Brief 30 – An die Äbtissin von Santa Marta

Madonna mit dem Jesuskind, Castiglione d'Orcia (Foto Mayr)

 

Das Kloster Santa Marta, im Borgo[1] Nuovo di San Marco in Siena gelegen, wurde 1328 von Donna Milla, der Tochter des Grafen von Elci gestiftet und nach der Regel des hl. Augustinus errichtet. Caterina schätzte die Schwestern sehr und legte dem Senator von Siena, Pietro del Monte Santa Maria, die Sache dieser „vollkommenen Dienerinnen Gottes” besonders ans Herz. [2] Sr. Giovanna, Tochter des Martino da Siena, wurde am 19. August 1367 Äbtissin auf Lebenszeit und war noch im Amt am 18. August 1402.[3] Sie muss daher jene Äbtissin gewesen sein, an die dieser Brief adressiert ist, da es etwa um 1368 war, als Caterina ihre dreijährige Zurückgezogenheit zu Hause beendete. Die andere Schwester, an die dieser Brief auch noch ausdrücklich gerichtet ist, ist wahrscheinlich Niccolosa di Francesco di Spinello dei Corretani, die am 8. Juli 1402 als Subpriorin des Klosters aufscheint. Der Brief gehört zu den frühesten Briefen Caterinas und wurde von ihr möglicherweise von Montepulciano aus geschrieben. Er hat zudem vieles gemeinsam mit Br. 127.[4]

Caterina antwortet auf eine Einladung zu einem Besuch im Kloster und auf einige konkrete Fragen. Ihr Rat: Die Äbtissin möge die Last ihres Amtes geduldig ertragen und den Alltäglichkeiten nicht aus dem Weg gehen. Nicht auf abgehobenen Wegen ist das Heil zu finden, sondern durch das Annehmen der gewöhnlichen irdischen Umstände, da die Dinge „nur in dem Maße irdisch sind, als wir sie dazu machen.” Der Brief enthält neben einer ausführlichen Darlegung über die „Zelle der Selbsterkenntnis“ auch noch sehr dichte Aussagen über die Mitwirkung Mariens am Erlösungswerk ihres Sohnes Jesus Christus.

 

An die Äbtissin und an Sr. Niccolosa im Kloster Santa Marta in Siena

Ertragt die Last des Amtes!

Frühjahr 1374

Im Namen des gekreuzigten Jesus Christus (und der lieben Jungfrau Maria).

Liebste Mutter und Schwester Äbtissin, liebe Schwester und Tochter Niccolosa! Ich, Caterina, unnütze Magd und Dienerin Jesu Christi und auch Eure, möchte an Euch wie ein Diener handeln, der seinem Herrn alles bringt: so will ich Euch ständig vor das Angesicht des heiligsten Erlösers tragen. Und dann werden wir von seiner unaussprechlichen Liebe die Gnade erflehen, die andere Tat der Liebe zu verrichten, nämlich wieder in die (geistige Sphäre) der Demut, d.h. des Dieners zurückzukehren. So werden wir die Gnade der Selbsterkenntnis und der Gotteserkenntnis erlangen.[5]

Die Tugend und die Fülle der Gnade erlangen wir aber nur, wenn wir in der Zelle unseres Herzens und der Seele wohnen, denn hier finden wir den Schatz, der uns Leben gibt: den heiligen Abgrund der Selbsterkenntnis und der Gotteserkenntnis. Aus dieser heiligen Erkenntnis, liebste Schwestern, kommt jener heilige Hass, der uns mit der höchsten ewigen und Ersten Wahrheit vereint, weil wir erkennen, dass wir selbst die niedrigste Lüge und unsere Werke ein Nichts sind.[6]

Wenn wir von diesem Hass erfüllt sind, werden wir seine Güte verkünden und aus ganzem Herzen rufen: „Du allein bist gut.”[7] Du bist jenes friedvolle Meer, aus dem alle Dinge ihr Sein empfangen haben.[8] Die Sünde aber, die ein Nichts ist, ist nicht in Gott. So sagte (einmal) die höchste Wahrheit zu einer unnützen Dienerin:[9] „Ich möchte, dass du eine Liebende bist und alle Dinge liebst, denn sie alle sind gut und vollkommen und der Liebe würdig. Ich, das höchste Gut, habe sie alle geschaffen – außer der Sünde. Sie ist nicht in Mir, liebste Tochter, denn wäre sie in Mir, so wäre auch sie wert, geliebt zu werden.” O unschätzbare Liebe! Du willst, dass wir uns hassen, aber nur hinsichtlich unseres verkehrten Willens, weil aus ihm das kommt, was nicht in Dir ist.

