dass jene, die den weltlichen Versuchungen nicht nachgeben, die Gnade und Liebe Jesu erlangen, und wer der Welt entsagt, ist auf dem Weg zur ewigen Herrlichkeit und Freude in Gott. Haltet Euch vor Augen, dass sein kostbares Blut alle Sünden abgewaschen und uns vor jenem Feind, dem Teufel, errettet hat, der uns durch seine Bosheit und seine Unsittlichkeit bedrängt und unsere Seele in den ewigen Tod geführt hatte. Die Demut erhebt unser Fleisch und lässt jedes Machtstreben hinter sich, das mehr als alles andere das Gute behindert und uns dem Teufel unterstellt.
Wählt also den kürzesten Weg, den Weg der Armut, um zu dem heiligen fleckenlosen Lamm, zu Jesus, zu kommen, der sich aus Liebe zu uns kreuzigen ließ. Für uns gibt es keinen besseren Weg, gerettet zu werden, deshalb ermutige ich Euch, den Weg des Guten zu gehen. Dann werdet Ihr die unendliche Gnade erlangen und als Gast am Hochzeitsmahl des ewigen Lebens teilhaben. Ihr werdet Euch der sinnlichen Liebe entledigen, die unsere Seele verdirbt und uns zum Bösen verführen will, und ihr werdet das Hochzeitskleid der Liebe tragen, das Jesus gefallen wird.
Ich wiederhole Euch, dass ich mich über Euer Vorhaben sehr freue.[4] Ich bitte Euch um der Liebe des gekreuzigten Jesus Christus willen, es durchzuführen, so dass Ihr inneren Frieden und Gelassenheit erwerbt und nicht mehr von finsteren Gedanken heimgesucht werdet und Euer Fleisch nicht mehr zur Sünde neigt. Diejenigen, die den Schmutz der Welt abgelegt haben, lieben ihren Schöpfer und wollen nur die Liebe Christi gewinnen. Sie werfen um des Guten willen alle weltlichen und zeitlichen Dinge ab. Sie vernichten und verabscheuen jede fleischliche Unsittlichkeit und widmen sich vollständig der Nächstenliebe, dieser brennenden Liebe, die Christus am Kreuz angenagelt festhielt.
Ihr habt mir mitgeteilt, dass Bruder Antonio nach Bologna gereist ist und nichts hinterlassen hat. Versucht bitte, Nachricht von ihm zu erhalten; ich will unserem Fra Tommaso darüber schreiben. Ermutigt Monna Bartolomea[5] und sagt ihr, sie soll die heiligen Apostel Petrus und Paulus bitten, mir und den anderen Leuten Gnade, Frieden und das Heil unserer Seelen zu schenken. Weiter sage ich nichts.
Gott erfülle Euch mit seiner Gnade und Güte.
Geliebter Jesus! Jesus, die Liebe!
Aus dem Kartäuser-Kloster, am 29. April.[6]
[1] Das ist die „Costarella dei Barbieri“, der breite, abschüssige Durchgang von der Via di Città zum Campo.
[2] Eine Kopie bzw. verlängerte Version dieses Briefes (Br. 287b) ist adressiert an den Olivetaner Niccolò, den Sohn des Nanni di Ser Vanni, der ein Schüler Caterinas war.
[3] Johannes Jørgenson (Saint Catherine of Siena, 402) meint, dass diese Zeile von einem späteren Besitzer des Manuskripts stammt. Noffke dagegen ist überzeugt, dass die Datumszeile von derselben Hand geschrieben wurde wie der gesamte Brief.
[4] Vermutlich handelt es sich um einen geplanten Ordenseintritt.
[5] Damit ist sehr wahrscheinlich Bartolomea di Domenico gemeint, an die Caterina Br. 278 gerichtet hat.
[6] Diese letzte Zeile ist im Original in Latein: Ex Carthusia iij kal. maij