Brief 282 – An Nicola da Osimo
Caterina hatte während ihres Aufenthaltes am päpstlichen Hof in Avignon zahlreiche Prälaten kennengelernt, darunter auch solche, über deren sittlich verderbte Lebensführung sie sich mit temperamentvollen Worten vor Gregor XI. beklagte, wie uns Raimund, der als Dolmetscher dabei war, in seiner Legenda (152) berichtet.
Mit einem sehr eifrigen, frommen Prälaten an der Kurie, dem Apostolische Protonotar Nicola da Osimo, hat Caterina auch Briefe gewechselt. Nicola diente den Päpsten Urban V. und Gregor XI. als Sekretär und entstammte dem alten Geschlecht der Romani, wird aber gewöhnlich nach seinem Herkunftsort Osimo benannt, einer kleinen Stadt im Kirchenstaat. Er trug sehr schwer unter seiner sicher oft mühevollen Aufgabe in der Päpstlichen Kanzlei. Caterina schrieb ihm zwei Briefe, in denen sie ihm zum Ausharren in seinem Amt Mut machte. Wenn wir von diesem Kurialbeamten auch nicht mehr wissen, so war er doch – wie aus Caterinas Briefen deutlich wird – ein uneigennütziger Prälat am Päpstlichen Hof, der ganz im Dienst der Kirche aufging.
In ihrem ersten Brief an Papst Gregor XI. (Br. 185) schrieb Caterina, der Papst möge mit Nicola da Osimo und dem Erzbischof von Otranto über die Neubesetzung des Generaloberen der Dominikaner beraten. Dabei versprach sie in dieser Sache, den beiden zu schreiben. Nach der Rückkehr des Papstes von Avignon nach Rom schrieb sie erneut an den Kanzleibeamten. Der Ton dieses zweiten Briefes an ihn scheint anzudeuten, dass Nicola mit einer Aufgabe betraut ist, die ihn so sehr beanspruchte, dass er am liturgischen Gebet der Kirche nicht mehr regelmäßig teilnehmen konnte. Caterina macht ihm Mut und ersucht ihn zugleich, „den Heiligen Vater zu fragen ...“
Ertragt die mühevolle Arbeit!
November / Dezember 1377
Im Namen des gekreuzigten Jesus Christus und der lieben Jungfrau Maria.
Liebster hochwürdiger Vater in Christus, dem lieben Jesus! Ich, Caterina, Dienerin und Magd der Diener Jesu Christi, schreibe Euch in seinem kostbaren Blut. Ich möchte Euch als eine feste Säule sehen, die unverrückbar ist (es sei denn in Gott). Geht der mühevollen Arbeit nicht aus dem Weg, die Euch im mystischen Leib der heiligen Kirche, der lieben Braut Christi, auferlegt ist. Ertragt es, auch wenn Euch dabei der Undank und die Unwissenheit derer begegnen, die sich in ihrem Garten mästen, und Euch Überdruss befallen will angesichts der chaotischen Zustände in der Kirche.
Oft geschieht es, wenn wir uns um etwas abmühen und die Dinge nicht den gewünschten Erfolg bringen, dass uns Widerwille und Traurigkeit befallen; und wir sagen uns dann: „Ach, es ist doch besser für dich, du gibst alles auf. So lange schon hast du dich darum bemüht, und es kommt zu keinem Ende. Schau lieber auf den Frieden und die Ruhe deines Herzens!“ In einer solcher Situation müssen wir mutig Widerstand leisten und aus Hunger für die Ehre Gottes und das Heil der Seelen und im Verzicht auf den eigenen Trost uns sagen: „Ich will den Schwierigkeiten nicht ausweichen, da ich ja des geistlichen Friedens und der Ruhe noch gar nicht würdig bin. Ja mehr noch: Ich will in dieser Position, in die ich hineingestellt wurde, ausharren und mich, so gut ich kann, weiterhin mutig einsetzen für die Ehre Gottes und das Seelenheil meines Nächsten!“ Es ist wahr, dass uns bisweilen der Teufel bei unseren Arbeiten Überdruss einflößt – und zwar gerade dann, wenn wir dabei ein wenig den inneren Frieden erfahren möchten, so dass wir uns dann sagen: „Eigentlich schade ich eher, als dass ich Gutes tue. Daher möchte ich mich lieber zurückziehen; nicht wegen der Anstrengung, sondern weil ich nicht sündigen will!“
O teuerster Vater! Wenn er Euch solche Gedanken ins Herz legen möchte, so schenkt dem keinen Raum und keinen Glauben, weder Euch selbst noch dem Teufel! Nehmt vielmehr mit Freude und mit einem heiligen glühenden Verlangen alle Mühen auf Euch ohne jede sklavische Furcht!