Also auf, liebe Mutter und Schwester in Christus Jesus! Lasst uns laufen, laufen, laufen auf dem Weg der Wahrheit – indem wir uns selbst absterben! Wenn Ihr mich fragt, wer oder was sterben muss, so lautet die Antwort: unser verkehrter Wille. Denn was sagt der liebende Apostel Paulus? „Darum ertötet die Glieder eures Leibes.”[10] Er nennt zwar nicht den Willen, aber er wünscht, daß er getötet und nicht bloß unter Kontrolle gehalten wird. O süße Liebe, ich sehe kein anderes Mittel als das Schwert, das Du, Geliebter, in Deinem Herzen und in Deiner Seele hattest: den Hass gegen die Sünde und Deine Liebe für die Ehre des Vaters und für unser Heil.[11] O süße Liebe, dies war jenes Schwert, welches das Herz und die Seele Deiner Mutter durchbohrte.[12] Der Leib des Sohnes wurde durchbohrt, und so geschah es auch mit seiner Mutter, denn sein Fleisch war das ihrige. Darum war es ganz natürlich, dass sie seinen Schmerz als den ihren empfand, denn aus ihr hatte er ja sein Fleisch angenommen. Aber – o Feuer der Liebe! – ich sehe hier noch eine andere Vereinigung: Er hat die Gestalt des Fleisches angenommen, und sie bekam – gleich einem warmen Wachs – seine Sehnsucht und Liebe nach unserem Heil in sich eingeprägt durch das Siegel des Heiligen Geistes.[13] Denn durch dieses Siegel ist das ewige göttliche Wort Fleisch geworden.

Wie ein barmherziger, ausgebreiteter Baum empfängt sie in ihrem Innern die Seele des Sohnes, die nach dem Willen des Vaters geopfert, verwundet und durchbohrt wurde. Und wie ein veredelter Baum wird sie vom Schwert des Hasses und der Liebe verwundet. Hass und Liebe haben sich jetzt in der Mutter und im Sohn dermaßen gesteigert, dass der Sohn seinem Tod förmlich entgegeneilt, weil er sich danach sehnt, uns das Leben zu geben. Der Hunger und die Sehnsucht, seinem Vater zu gehorchen, sind in ihm so groß, dass er ohne Rücksicht auf sich selbst dem Kreuz zustrebt. Und seine liebste, mildeste Mutter tut dasselbe. Bereitwillig opfert sie die natürliche Liebe zu ihrem Sohn. Und zwar nicht nur, indem sie ihn nicht vom Tod abhält (wie es jede Mutter tun würde), sondern sie ist sogar bereit, sich selbst zur Leiter zu machen; sie will, dass er stirbt.[14] Das ist gar nicht überraschend, und zwar deshalb, weil sie nämlich von der Lanze der Liebe für unser Heil verwundet worden ist.

Liebste Schwester und liebste Töchter in Christus Jesus! Wenn dieses Feuer der heiligen Sehnsucht der Mutter und des Sohnes in uns bisher noch nicht entfacht worden ist, so dürfen jetzt unsere Herzen nicht länger widerstehen. Ich bitte Euch im Namen des gekreuzigten Christus: Lasst Eure verhärteten Herzen erweichen vom überfließenden feurigen Blut des Gottessohnes. Die Glut dieses Blutes ist imstande, die Härte und Kälte jedes Herzens zu erweichen! Und wie? Nur in der zuvor genannten Weise: durch Hass und Liebe, und das bewirkt der Heilige Geist, wenn er in die Seele kommt. Deshalb dränge und befehle ich Euch: Zeigt Eure Bereitschaft, von diesem Schwert durchbohrt zu werden!

Wolltet Ihr fragen, wie Ihr Eure Bereitwilligkeit zeigen könnt, so möchte ich, dass Ihr sie auf zwei Weisen vor Gott zum Ausdruck bringt. Das erste ist, dass Ihr Euch die Dinge nicht nach eigenen Vorstellungen zurechtlegt, sondern so, wie er, der IST, sie fügen will. So werdet Ihr von Eurem eigenen Willen befreit und mit seinem bekleidet werden. Und weil Ihr mir von Eurem Wunsch geschrieben habt, ich sollte Euch doch besuchen kommen, so will ich, dass dieser Wunsch gemäßigt werde durch das süße Joch des Gottessohnes. So werdet Ihr dies und alle anderen wenn auch unangenehmen Umstände gerne annehmen, weil Ihr wisst, dass es nur zu eurem Wohl geschieht. Lasst uns also jetzt zu allem, was kommt, gerne unser Ja sagen.

