Brief 364 - An Papst Urban VI.
Am Beginn des Jahres 1380 schreibt Caterina ihren vielleicht schönsten Brief an Urban VI. Das Thema ist wieder die Reform der Kirche. Der Papst möge tatkräftig durchgreifen – aber mit Maß und Ziel, „denn das maßlose Handeln zerstört mehr, als es ordnet.“ Und jetzt (leider bereits zu spät) kommt erstmals auch ein leiser Tadel: „Mäßigt ein wenig diese plötzlichen Ausbrüche Eurer Natur!“
Mäßigt ein wenig Eure Heftigkeit!
Anfang Januar 1380[1]
Im Namen des gekreuzigten Jesus Christus und der lieben Jungfrau Maria.
Heiligster und gnädigster Vater in Christus, dem lieben Jesus! Ich, Caterina, Dienerin und Magd der Diener Jesu Christi, schreibe Euch in seinem kostbaren Blut. Ich möchte Euch mit einem mutigen Herzen sehen und bereit, die sündhaften Gewohnheiten auch wirklich zu tadeln, die gegen Euren heiligen Willen geschehen. Wobei ich voraussetze, dass Euch jedes Laster zuwider ist, wie es sich eben für eine gottesfürchtige Seele gehört, der eine Beleidigung gegen ihren Schöpfer nicht gefällt.
O Heiliger Vater, öffnet das Auge Eures Geistes und blickt auf die süße Wahrheit! Dann werdet Ihr erkennen, wie sehr Ihr dazu verpflichtet seid, ein wachsames Auge zu haben für Eure Söhne und dafür zu sorgen, dass Ihr Helfer bekommt – und zwar solche, die Euch unterstützen, die Schäflein zu behüten, besonders dann, wenn sie von einer schweren, todbringenden Schwäche, nämlich der Todsünde befallen sind. Wenn Ihr derartig Befallene seht oder Euch jene davon berichten, die Eure Heiligkeit lieben, dann dürft Ihr sie nicht mehr neben Euch im Schoß der heiligen Kirche dulden. Ihr müsst sie entweder zurechtweisen oder verhindern, dass sie weiterhin Schandtaten begehen – zumindest diejenigen, die Euch ganz besonders missfallen. Wobei ich weiß, Heiligkeit, dass Ihr mich diesbezüglich versteht und es nicht nötig ist, das weiter zu erläutern.
Ich sage Euch, die göttliche Güte beklagt sich darüber, dass seine Braut ausgebeutet wird von diesen alten Schmarotzerpflanzen, die in ihren Lastern, mit viel Stolz, Unkeuschheit, Geiz und in schwerster Simonie alt geworden sind.[2] Und jetzt beginnen die neuen Pflanzen, die durch ihre Tugend diese Laster beschämen sollten, bereits auch wieder zu wuchern und das gleiche zu tun.[3] Darüber klagt der gelobte Christus, dass seine Braut nicht von diesen Lastern befreit wird und Eure Heiligkeit nicht den nötigen Eifer dafür aufbringt.[4] Gewiss, Ihr könnt nicht gleich mit einem Schlag die Vergehen der Menschen beseitigen, wie sie ganz allgemein in der christlichen Religion geschehen und vor allem im klerikalen Stand, auf den Ihr ein besonderes Augenmerk richten müsst. Aber Ihr könnt und müsst wenigstens Eure Pflicht tun und das Euch Mögliche dazu beitragen, um den Schoß der heiligen Kirche reinzuwaschen. Andernfalls würdet Ihr Euer Gewissen belasten. Mit anderen Worten: Ihr müsst Euch um jene kümmern, die bei Euch und um Euch herum sind.