Habt keine Angst, darin Gott zu beleidigen! Das Merkmal der Sünde ist der ungeordnete und verkehrte Wille. Nur dann, wenn sich unser Wille nicht an Gott ausrichtet, kommt es zur Sünde. Wenn wir auch des Trostes beraubt sind, weil wir das Brevier und die vielen Psalmen nicht zur rechten Zeit und nicht in jener friedvollen Verfassung beten können, wie wir es gerne möchten, so ist das deswegen noch lange keine verlorene Zeit; sie wurde ja doch für Gott verwendet.[1] Ihr solltet Euch darüber also keine Sorgen machen; vor allem dann nicht, wenn Ihr Euch im Dienste der Braut Christi, der Kirche, abgemüht und geplagt habt. Denn wie und worin immer wir uns auch für sie anstrengen und abmühen: es ist dies alles so verdienstvoll und Gott wohlgefällig, dass unser Verstand sich das gar nicht genügend vorstellen und ausmalen kann.
Ich erinnere mich, teuerster Vater, an eine Dienerin Gottes, der einmal gezeigt wurde, wie sehr ihm ein derartiger Dienst wohlgefällig ist.[2] Ich erwähne das nur, um Euch zu ermutigen, wenn Ihr für die Kirche Mühen erdulden müsst. Diese Dienerin Gottes hatte einmal (unter anderem, soweit ich weiß), ein übergroßes Verlangen, ihr Blut und Leben hinzugeben und sich selbst ganz zu verzehren für die Braut Christi, die heilige Kirche. Als sie dabei in ihrem Verstand erwog, dass sie aus sich nichts sei, erkannte sie zugleich die ihr erwiesene Güte Gottes. Sie sah, dass Gott ihr aus Liebe das Sein schenkte, samt allen darüber hinaus gewährten Gnaden und Gaben. Und der Anblick und die Erfahrung dieser so abgrundtiefen Liebe und Güte Gottes ließ sie gewahr werden, dass es keinen anderen Weg gibt, um Gott darauf die rechte Antwort zu geben als nur durch Liebe.
