Brief 360 – An Peronella
Über Peronella, die Tochter des Masello Pepe in Neapel, ist nicht mehr bekannt, als uns der Inhalt des Briefes über sie verrät. Wie aus dem Schlussteil ersichtlich wird, ist sie gerade dabei, in ein Kloster einzutreten. Caterinas Sekretär Neri Pagliaresi war im August 1379 im Auftrag des Papstes nach Neapel gereist. Vermutlich hat er die Kontakte zu unserer Adressatin geknüpft und Caterina zu diesem Brief veranlasst. Wie aus den Schlussbemerkungen zu entnehmen ist, sollte Neri der Adressatin weitere Ratschläge geben. Einen fügt Caterina am Ende ihres Briefes noch selbst an: „Sieh zu, dass Du häufig zur hl. Beichte gehst.“
Caterina hat bei ihrer zahlreichen Korrespondenz gelegentlich Teile eines Briefes zugleich für verschiedene Adressaten verwendet, wobei sie selbst oder ihre Sekretäre dafür Sorge trugen, dass die Kontinuität zwischen dem gemeinsamen Teil und der jeweils einmaligen Endung erhalten blieb. Der erste Teil des Briefes ist beinahe identisch mit Br. 194 an Tora Gambacorta und Br. 111 an Monna Biancina.
Lasse Dich nicht entmutigen!
Anfang September 1379
Im Namen des gekreuzigten Jesus Christus und der lieben Jungfrau Maria.
Liebste Tochter in Christus, dem lieben Jesus. Ich, Caterina, Dienerin und Magd der Diener Jesu Christi schreibe Dir in seinem kostbaren Blut. Ich möchte, dass Du Dein Herz und Deine Liebe von Dir selbst und von der Welt befreist, denn sonst kannst Du Dich nicht mit dem gekreuzigten Christus bekleiden, da die Welt mit Gott nichts gemeinsam hat.[1] Die Welt mit ihren ungeordneten Neigungen liebt den Stolz, Gott aber liebt die Demut. Die Welt sucht Ehrungen, Positionen und Macht. Gott dagegen verachtete sie und nahm Schande, Schmach, Beleidigungen, Hunger, Durst, Kälte und Hitze auf sich, bis hin zum schändlichen Tod am Kreuz. Mit diesem Tod hat er dem Vater Ehre erwiesen und uns die Gnade wiedergeschenkt. Die Welt sucht den Geschöpfen zu gefallen und kümmert sich nicht, daß sie den Schöpfer beleidigt; Christus dagegen hat nie etwas anderes gesucht, als um unseres Heiles willen den Auftrag des ewigen Vater zu erfüllen. Er wurde freiwillig arm – und die Welt strebt nach großen Reichtümern. Das sind zwei verschiedene Wege. Wenn sich unser Herz mit der Welt umgibt, dann ist es notwendigerweise leer von Gott. Wenn es dagegen der Welt entsagt hat, ist es notwendigerweise von Gott erfüllt. Davon sprach unser Erlöser, als er sagte: „Niemand kann zwei Herren dienen; wenn du dem einen dienst, wirst du den anderen verachten.“[2] Wir müssen daher unser Herz und unsere Zuneigung sehr entschlossen von diesem Tyrannen, der Welt, abwenden und sie unmittelbar auf Gott hin ausrichten, und zwar vollkommen frei und aufrichtig, ohne irgendeine andere Stütze, wobei wir auch nichts vortäuschen dürfen, denn er ist unser süßer Gott; er schaut auf uns und sieht ins Innerste unseres Herzens.
Es ist doch äußerst einfältig und dumm von uns: Wir wissen, dass Gott uns sieht und ein gerechter Richter ist, der jede Sünde bestraft und jede gute Tat belohnt. Doch wir sind wie blind und vergeuden ohne jede Furcht die Zeit, die uns nicht einmal sicher ist. Ständig klammern wir uns an etwas fest, und wenn Gott uns einen Ast abschneidet, dann greifen wir nach dem nächsten. Wir sorgen uns mehr um die Menschen oder die vergänglichen Dinge, die wie der Wind verwehen, als darum, Gott nicht zu verlieren. Das alles geschieht wegen der ungeordneten Liebe, mit der wir uns den Geschöpfen und Dingen zuwenden und die wir außerhalb von Gottes Willen besitzen und behalten wollen. So kosten wir bereits in diesem Leben einen Vorgeschmack der Hölle. Denn Gott lässt es zu, dass jene, deren Liebe ungeordnet ist, sogar sich selbst unerträglich werden. Ihre Seele und ihr Leib sind in einem ständigen Kriegszustand. Die Dinge, die ihnen gehören, bereiten ihnen Sorgen aus Angst, sie könnten sie wieder verlieren, und so erschöpfen sie sich Tag und Nacht darin, sie vor dem Weniger-werden und dem Verlieren zu bewahren. Und was sie nicht haben, bereitet ihnen Qualen, weil sie sich danach sehnen und darunter leiden, wenn sie es nicht haben. So findet unsere Seele niemals Frieden in diesen weltlichen Dingen, da sie alle geringer sind als wir. Sie sind für uns gemacht, nicht wir für sie. Und wir sind für Gott geschaffen, damit wir uns an ihm, dem höchsten und ewigen Gut erfreuen.