Entfernt die Fäulnis und setzt solche (Männer) ein, die auf Gottes Ehre, auf Eure Ehre und auf das Wohl der heiligen Kirche bedacht sind und die sich weder durch Schmeicheleien noch durch Geld verderben lassen! Wenn Ihr den Schoß Eurer Braut (der Kirche) reformiert, wird sich auch ihr übriger Leib mühelos erneuern lassen – zur Ehre Gottes, zu Eurer Ehre und zu Eurem Nutzen.[5] Durch das Zeugnis der Heiligkeit und mit dem Wohlgeruch der Tugenden wird die Häresie (das Schisma[6]) wieder zum Verlöschen gebracht. Alles wird Eurer Heiligkeit zu Hilfe kommen, wenn man sieht, wie Ihr die Laster auszurotten versucht und so Euer Wollen in die Tat umsetzt. Dann bin ich nicht mehr besorgt, dass Ihr Euch noch um Prachtgewänder oder um größeren oder kleineren Reichtum kümmert, sondern bin überzeugt, Ihr werdet jetzt nach aufrichtigen Männern Ausschau halten, die bereit sind, geradeaus zu gehen und nicht falschen Wegen zu folgen. Denn wisst Ihr, was sonst geschieht? Gott will in allem seine Braut reformieren, und er will nicht, dass sie weiter aussätzig bleibt: Wenn Eure Heiligkeit aber nicht, wie es Euch möglich wäre, das Nötige unternimmt – obwohl Ihr nur dazu von ihm bestellt und mit solcher Würde ausgestattet wurdet –, wird Gott selbst es besorgen: er wird diese krummen Hölzer durch viele Heimsuchungen so lange strecken, bis er sie auf seine Weise geradegebogen hat.[7]
Ach, Heiliger Vater, warten wir doch nicht, bis wir so gedemütigt werden! Müht Euch vielmehr tapfer! Tut im Stillen das Eure, aber mit Maß und nicht maßlos, sondern wohlwollend und ruhigen Herzens. Denn das maßlose Handeln zerstört mehr, als es ordnet.[8] Hört auf jene, die Gott fürchten! Sie werden Euch sagen, was nötig ist und gemacht werden muss, wenn sie Euch gemäß ihrem Wissen die Vergehen aufzeigen, die in der Umgebung Eurer Heiligkeit geschehen! Mein süßer Vater, Ihr solltet es doch als eine große Gnade betrachten, wenn Ihr solche Helfer bei Euch habt, die auf all diese Dinge achten, die Euch in schlechten Ruf bringen und den Seelen zum Schaden gereichen. Um der Liebe des gekreuzigten Christus willen mäßigt ein wenig diese plötzlichen Ausbrüche Eurer Natur![9] Leistet ihr Widerstand mit heiliger Tugend! Da Gott Euch von Natur aus ein tapferes Herz gegeben hat, bitte ich Euch dringend: Müht Euch, dass es auch übernatürlich gestärkt wird und Ihr voll Demut und mutigen Herzens nach der Tugend strebt und nach der Reform der heiligen Kirche! So werdet Ihr das Natürliche und das Übernatürliche besitzen. Denn das Natürliche allein brächte uns wenig, sondern führte uns vielmehr zu Ausbrüchen von Zorn und Stolz.[10] Wollten wir Vergehen, die wir an nahestehenden Personen wahrnehmen, nur vom Natürlichen her korrigieren, würde die Menschenfurcht unser Vorhaben hemmen.[11] Wenn aber das Verlangen nach der Tugend dazukommt und wir ohne Rücksicht auf uns selbst nur auf die Ehre Gottes achten, dann bekommen wir übernatürliches Licht, übernatürliche Kraft, Ausdauer und Beharrlichkeit, die uns nicht zögern lassen. Dann werden wir mutig, wie wir sein sollen.
Darum habe ich den höchsten und ewigen Vater gebeten und bitte ihn beständig, er möge Euch, Heiliger Vater aller gläubigen Christen, damit bekleiden. Denn mir scheint, Ihr habt es in diesen gegenwärtigen Zeiten jetzt sehr nötig.[12]
Ich möchte mein Leben für Euch und für die heilige Kirche beschließen in unaufhörlichen Tränen, in Nachtwachen und in andauernd gläubig-demütigem Gebet. Gott möge mir das gewähren, denn ich allein kann gar nichts tun. Aber ich weiß, dass Gottes unendliche Güte nichts verweigert, was in demütig-beharrlichem und gläubigem Gebet erfleht wird, sofern es ein rechtes Beten ist. Eure anderen gottesfürchtigen Diener und Söhne und Töchter tun dasselbe für Euch und werden es weiter tun[13] – und sie werden sogar noch mehr tun, weil sie gut sind, während ich voll von Fehlern bin. Was Euch betrifft, so handelt so, wie es Eurer Pflicht entspricht und in Euren Kräften liegt. So werden wir den Zorn Gottes besänftigen und den Dienern Gottes Erquickung verschaffen. Ich bin gewiss, wenn Ihr ein mutiges Herz habt, werdet Ihr es vollbringen, anders aber nicht.
Darum habe ich anfangs gesagt, ich möchte Euch mutigen Herzens sehen. So ersehnt es meine Seele, und so werdet Ihr mich erfreuen und trösten. Und ebenso die anderen Diener Gottes, die auf Eure Heiligkeit ihre Erwartung setzen,[14] Euch lieben und mit allem Eifer Gottes Ehre suchen, so wie auch die Eure – wobei sie das nicht heuchlerisch tun wie jene, die anders sprechen, als sie denken. Mehr will ich nicht sagen.
Bleibt in der heiligen und zärtlichen Liebe Gottes!
Lasst es Eurer Heiligkeit ein Anliegen sein, verlässliche Männer um Euch zu scharen! Solche, von denen man sieht, dass sie Gott fürchten, und die nicht den fleischgewordenen Teufeln, dem Gegenpapst und seinem Anhang, sofort mitteilen, was an Eurem Hof geschieht und gesprochen wird.[15]
Verzeiht, Heiliger Vater, meine Anmaßung! Ich habe Euch sicher nur geschrieben, weil mich die Güte Gottes und die augenscheinliche Not dazu gedrängt haben – und ebenso die Liebe, die ich zu Euch im Herzen trage. Ich wäre ja selbst gekommen und hätte nicht geschrieben. Aber ich wollte Euch nicht durch mein zu häufiges Kommen lästig werden. Habt Geduld mit mir! Denn solange ich (noch) lebe,[16] werde ich nicht aufhören, mit meinem Gebet, meiner Stimme und mit den Briefen Euch anzueifern, bis ich in Euch und an der heiligen Kirche das erfüllt sehe, was ich ersehne –, wobei ich weiß, dass Ihr selbst es noch viel mehr ersehnt: und dafür möchte ich mein Leben hingeben. So ist es notwendig, Heiliger Vater!