Weil sie aber Gott selbst nicht nützen und ihm ihre Liebe nicht beweisen konnte, begann sie damit, sich umzusehen, ob sie denn vielleicht anstelle Gottes jemand anderen lieben und auf diese Weise ihm ihre Liebe erzeigen könne. Und da sah sie nun, wie Gott das vernunftbegabte Geschöpf aufs innigste liebt und wie dieses in sich selbst entdeckte Geliebt-werden von Seiten Gottes sich ebenso in jedem anderen Menschen findet, weil ja alle von Gott geliebt sind. Damit hatte sie nun jenes Mittel gefunden,[3] wodurch sie zeigen konnte, ob sie Gott liebe oder nicht, und wie sie ihm nützen könne. Von da an entstand in ihr eine glühende Liebe zum Mitmenschen, und sie wurde von einer solchen Liebe für deren Seelenheil erfüllt, dass sie ihr Leben bereitwillig dafür hingegeben hätte. Den Dienst, den sie Gott selbst nicht zu leisten vermochte, wollte sie nun dem Mitmenschen erweisen, da sie erkannt hatte, dass die Liebe zu Gott nur in der Liebe zum Nächsten die entsprechende Antwort findet. Wie Gott durch das Wort seines Sohnes uns seine Liebe und sein Erbarmen offenbarte, so werden wir in der Mühe und im Dienst an den Mitmenschen Gott wohlgefällig, wenn es aus dem Verlangen nach dem Heil der Seelen und aus Liebe und zur Ehre Gottes geschieht. Darum hielt sie Ausschau, in welchem Garten und an welchem Tisch sie sich an ihren Mitmenschen erfreuen könnte.[4] Da offenbarte es ihr unser Heiland mit den Worten:
„Geliebte Tochter, diesen (Dienst an den Mitmenschen) musst du (gleichsam als deine Speise) im Garten Meiner Braut zu dir nehmen und am Tisch des heiligsten Kreuzes, das heißt, mit deiner Mühsal und mit deinem schmerzlichen Verlangen, mit Nachtwachen und mit Gebeten und mit allem, was du tun kannst. Sei dabei nicht nachlässig! Du musst aber wissen, dass du kein Verlangen nach dem Heil der Seelen in dir tragen kannst, wenn du nicht zugleich Verlangen hast nach dem Heil der heiligen Kirche – denn sie ist der universale Leib all derer, die Anteil haben am Licht des heiligen Glaubens; und sie können nicht das Leben haben, wenn sie Meiner Braut, der Kirche, nicht gehorchen. Darum musst du danach Verlangen haben, dass deine Mitmenschen (die Christen wie auch die Ungläubigen und alle anderen vernunftbegabten Geschöpfe) unter dem Joch des heiligen Gehorsams in diesem Garten weiden und bekleidet sind mit dem Licht des lebendigen Glaubens, das heißt, mit guten, heiligen Werken – weil ja der Glaube ohne Werke tot ist. Nach diesem universalen Leib also muss man hungernd verlangen.
Nun aber möchte Ich dir sagen, dass du dieses hungernde Verlangen in dir vermehren musst – und zwar wenn nötig bis zur Hingabe deines Lebens für den mystischen Leib der Kirche, für die Erneuerung Meiner Braut; denn, wenn sie erneuert ist, wird daraus die ganze Welt ihren Nutzen ziehen. Und wieso? Weil die Welt mit der Finsternis und Unwissenheit, der Selbstsucht, der Unkeuschheit und ihrem aufgeblähten Stolz in den Seelen der Untergebenen Dunkel und Tod hervorgebracht hat und weiter hervorbringt. Und daher lade Ich dich und Meine anderen Diener ein, euch voll Verlangen anzustrengen in Nachtwachen, Gebeten und anderen geistlichen Übungen, entsprechend der euch von Mir gegebenen Fähigkeit. Denn dieser mühevolle Dienst für die Kirche ist Mir ganz besonders wohlgefällig, so dass Ich ihn nicht nur bei Meinen Dienern belohne, wenn sie ihn in rechter und heiliger Absicht verrichten, sondern auch bei den Weltleuten, die diesen Dienst oftmals nur selbstsüchtig leisten (wenngleich sie es auch manchmal aus Ehrfurcht vor der heiligen Kirche tun). Darum sage Ich dir: Niemand, der der Kirche mit Ehrfurcht dient – so sehr schätze Ich diesen Dienst! – bleibt unbelohnt, und er wird den ewigen Tod nicht schauen. Umgekehrt aber werde Ich jene nicht ungestraft lassen, ob so oder so, die Meine Braut respektlos beleidigen.“
Als sie nun diese erhabene Größe und Weite der Güte Gottes sah und erkannte, was sie zu tun habe, um ihm mehr zu gefallen, da wuchs in ihr das Feuer des Verlangens so sehr, dass – wenn es möglich gewesen wäre, das Leben für die heilige Kirche tausendmal Tag für Tag hinzugeben bis zum Jüngsten Gericht –, ihr dies weniger zu sein schien als ein Tropfen Wein im Meer. Und so ist es tatsächlich.