Das Zweite ist Eure Unterwerfung unter das Joch des heiligen Gehorsams. Besonders Ihr, ehrwürdige Frau Äbtissin, solltet Eure Bereitschaft zeigen, Gott zu gehorchen, indem Ihr die Euch auferlegte Last, nämlich die Leitung seiner Schäflein, auf Euch nehmt. Auch wenn Ihr dabei oft auf Widerstand stoßt, so lasst Euch dennoch nicht davon abhalten, zur Ehre Gottes den anderen Euer Bestes zu geben.

So taten es, wie ich sehe, die heiligen Apostel. Sie haben jeden zeitlichen und geistlichen Trost beiseitegeschoben. Wieviel Ermutigung hätten sie erfahren, wenn sie mit der Gottesmutter, der Mutter des Friedens, und miteinander wieder hätten beisammen sein können! Doch, bekleidet mit dem Hochzeitsgewand des Meisters, haben sie alle Lasten und Demütigungen und den Tod zur Ehre Gottes und zum Heil des Nächsten erduldet. Und so erlangten sie, voneinander getrennt, ohne Trost und mit großem Erdulden, das ewige Leben. Das ist der Weg, und so sollt es auch Ihr tun.

Wenn Ihr mir sagt, dass Ihr Euch nicht mit irdischen Dingen abgeben wollt, dann antworte ich Euch, dass sie nur in dem Maße irdisch sind, wie wir sie dazu machen. Ich habe Euch schon gesagt, dass alle Dinge aus der höchsten Güte (Gottes) hervorgehen und deshalb gut und vollkommen sind. Darum solltet Ihr nicht unter dem Vorwand, es würde sich bloß um zeitliche Dinge handeln, irgendeiner Mühe aus dem Weg gehen. Vielmehr solltet Ihr gewissenhaft Sorge tragen und Euer Augenmerk auf das richten, was Gott will.

Sorgt Euch vor allem um die Seelen Eurer Schwestern. Denn, wie der heilige Bernhard sagt, ist die Liebe weder falsch, wenn sie lobt, noch hassenswert, wenn sie tadelt.[15] Ertragt also alles mutig, sei es Bitteres oder Angenehmes, so wie es die Umstände und Eure Standespflicht erfordern. Seid nicht nachlässig, wenn es darum geht, die Fehler zu tadeln – egal ob sie klein oder groß sind –, sondern achtet darauf, dass sie angemessen bestraft werden, und zwar so, wie die jeweilige Person imstande ist, sie anzunehmen.[16] Wenn eine nur zehn Kilo tragen kann, legt ihr nicht zwanzig auf, sondern nehmt von ihr das, was sie geben kann. Und was alle anderen betrifft, so bitte ich sie im Namen dessen, der unsere ganze Erbärmlichkeit tragen musste, dass sie gebückt durch die enge Pforte des heiligen Gehorsams gehen mögen, damit sie nicht ihre Köpfe anstoßen wegen ihres stolzen Willens.

Liebste Schwestern, lasst Euch die Zurechtweisung nicht lästig erscheinen. O, wenn Ihr wüsstet, wie streng Gottes Zurechtweisung gegenüber einer Seele ist, die die Zurechtweisung in diesem Leben scheut! Es ist besser, wenn unsere Nachlässigkeit, unsere Torheit, unser Mangel an Liebe zum heiligen Gehorsam durch Zurechtweisung jetzt in dieser endlichen Zeit bestraft wird als durch die strenge Korrektur der Ewigkeit. Seid also gehorsam aus Liebe zu jenem gütigen, liebreichen Jüngling,[17] Gottes Sohn, der sogar bis in den Tod gehorsam war. So werden wir jenes Schwert empfangen, von dem ich gesprochen habe.[18] Sobald wir in der Kraft Gottes das Laster des Stolzes abgetrennt haben, werden wir uns verwurzelt finden in der heiligen Tugend der Liebe. Und das zeigen wir dann durch den heiligen Gehorsam, der in der Tugend der heiligen Demut zutage tritt.

Ich sage nur noch eines: Lasst uns inständig darum bitten, dass wir imstande sind, das zu befolgen, was ich gesagt habe.

