Brief 276 – An eine Dirne in Perugia
geschrieben auf Bitten eines ihrer Brüder
Perugia, etwa 90 km südöstlich von Siena gelegen, war 1375 nach einem Aufstand gegen den Kardinal-Nepoten Gregors XI. der Liga der rebellierenden Städte des Kirchenstaates beigetreten. Nach dem Ausgleich mit Urban VI. hatte Caterina 1379 zwar den Stadtvätern von Perugia einen Brief geschrieben (Br. 339), im Juni desselben Jahres auch den dort lebenden Olivetaner Novizen (Br. 203) und ein Jahr zuvor den Schwestern in Kloster San Giorgio und den Klarissen in Monteluce (Br. 217), sie selbst aber war niemals in Perugia gewesen. Jedenfalls ist nirgends darüber etwas bezeugt.
Wann und wo Caterina mit dem nicht näher bekannten Bruder der Dirne zusammentraf und auf dessen Bitte hin diesen Brief verfasste, lässt sich nicht sagen. Denkbar wäre, dass es bei ihrem Dienst an dem aus Perugia stammenden Niccolò di Toldo war, da Niccolòs Kerkerhaft und Hinrichtung etwas mit der Beziehung zwischen den beiden Städten Perugia und Siena zu tun hatte. Die Begegnung mit dem Bittsteller aus Perugia könnte aber auch zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort gewesen sein, an dem Caterina sich damals gerade aufhielt. Da es keinen Hinweis auf ein Datum des Briefes gibt, bleibt nur der sprachliche Vergleich mit anderen Briefen und die darauf gründende Vermutung seiner Entstehung.
Caterina hat Mitleid mit der Adressatin. Sie erinnert sie an ihre Würde, da Gott sie nach seinem Bild und Gleichnis erschuf und neugeschaffen hat zur Gnade im Blut des Erlösers, stellt ihr weiters das gegenwärtige Elend, ihre Knechtschaft des Teufels, vor Augen, um sie dann schließlich voll Güte der Fürsprache Mariens und der Barmherzigkeit des Heilandes anzuvertrauen: „Dein süßer Gott wird Dich nicht zurückweisen.“
Gott weist Dich nicht zurück!
Frühjahr 1376
Im Namen des gekreuzigten Jesus Christus und der lieben Jungfrau Maria.
Liebste Tochter in Christus, dem lieben Jesus. Ich, Caterina, Dienerin und Magd der Diener Jesu Christi, schreibe Dir in seinem kostbaren Blut. Ich möchte Dich am Blut des Gottessohnes teilhaben sehen. Denn ohne sein Blut kannst Du das Leben nicht haben. Wer sind diejenigen, die an seinem Blut teilhaben? Es sind jene, die in heiliger und süßer Gottesfurcht leben. Wer Gott fürchtet, will eher sterben, als jemals eine Todsünde begehen.
Daher, meine Tochter, weine und gräme ich mich, dass Du, geschaffen nach dem Bild und Gleichnis Gottes und mit seinem kostbaren Blut zurückgekauft, weder auf Deine Würde achtest noch auf den hohen Preis, der für Dich gezahlt wurde.[1] Es scheint, dass Du Dich wie ein Schwein verhältst, das sich im Schmutz wälzt. So wälzt Du Dich im Schmutz der Unzucht.[2] Du bist Dienerin und Sklavin der Sünde geworden. Den Teufel hast Du zu Deinem Herrn gewählt, ihm dienst Du Tag und Nacht.
Denke daran: Ein Herr gibt seinem Diener von dem, was er selbst hat. Wenn Du dem Teufel dienst, hast Du Anteil an dem, was ihm gehört. Was aber besitzt der Teufel, meine Tochter? Finsternis, Stürme, Traurigkeit, Schmerzen, Foltern und Qualen. Wo er sich befindet, ist Heulen und Zähneknirschen,[3] und die Menschen werden der Anschauung Gottes beraubt, welche die Glückseligkeit der Seele bedeutet.[4] Dieser Glückseligkeit wurden die Teufel aufgrund ihres Hochmuts beraubt; und so müssen auch diejenigen, die dem Willen des Teufels folgen, diese Anschauung entbehren. Das sind dann die unerträglichen Schmerzen, die denen zuteilwerden, die dem Frevel der Todsünde nachlaufen. Man kann das mit Worten unmöglich beschreiben.[5]
Oh weh! Oh weh! Daran zu denken, dass Du Deinen Schöpfer vergessen hast und nicht siehst, wie Du ein abgetrenntes Glied bist, das sofort verdorrt, sobald es vom Leib abgeschnitten ist! So bist Du, wenn Du durch die Todsünde von Christus abgeschnitten und getrennt bist: wie ein dürres, runzeliges, unfruchtbares Holz.[6] Du machst in diesem Leben eine Anzahlung für die Hölle. Denkst Du denn gar nicht daran, Tochter, wie arm und elend Deine Knechtschaft ist? Und an die Tatsache, dass Du schon in diesem Leben die Hölle hast durch den Umgang mit der entsetzlichen Teufelsbrut?