Ich möchte daher – und lade dazu ein –, dass Ihr Euch weiterhin für die Kirche abmüht, wie Ihr es immer getan habt. Seid also eine Säule, dazu bestimmt, diese Braut zu stützen und ihr zu helfen. Ihr müsst, wie gesagt, so feststehend sein, dass weder Tröstung noch Prüfungen Euch jemals umstimmen können. Weder durch die vielen widrigen Winde, die jene behindern, die auf dem Weg der Wahrheit voranschreiten, noch durch irgendetwas anderes dürfen wir uns je zur Umkehr verleiten lassen. Das ist der Grund, warum ich gesagt habe, ich möchte Euch als eine feste Säule sehen.
Auf denn, teuerster und liebster Vater! Jetzt ist es Zeit, in dieser Braut Gott die Ehre zu geben, alle unsre Mühen aber für sie zu verschwenden. Ich bitte Euch um der Liebe des gekreuzigten Christus willen: fleht den Heiligen Vater an, dass er seinem Gewissen entsprechend jedes nur mögliche Mittel benützen möge für die Reform der heiligen Kirche und für den Frieden nach einem so furchtbaren Krieg, in dem so viele Seelen zu Schaden kommen.[5] Er möge das alles mit größter Besorgtheit und ohne Nachlässigkeit tun; denn jede Nachlässigkeit und Sorglosigkeit wird Gott ganz hart strafen, und er wird von ihm jene Seelen fordern, die deswegen verlorengehen.
Empfehlt mich ihm! Auch erbitte ich demütig seinen Segen. Mehr will ich nicht sagen. Bleibt in der heiligen und zärtlichen Liebe Gottes.
Geliebter Jesus! Jesus, unsere Liebe!
[1] Vgl. Dial. 165: „Denke daran, niemals vom verpflichtenden Gebet wegzubleiben, außer wenn es die Nächstenliebe oder der Gehorsam verlangt.“ Offenbar war Nicola in einige kirchliche Projekte so sehr eingebunden, dass ihm dadurch die Teilnahme am göttlichen Offizium nicht mehr gelang.
[2] Wenn Caterina über ihre eigenen Erfahrungen berichtet, verwendet sie für die Erzählung gewöhnlich die dritte Person.
[3] Caterinas Grunderkenntnis, dass Liebe nur mit Liebe beantwortet werden kann, ist die Erfahrung aller Heiligen. Ihre Suche hier in diesem Abschnitt, wie sie mit ihrer Liebe am besten nützen und zugleich Gott ihre Liebe erweisen könnte, wurde ein halbes Jahrhundert später von der heiligen Kirchenlehrerin Theresia von Lisieux (1873–1897) ähnlich erkannt: „Endlich hatte ich Ruhe gefunden ... Im Herzen der Kirche, meiner Mutter, werde ich die Liebe sein ... So werde ich alles sein.“ (Selbstbiographische Schriften, Einsiedeln 1971, 200–201). Dieses „im Herzen der Kirche die Liebe sein“ kann sich nicht anders ausdrücken als in der liebenden Annahme und Sorge für das Wohl und Heil des Nächsten.
[4] Dieses „Sich erfreuen“ bezieht sich auf das von Caterina vielverwendete Bild vom „Seelen-Verzehren bzw. Genießen am Tisch des Kreuzes“. Es geht hier um die allgemeine (aus dem Gebot der Nächstenliebe entstammende) Verpflichtung zur Sorge um das Heil auch der anderen und um die geistliche Freude, die all denen zuteilwird, die durch ihr persönliches Opfer bei der Rettung der Seelen mitwirken.
[5] Der 1375 ausgebrochene Krieg zwischen Florenz und dem Heiligen Stuhl dauerte über drei Jahre und wurde nach den Friedensverhandlungen von Sarzana schließlich im Juli 1378 unter Gregors Nachfolger, Urban VI., mit der Unterzeichnung in Tivoli beendet.