Schlafen wir nicht weiter! Demütig bitte ich Euch um den Segen!
Geliebter Jesus! Jesus, unsere Liebe!
[1] Der Brief hat inhaltliche Gemeinsamkeiten mit Gebet 25 vom 1. Jänner 1380. Nach Gardner (S. 330f) wären dieser und Brief 370 die letzten beiden Briefe, die Caterina in dieser Zeit an Urban gerichtet hat.
[2] Vgl. Dan 13, 52: „In Schlechtigkeit bist du alt geworden.“
[3] Urban hatte sich vier Monate zuvor, am 18. September 1379, praktisch ein völlig neues Kardinalskollegium geschaffen und dreiundzwanzig Erwählte mit dem Purpur bekleidet. Aber mit Ausnahme von Bonaventura da Padoa und dem Erzbischof von Pisa „waren sie entweder Männer von geringer Bedeutung oder aus politischen Gründen ernannt“ (Gardner, 285–286). Caterina klagt denn auch darüber, dass sie weit entfernt davon sind, ein Beispiel der Tugend abzugeben, sondern es bereits ihren Vorgängern nachmachen.
[4] Nicht nur die neuen Kardinäle haben sich als wenig tugendhaft erwiesen. Auch Urban selbst hat in seinem anfänglichen Reformeifer für die Kirche nachgelassen.
[5] Um seine Autorität zu sichern und seine Anhängerschaft zu vergrößern, verfolgte Urban hartnäckig seine politischen Ziele, wobei die innere Erneuerung der Kirche in den Hintergrund zu treten drohte. Caterina war dagegen überzeugt, dass die Frage der politischen Ordnungen zuallererst eine Frage der sittlichen und religiösen Werte in den Herzen der Menschen ist.
[6] Häresie und Kirchenspaltung sind im Sprachgebrauch Caterinas Synonyme, wie aus den zahlreichen Briefen hervorgeht, die sie im Zusammenhang mit dem Schisma diktiert hat.
[7] Vgl. Gebet 25 (1. Jänner 1380): „O wahrer Gott, ich weiß, dass Du das krumme Holz Deiner verhärteten Feinde so lange abschneidest und kürzer machst, bis es endlich gerade wird.“
[8] Urban ging bei seinem Reformwerk oftmals unklug und maßlos vor. Dabei ließ er sich von der Leidenschaftlichkeit seines Temperaments derart fortreißen, dass er sogar seine eigenen treuen Mitarbeiter vor den Kopf stieß.
[9] Obwohl Caterina über vieles hinweggesehen hatte und sie dem Papst von Herzen zugetan war, blieben ihr sein heftiger und selbstherrlicher Charakter und seine Zornesausbrüche nicht verborgen. Jetzt nahm sie sich die Freiheit, ihn auch einmal deutlich zu mahnen und zu warnen.
[10] Vgl. Gebet 25: „Weil ich sehe, dass Du Deinem Stellvertreter von Natur aus ein tapferes Herz gegeben hast, bitte ich Dich demütig und innig: Gieße dem Auge seines Verstandes das übernatürliche Licht ein! Ein Herz nämlich, das so beschaffen ist, neigt sonst zum Stolz ..., wenn dieses Licht nicht dazukommt.“
[11] Urban hatte nicht nur seinem eigenen herrschsüchtigen Charakter zu viel nachgegeben, sondern gewährte auch seinen Verwandten allzu leicht, was er nicht sollte. Caterina wusste davon, deshalb ihr Tadel.
[12] Vgl. Gebet 25: „Du hast Deinen Stellvertreter mit der Gabe eines mutigen Herzens ausgestattet; stimme ihn nun milder durch Deine heilige Demut! ...“
[13] Caterinas geistliche „Familie“, ihre Jünger und Schülerinnen, die mit ihr in Rom zusammenlebten.
[14] Der anfängliche Plan Caterinas, einen Rat von frommen und heiligen Männern zu bilden, um den Papst zu beraten und die Erneuerung der Kirche mitzugestalten, schien sein Ziel verfehlt zu haben.
[15] Dies ist – seit den Tagen der Apostel – wohl ein zu allen Zeiten aktuelles Problem: die nötige Diskretion und die Verlässlichkeit der Mitarbeiter, die nicht nur von der Kirche, sondern auch für die Kirche leben.
[16] Diese Bemerkung: „Habt Geduld mit mir, denn solange ich (noch) lebe ...“ könnte ein Hinweis auf ihre gesundheitliche Verschlechterung sein, die mit Beginn des Jahres 1380 eintrat.