Brief 345 – An Giovanna, Gräfin von Mileto

Varazze, Caterina betend vor dem Gekreuzigten (Foto Mayr)

 

Giovanna d‘Aquino war die Gemahlin (oder Witwe) des Ruggiero di Sanseverino, des Grafen von Mileto, Terranova und Belcastro. In seinem Brief vom 1. September 1379 an Neri di Landoccio Pagliaresi in Neapel bemerkt Bartolomeo Dominici, daß Caterinas geistliche Familie in Rom von mehreren adeligen Damen aus Neapel durch einen gewissen Fra Roberto sechs Goldflorinen bekommen habe. Eine dieser Damen war die Gräfin Giovanna. Da Caterina in ihrem Brief an die Gräfin über diese Gabe keinerlei Bemerkungen macht, könnte er kurz vorher entstanden sein.

Der Brief handelt über die Gefahren des Reichtums, über den wahren Reichtum der Seele und über die Notwendigkeit und den Erwerb der Tugenden. Wie kaum in einem anderen Brief kommt dabei Caterina auch auf die Seligkeit des ewigen Lebens zu sprechen, in der als einziges nur mehr die Liebe herrscht, da es dort aller anderen Tugenden nicht mehr bedarf.

 

Wir müssen alles in Gott besitzen

Herbst 1379

Im Namen des gekreuzigten Jesus Christus und der süßen Jungfrau Maria.

Liebste Schwester und Tochter in Christus, dem lieben Jesus. Ich, Caterina, Dienerin und Magd der Diener Jesu Christi, schreibe und bestärke Euch in seinem kostbaren Blut. Ich möchte, dass Ihr die Welt mit all ihren Vergnügungen aus ganzem Herzen verachtet und in Wahrheit den Reichtum des gekreuzigten Jesus Christus sucht.

Wir haben allen Grund und alle Ursache die weltlichen Freuden zu verachten, wenn wir überlegen, von welch geringer Dauer und von welcher Unbeständigkeit sie sind und wie sehr sie unserem Heil schaden. Ich möchte jedoch nicht, dass Ihr mich so versteht, als wären Besitz und weltliche Güter an sich schädlich für uns und würden unseren Tod bedeuten. So ist es nicht. Es ist vielmehr die ungeordnete Liebe und Zuneigung, mit welcher wir sie besitzen. Denn wenn die Dinge an sich schädlich gewesen wären, hätte Gott sie weder erschaffen noch uns geschenkt, denn Er, der über alle Maßen gut ist, kann nichts als Gutes wollen oder schaffen. Er hat sie also gut und zu unserem Wohl geschaffen. Was aber macht sie dann schlecht? Unser schlechter Gebrauch, wenn wir sie ohne Gottesfurcht besitzen. Wenn wir sie hingegen in heiliger Furcht besitzen und ihnen nicht mehr Wert zumessen, als ihnen zukommt, und nicht Menschen, Reichtum, Stand oder weltliche Ehren zu unserem Gott erheben, sondern sie lieben, besitzen und gebrauchen um Gottes willen, dann können wir sie guten Gewissens behalten. Es ist richtig, dass es zu größerer Vollkommenheit führt, Gott gefälliger ist und mehr Früchte bringt und weniger Last bedeutet, wenn wir uns sowohl geistig als auch tatsächlich von diesen Dingen trennen. Wenn wir sie aber behalten wollen, dann sollten wir jedoch unser Herz und unsere Zuneigung von ihnen lösen – und ich möchte, dass Ihr das tut. Denn der weltliche Reichtum ist eine große Armut und kann nur von demjenigen besessen werden, der ihn ganz und gar geringschätzt.

Der wahre Reichtum ist jedoch der, den uns weder der Teufel noch die Menschen nehmen oder ihn verhindern können – und das sind die wahren und wirklichen Tugenden. Es ist dies ein beständiger Reichtum, der uns von jeder Armut befreit. Er weidet uns in Gnade, bedeckt unsere Blöße, legt an unserem Todestag Rechenschaft vor dem höchsten Richter für uns ab und bezahlt die Schuld, zu der wir verpflichtet sind – das heißt, durch die Tugend, die wir ihm in Liebe erweisen und bezeugen, begleichen wir bei Gott unsere Liebesschuld. Dieser Reichtum begleitet uns während unseres Lebens der Pilgerschaft auf dem Weg, auf dem wir zahlreichen Feinden begegnen, die vor uns hintreten und uns töten wollen. Unter ihnen befinden sich drei Hauptfeinde – die Welt, der Teufel und das schwache Fleisch –, von denen jeder versucht, uns mit vergifteten Pfeilen zu durchbohren: die Welt mit ihren falschen Vergnügungen und eitlen Freuden, das schwache Fleisch und unsere Sinnlichkeit mit ungeordneter Liebe und mit eitlen und leichten Annehmlichkeiten, und der Teufel mit zahlreichen Gedanken oder indem er dafür sorgt, dass unser Nächster uns unsere Habe fortnimmt oder anderes Unrecht antut, damit wir die brüderliche Nächstenliebe verlieren und ihm gegenüber Hass und Verachtung empfinden. Von all diesen Feinden befreien uns die Tugenden.