Jeder Wanderer braucht ein Licht, damit er sich nicht verirrt. Ich habe erneut ein wunderbares Licht gefunden, das uns die liebliche römische Jungfrau Luzia schenkt. Dann bitten wir die liebe Magdalena: von ihr erlangen wir die Selbstverachtung, die sie besaß; und Agnes, das milde, sanftmütige Lamm, wird uns die Demut lehren. Luzia gibt uns also das Licht, Magdalena verhilft uns zu Hass und Liebe, und Agnes schenkt uns das Öl der Demut. Wenn wir unser Seelenschiffchen damit ausgestattet haben, besuchen wir das Heiligtum der seligen Marta, dieser liebenden Gastgeberin, die Christus, den Gottmenschen, aufgenommen hat und die nun im Haus des Vaters, das heißt in Gott selbst, Aufnahme gefunden hat.

Ich bin gewiss, dass wir durch die Fülle des Blutes Jesu Christi und durch die Verdienste dieser Heiligen und der liebreichen Mutter Maria einst auch dort eintreten dürfen, wo wir Christus von Angesicht zu Angesicht kosten und sehen werden. Ich bitte Euch, bemüht Euch, das Leben für ihn hinzugeben.

Gelobt sei unser geliebter Erlöser. Ich empfehle mich Euch, Frau Äbtissin, und auch Dir, Niccolosa, meine Tochter und Schwester. Grüßt mir bitte auch Schwester Augustina und all die anderen, und sagt ihnen, sie mögen Gott bitten, dass er mich von der Straße der Nachlässigkeit abbringt und bis zum Tod auf dem Weg der Wahrheit führt.

Mehr will ich Euch darüber nicht sagen.

Gelobt sei der gekreuzigte Jesus Christus.  Amen.



[1] Borgo – Weiler bzw. Vorstadt.

[2] Vgl. Br. 180 an Pietro Marchese del Monte Santa Maria, Senator in Siena.

[3] Vgl. Suzanne Noffke, The letters of Catherine of Siena, Vol. I, Arizona 2000, 48, Anm. 2.

[4] An Fra Bartolomeo Dominici und Fra Tommaso Caffarini.

[5] Überzeugt von der Grundaufgabe des geistlichen Lebens, der Selbsterkenntnis und der Gottesserkenntnis, möchte Caterina mit ihrem Gebet den Schwestern bei dieser Aufgabe vermittelnd zur Seite stehen.

[6] Die Einsicht, dass wir als Geschöpfe nicht aus uns selbst sind, führt zur dankbaren Anerkennung der Güte Gottes, die uns alles schenkte. Es geht hier um das Grundgesetz der Gnadenordnung: „Was hast du, das du nicht empfangen hättest? Hast du es aber empfangen, was rühmst du dich?” (1 Kor 4,7).

[7] Vgl. Lk 18,19: „Niemand ist gut, außer Gott, dem Einen.”

[8] Vgl. Br. 146 an Bartolomeo Dominici. Auch Dialog 165, 167.

[9] Caterina erzählt gewöhnlich ihre eigenen geistlichen Erfahrungen (dem Beispiel des hl. Paulus folgend) in der 3. Person.

[10] Vgl. Kol 3,5: „Darum tötet, was irdisch ist an euch: die Unzucht ... ”

[11] Vgl. Dial. 23: „Durch die heilige Taufe wurde der Wille mit einem Schwert bewaffnet: mit der Liebe zur Tugend und dem Haß auf die Sünde. Diese Waffen wurden euch erwirkt durch das Blut Meines eingeborenen Sohnes, das er aus Liebe zu euch und aus Haß gegen die Sünde vergossen hat.”

[12] Vgl. Lk 2,35.

[13] Vgl. Br. 342 an Don Roberto da Napoli bzw. Br. 144 an Monna Paola.

[14] Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, LG 58: „Ihre Vereinigung mit dem Sohn hielt sie in Treue bis zum Kreuz, wo sie nicht ohne göttliche Absicht stand, heftig mit ihrem Eingeborenen litt und sich mit seinem Opfer in mütterlichem Geist verband, indem sie der Darbringung des Schlachtopfers, das sie geboren hatte, liebevoll zustimmte

[15] „Wenn sie (die Liebe) Dich zurechtweist, ist sie gütig, wenn sie schmeichelt, ist sie aufrichtig“ (Bernhard von Clairvaux, Br. 2; Werke 2, 265–266).

[16] Vgl. Dial. 105, wo Caterina berichtet, welche Weisung sie von Gott erhielt bezüglich der Zurechtweisung anderer.

[17] Vgl. Supplementum II, 3, 8: „O gehorsamster Sohn! O liebenswürdigster Jüngling!“

[18] Gemeint ist das zweischneidige Schwert: Hass gegen die Sünde und Liebe zur Tugend.

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