Nur Gott kann uns sättigen. In ihm sind wir im Frieden, und in ihm finden wir Ruhe, weil wir nichts mehr ersehnen oder wünschen können, das wir nicht in Gott finden.[3] Sobald wir ihn gefunden haben, finden wir in ihm auch die Weisheit, die uns zu beschenken weiß, und den Willen, der uns beschenken will. Und das spüren wir, denn er hat uns nicht beschenkt, weil wir ihn darum gebeten hätten, sondern bevor wir noch überhaupt existierten. Ohne dass wir ihn darum ersuchten, hat er uns nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen und uns im Blut seines Sohnes neugeschaffen zur Gnade. Deshalb findet unsere Seele nur in ihm und in keinem und nichts anderem ihre Ruhe. Denn er ist der höchste Reichtum, die höchste Weisheit, die höchste Güte und die höchste Schönheit. Er ist ein so unvorstellbares Gut, dass niemand außer ihm selbst ermessen kann, wie gut und groß und herrlich er ist – und zwar so sehr, dass er weiß, wie das fromme Verlangen derer, die sich von der Welt befreien und mit ihm bekleiden möchten, zu sättigen und zu erfüllen ist – und er kann es und will es auch.[4]
Ich möchte also nicht, dass wir noch länger schlafen, liebste Tochter. Vielmehr sollten wir uns rasch erheben, denn unser Leben rückt dem Tod ständig näher. Ich möchte, dass Du die vergänglichen und weltlichen Dinge so gebrauchst und die Menschen so liebst, als wären sie Dir nur geliehen und nicht Dein Eigentum. Das aber kannst Du nur dann, wenn Du ihnen Deine Zuneigung entziehst, sonst nicht. Wir müssen uns von ihnen trennen, wenn wir an der Frucht des Blutes des gekreuzigten Christus teilhaben wollen. Das ist der Grund, warum ich gesagt habe, dass ich Dein Herz und Deine Liebe von der Welt befreit sehen möchte.
Löse Dich also, liebste Tochter, in allem von diesen Banden, damit Du eine wahre Dienerin und Braut des gekreuzigten Christus sein kannst, und folge seinem süßen Willen. Dieser Wille lädt Dich zum Hochzeitsmahl des ewigen Lebens ein, denn Christus will nichts anderes als Deine Heiligung.[5] Aber gib acht, liebste Tochter! Du musst es so machen wie die klugen Jungfrauen und nicht wie die törichten, die bis zum Schluss gewartet haben, ihre Lampen zu füllen, und dann wegen ihrer Nachlässigkeit die Türen verschlossen fanden. Die klugen und eifrigen, die die Einladung des Bräutigams schätzten und ihn liebten, haben rechtzeitig vorgesorgt, ehe ihnen die Zeit zu knapp wurde.[6] Du, die Du eine treue Braut Christi sein solltest, sollst also die Lampe tragen, das heißt Dein Herz. Dein Herz sollte eine Lampe sein, unten eng und oben weit – das heißt, eng in seiner Liebe zur Welt und weit offen für Gott. Innen sollte das Öl der wahren Demut sein und das Feuer der glühendsten Liebe mit dem Licht des heiligen Glaubens. Dann wirst Du die Tür offen finden, das Tor des Himmels, die den Törichten verschlossen sein wird, die alles bis zum Tod aufschieben, wo ihnen keine Zeit mehr bleibt.
Wenn dann das Tor offen ist, wirst Du den ewigen Bräutigam vorfinden, der Dich zu sich nehmen wird. Du wirst an seiner Schönheit und Güte teilhaben, an seiner Weisheit und Milde und an seinem immensen und ewigen Reichtum, der niemals abnimmt. Er ist eine Speise, die sättigt. Doch obwohl Du gesättigt wirst, bleibst Du stets hungrig, aber dieser Hunger kennt keinen Schmerz und die Sättigung keinen Überdruss. Freue Dich, Tochter, in dieser süßen Heimat zu wohnen. Diese Freude wirst Du erwerben durch das Licht und das Feuer und wie gesagt mit dem Öl der Demut und durch beständiges, demütiges und vertrauensvolles Gebet.