Die Tugenden geben uns Licht und mit dem Licht führen sie uns zur Pforte des ewigen Lebens. Diese Pforte ist geöffnet durch das Blut Christi. Die Liebe, die Mutter aller Tugenden, tritt nun ein. Die anderen Tugenden aber bleiben draußen – nur deren Früchte nimmt die Liebe mit. Denn wenn die Tugendhaften dieses Leben verlassen, gehen sie ins ewige Leben ein (nur) mit der Tugend der Liebe. Die anderen Tugenden sind im ewigen Leben nicht mehr notwendig und daher werden sie nicht mitgenommen. Dort brauchen wir keine Tugend des Glaubens, da wir Sicherheit haben über das, was wir geglaubt haben. Wir brauchen dort auch keine Hoffnung, da wir alles haben, was wir erhofften. Und so verhält es sich mit allen anderen Tugenden, die wir in diesem Leben haben sollten und ohne die wir Gott verlieren würden. Dort brauchen wir nur die Liebe. Denn das ewige Leben ist nichts anderes als die Liebe, mit der wir Gottes Wesen verkosten. Seine Liebe hat uns würdig gemacht, ihn von Angesicht zu Angesicht zu schauen und in diesem Schauen liegt unsere Glückseligkeit. In dieser Schau lässt uns die Liebe an dem jeweiligen Gut des anderen teilhaben, an der Seligkeit aller Engel und all derer, die im ewigen Leben sind. Aus Liebe lässt Gott es geschehen, dass wir uns an ihm erfreuen, ja, in ihm erfreuen wir uns alle, erfüllt und gesättigt im friedvollen Meer seines Wesens. Und so gesättigt hungern wir noch, doch dieser Hunger kennt keinen Schmerz und die Sättigung keinen Überdruss.[1] Die Liebe und die Zuneigung unter uns sind so stark, dass der Kleine den Großen nicht beneidet, sondern alle zufrieden sind und einer sich im Gut des anderen ausruht. Daher braucht man dort nur die Liebe, und ohne sie kann niemand dorthin gelangen.

Die elenden Menschen denken weder an dieses Gut noch an das Übel, das sie erwartet, wenn sie gegen den süßen Willen Gottes handeln, um eine egoistische Laune zum Bösen zu erfüllen. Um das Laster zu erwerben, kehren sie der Tugend den Rücken. Sie tauschen das Leben ein für den Tod, Endliches für die Unendlichkeit. Für die irdischen Güter verzichten sie auf die Güter des Himmels. Um der Geschöpfe willen verlassen sie ihren Schöpfer. Um dem Teufel zu dienen und ihm auf dem Weg der Lüge zu folgen, geben sie den gekreuzigten Christus auf. Sie hören auf, der Lehre dessen zu folgen, der wahrhaft Weg, Wahrheit und Leben ist, so dass wer immer ihm nachfolgt, im Licht geht und nicht in der Finsternis.[2] Um ihr Herz mit den vergänglichen Dingen der Welt zu füllen, nehmen sie es in Kauf, vor Hunger umzukommen, da sie die Speise der Engel verschmähen, die uns Gott in seinem Erbarmen gegeben hat. Wohl sehen wir, dass er auf dem Tisch des Altares als Speise dargeboten wird, ganz Gott und ganz Mensch. Doch um sich mit den Kümmernissen der Welt zu bekleiden, legen sie das hochzeitliche Gewand ab und erfrieren dabei. Beim Berauben der anderen berauben sie sich selbst.[3] Aber sie sind blind und wahnsinnig und bedenken nicht ihr eigenes Elend. All das geschieht aufgrund ihrer ungeordneten Liebe zur Welt, weil sie die vergänglichen Dinge außerhalb des süßen göttlichen Willens lieben und besitzen.

Ich möchte nicht, dass Euch das geschieht, sondern ich möchte – wie ich bereits gesagt habe –, dass Ihr Euer Herz und Eure Liebe von diesen Dingen gänzlich befreit. Ich möchte, dass Ihr die Menschen und die geschaffenen Dinge um Gottes willen liebt und besitzt – und nichts ohne ihn. Liebt und dient Gott von ganzem Herzen und aus all Euren Kräften. Lasst nichts dazwischenkommen zwischen Euch und ihm; und liebt Euren Nächsten mit wahrer und tiefer Demut so, wie Ihr Euch selbst liebt.

Ihr werdet mir jetzt sagen: „Wie kann ich diese Demut erlangen, wenn ich mich voller Eigenliebe fühle und geneigt zu jeder Art von Hochmut?“ Meine Antwort ist, dass wenn Ihr es wollt, Ihr mit Hilfe der göttliche Gnade diesen Stolz schnell ablegen könnt. Denn diese Gnade wird jedem geschenkt, der sie möchte. Und zwar geschieht das so: Mit dem Licht sehen wir die Demut Gottes und das Feuer seiner Liebe. Diese Demut ist so tief, dass es den menschlichen Verstand übersteigt. Hat man denn bei einem Menschen je etwas Ähnliches gesehen? Sicher nicht! Und je etwas Größeres, als zu sehen, wie Gott sich zur Menschheit herablässt, wie der Allerhöchste zu einer solchen Niedrigkeit hinabsteigt, oder zu sehen, wie er sich mit unserer Menschlichkeit bekleidet, so dass Gott sichtbar unter uns Menschen lebte, unsere Sünden, unsere Armut und unser Elend auf sich genommen und sich bis zum schändlichen Tod am Kreuz erniedrigt hat? Die Größe hat sich klein gemacht zur Schande der aufgeblasenen, hochmütigen Menschen, die immer versuchen, größer zu sein, ohne zu bemerken, dass sie in äußerste Tiefe und äußerstes Elend stürzen. In Gott also werdet Ihr die Quelle der Demut finden und sie entspringt in unserer Seele und in der Seele jedes vernunftbegabten Geschöpfes.

Betrachten wir die Liebe Gottes. Wo sonst hätte man jemals gesehen, dass derjenige, der beleidigt worden ist, freiwillig mit seinem Leben für diejenigen bezahlt, die ihn beleidigt haben? Das finden wir nur im demütigen, unbefleckten Lamm, das für uns schlimme Schuldner die Schuld bezahlte, die es nie begangen hat. Wir waren und sind Diebe, und er wollte ans Holz des heiligsten Kreuzes genagelt werden. Er hat die bittere Medizin eingenommen, um uns gesund zu machen, und er hat uns aus seinem Blut das Bad bereitet. Wie ein Verliebter hat er seinen Leib für uns geöffnet, so dass aus allen Teilen sein Blut verströmte, und zwar mit solcher Großzügigkeit und solchem Liebesfeuer und mit solcher Duldsamkeit, dass sein Schrei nicht einmal als Flüstern zu hören war.[4] Bei dieser Großzügigkeit sollten sich die geldgierigen Geizhälse schämen, welche die Armen Hungers sterben sehen und sich nicht einmal nach ihnen umdrehen! Sie handeln sogar noch schlimmer. Denn nicht nur, dass sie nichts geben, so bestehlen sie andere auch noch! Angesichts besagter Liebe werden die Ichbezogenen, die sich in ihrer Selbstsucht nichts daraus machen, gegen Gott und die Wahrheit zu sündigen, in Verwirrung gebracht. Möge die Geduld Gottes die Ungeduldigen in Schrecken versetzen, die nicht einmal eine Kleinigkeit ertragen wollen, sondern sich in Hass und Zorn gegen ihren Nächsten verzehren!

So haben wir nun herausgefunden, wie wir zur Tugend (der Demut) gelangen, nämlich durch die Erkenntnis der Güte Gottes und durch das Licht, mit dem wir seine Demut und Liebe wahrnehmen. Damit werden wir sie erwerben, wenn wir sie in unserer Seele suchen. Anderswo oder auf andere Weise werden wir sie niemals finden. Sie ist Fundament, Anfang, Mitte und Ziel jeder Tugend und unserer Vollkommenheit. Durch sie gelangt Ihr zur Verachtung der Welt und Eurer selbst. So wird Euer Leben jederzeit und an jedem Ort, an dem Ihr Euch befindet, geordnet. Und nicht nur Euch selbst, sondern auch Eure Familie werdet Ihr nach seinem Gefallen ausrichten und großziehen, in heiligmäßigen, guten Sitten – wie eine Mutter es gegenüber ihren Kindern tun soll und eine Herrin gegenüber ihren Dienern. (Damit eingeschlossen) ist auch der Gang zur heiligen Beichte und zur heiligen Kommunion, wo und wann es von der heiligen Kirche vorgeschrieben ist. Ihr müssen wir bis zum Tod gehorsam sein und ebenso Papst Urban VI. Richtet danach all Euer Handeln aus.

Ich bitte Euch innig, dass Ihr mit großem Eifer auf das demütige und verliebte Lamm blickt, damit wir uns gemeinsam mit ihm durch Gnade in diesem Leben erfreuen und am Ende mit unserer Mutter Liebe in die Herrlichkeit des unvergänglichen Lebens eingehen. Mehr habe ich Euch nicht zu sagen. Bleibt in der heiligen und zärtlichen Liebe Gottes.

Geliebter Jesus! Jesus, die Liebe!



[1] Vgl. Ps.-Augustinus, Meditatio 27 (PL 40, 921): „Die Seligen werden Verlangen haben nach der Anschauung Gottes verbunden mit Sättigung und Sättigung mit Verlangen. Aber ihre Sehnsucht wird keine Quelle der Qual sein, noch ihre Sättigung eine Quelle des Überdrusses.“ Die Beschreibung des ewigen Lebens mit den Wortpaaren „Sättigung ohne Überdruss“ und „Hunger ohne Qual“ wird von Caterina auch in anderen Briefen verwendet (Br. 62, 65, 110, 120, 159, 161, 162, 163, 254, 264, 360).

[2] Vgl. Joh 14,6 und 8,12.

[3] Vgl. Mt 16,25 (Mk 8,35; Lk 9,24): „Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen.“

[4] Vgl. Jes 53,7

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