Bemühe Dich darum, nachts zu wachen. Fliehe den gesellschaftlichen Umgang und zieh Dich zurück in Deine Zelle. Lasse das müßige und eitle Reden über die Erinnerungen an die Welt, damit dieser Gestank Deine Seele nicht vergiftet. Bezähme Deinen Leib durch Fasten und Buße. Hüte Dich davor, Dich fein zu kleiden und weich zu schlafen, damit Dein Herz sich nicht vor Eitelkeit aufbläht oder das Fleisch gegen den Geist rebelliert. Mit einem heiligem Hass und fest entschlossen, Gott in Wahrheit zu wollen – so musst Du gegen Dich selbst vorgehen. Lasse die Vernunft beständig gegen die Sinnlichkeit, den Teufel und die Welt ankämpfen – denn ich weiß, dass sie Dir eine Menge Schwierigkeiten bereiten werden. Hab keine Angst, dass diese Disziplin Dich schwächt, sondern kämpfe tapfer und vertraue darauf, dass Du für den gekreuzigten Christus alles vermagst.[7] Lasse Dich nicht durch irgendwelche Kämpfe, die Du zu bestehen hast, entmutigen oder von Deinen Übungen abhalten. Versuchungen werden uns nur in dem Maße zur Schuld, wie wir ihnen zustimmen.[8] Halte Deinen Willen stets mit dem süßen Willen Gottes verbunden und freue Dich, mit Deinem Bräutigam am Kreuz zu sein. Erfreue Dich an nichts anderem als am Kreuz des gekreuzigten Christus, indem Du ihm nachfolgst auf dem Weg der Schmerzen, der Verhöhnung, der Schande und des Spotts. Fülle Dein Gedächtnis mit dem Gedenken an das Blut, in dem alles Bittere süß und jede große Last leicht wird. Nichts ist so beschwerlich oder anstrengend, dass wir es nicht tragen könnten.
Mir scheint, dass Du solcher Gedanken bedarfst, weil Du das Schlachtfeld betreten hast,[9] und auch weil Du unter dem Tod Deines Bruders zu leiden hast. Du solltest Dich über seinen Tod freuen und nicht traurig sein, denn Dein Bruder hat seinen Lauf bereits vollendet.[10] Er war das Leben Deiner Seele. Daher solltest Du Dich über Dein zukünftiges Wohl und über seines nicht grämen, sondern dem Namen Gottes Ruhm und Ehre erweisen. Lasse die Toten ihre Toten begraben. Du aber folge dem gekreuzigten Christus.[11] Mehr sage ich Dir nicht.
Wie ich gehört habe, hast Du den Wunsch, eine wahre Ordensfrau zu sein. Ich freue mich, dass Du weißt, wie Du der Welt einen Tritt geben kannst, und das tust, indem Du Dich dem Joch des heiligen Gehorsams unterstellst. Ich habe mit Neri darüber gesprochen, wie Du Dich meiner Meinung nach verhalten sollst. Er wird Dich darüber informieren. Nimm Dir vor, dass Du in allem eine wahre Dienerin des gekreuzigten Christus sein möchtest. Mehr will ich Dir nicht sagen. Bleibe in der heiligen und zärtlichen Liebe Gottes.
Sieh zu, dass Du häufig zur heiligen Beichte gehst, und nimm Dir gelegentlich Zeit, mit den Dienerinnen Gottes zusammen zu kommen.
Geliebter Jesus! Jesus, unsere Liebe!
[1] Vgl. Röm 13,14: „Legt (als neues Gewand) den Herrn Jesus Christus an, und sorgt nicht so für den Leib, dass die Begierden erwachen.“
[2] Vgl. Mt 6,24; Lk 16,13.
[3] Der heilige Augustinus bekennt in seinen Confessiones (I, 1): „Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in Dir.“
[4] Bis hierher ist der Brief nahezu identisch mit Br. 194 an Tora (Chiara) Gambacorta. Dieser letzte Satz ist zugleich ein weiteres Beispiel für das von Caterina oft verwendetes klassische trinitarische Bild: Gott Vater als die Macht (die „kann“), der Sohn als die Weisheit (die „weiß wie“) und der Geist als die Gnade und Liebe (die „will“).
[5] 1 Thess 4,3.
[6] Vgl. Mt 25, 1–13
[7] Phil 4,13: „Alles vermag ich durch ihn, der mir Kraft gibt.“
[8] Vgl. Br. 211 an Raimund von Capua: „Ihr seht also, dass wir zur Zeit der Finsternis gar nicht fliehen und traurig sein müssen, denn aus der Finsternis kommt Licht. ... Weil aus der Ungeduld die Geduld erworben wird, werden Menschen, die sich ihrer eigenen Ungeduld bewusstwerden und darunter leiden, geduldig. Sie sind ungeduldig mit ihrer Ungeduld, und das schmerzt sie mehr als irgendetwas anderes. So lernen wir durch das Gegenteil die Vollkommenheit, ohne es gleich zu bemerken, aber auf einmal entdecken wir, dass wir mitten in den Stürmen und Versuchungen reifer geworden sind. Es gibt keinen anderen Weg, um in den Hafen der Vollkommenheit zu gelangen. ... Wir können keine Tugend erwerben oder auch nur ersehnen, wenn wir nicht mit heiliger Geduld Begierden, Belästigungen und Versuchungen ertragen aus Liebe zum gekreuzigten Christus. Darum sollten wir in solchen Zeiten der Prüfung jubeln, denn sie sind eine Quelle vieler Tugenden und Freuden.“
[9] Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass Peronella kurz vor einem Klostereintritt steht oder vielleicht bereits eben eingetreten ist.
[10] 2 Tim 4,7: „Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, die Treue gehalten.“
[11] Vgl. Mt 8,22.