Lass ab, lass ab von dieser gefährlichen Knechtschaft und von der Finsternis, in die Du geführt wurdest! Oh weh! Wenn Du es auch nicht aus Liebe zu Gott tun willst, dann solltest Du es wenigstens der weltlichen Schande und Beschämung wegen tun. Siehst Du denn nicht, dass Du es selbst bist, die sich den Männern in die Hände gibt, damit sie Dein Fleisch quälen, verhöhnen und schänden? Siehst Du denn nicht, dass Du mit einer käuflichen Liebe geliebt wirst und liebst, die Dir den Tod bringt? Dass Du nur so lange liebst oder geliebt wirst, wie andere oder Du selbst Vergnügen oder Nutzen daraus ziehen? Wenn das Vergnügen oder der Nutzen vorüber sind, ist auch die Liebe vorbei, denn sie ist nicht auf Gott, sondern auf den Teufel gegründet.
Bedenke, Tochter, dass Du sicher sterben wirst und nicht weißt, wann. Daher hat unser lieber Erlöser gesagt: „Haltet Euch bereit, denn ihr kennt weder den Tag noch die Stunde, in der ihr gerufen werdet.“[7] Und der heilige Johannes sagt: „Schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt; jeder Baum, der keine gute Frucht hervorbringt, wird umgehauen.“[8] Denk daran, dass Du, wenn der höchste Richter Dich jetzt ruft, in den Händen der Teufelsbrut und im Zustand der Verdammnis angetroffen wirst. Du musst erscheinen und hast niemanden, der für Dich eintritt. Denn diejenigen, die für Dich antworten, die Dir helfen und Dir Beistand geben können – nämlich die Tugenden –, die hast Du nicht. Wohl aber hast Du jene „Freunde“, die Dich vor dem wahren Richter verurteilen werden; es sind die Welt, der Teufel und das Fleisch, denen Du so eifrig zu Diensten standest. Sie klagen Dich an und beweisen zu Deiner großen Beschämung und Schande die Sünden, die Du gegen Gott begangen hast. Sie verurteilen Dich zum ewigen Tod. Sie begleiten Dich dorthin, wo sie sind, wo glühendes Feuer, Schwefelgestank, Zähneknirschen, Kälte und Hitze herrschen. Und der Wurm des Gewissens quält und tadelt Dich unaufhörlich, weil Du siehst, dass es durch Dein eigenes Verschulden geschah, dass Du der Anschauung Gottes beraubt bist und die Anschauung des Teufels verdienst. Das ist also die Belohnung für Deine Knechtschaft und für die Mühsal, die Du erträgst, um der Welt, dem Teufel und dem Fleisch zu dienen.
Nun, da Du also siehst, wieviel Böses sie über Dich bringen und wieviel Gutes sie von Dir fernhalten, tu Dir selbst heilige Gewalt an. Erhebe Dich aus dem ganzen Elend und aus dieser Verderbtheit. Lauf zu Deinem Schöpfer zurück, der Dich empfangen wird, wenn Du die Todsünde lassen und in den Stand der Gnade zurückkehren willst. Ich sage Dir, meine liebste Tochter, wenn Du den Schmutz der Sünde bei der heiligen Beichte ausspeist mit dem Vorsatz, nicht wieder zu fallen oder zu dem Erbrochenen zurückzukehren,[9] dann verheißt Dir die süße Gütigkeit Gottes: „Ich verspreche Dir, dass ich mich nicht mehr daran erinnern werde, dass Du je gegen mich gesündigt hast.“[10] Es ist wirklich so: Gott will diejenigen, die ihre Sünden durch Reue und Verachtung bestrafen, im nächsten Leben nicht bestrafen.[11]
Lasse es Dir nicht mühevoll erscheinen. Wende Dich an die süße Maria, die Mutter des Mitleids und der Barmherzigkeit. Sie wird Dich vor ihren Sohn führen und ihm für Dich ihre Brust zeigen, mit der sie ihn gestillt hat, und ihn so geneigt machen, Dir gegenüber barmherzig zu sein.[12] Als Tochter und Magd durch sein Blut zurückgekauft, tritt dann ein in die Wunden des Gottessohnes, wo Du ein solches Feuer unsagbarer Liebe finden wirst, dass es all Dein Elend und Deine Sünden verzehren und verbrennen wird. Du wirst sehen, dass er Dir aus seinem Blut ein Bad bereitet hat, um Dich abzuwaschen vom Aussatz der Todsünde und von Deiner Unreinheit, in der Du so lange gelebt hast. Dein süßer Gott wird Dich nicht zurückweisen.
Schließe Dich der süßen und liebentbrannten Magdalena an und lerne von ihr. Sobald sie ihr Elend und ihre Schuld erkannte und sah, dass sie sich im Stand der Verdammnis befand, hat sie sich mit großem Hass auf die Sünde gegen Gott und mit Liebe zu den Tugenden erhoben, um Barmherzigkeit zu suchen und zu finden. Sie sieht wohl, dass sie diese nur in Christus, dem lieben Jesus und nirgendwo sonst finden kann. Daher geht sie zu ihm. Dabei achtet sie weder auf Ehre noch auf Schande, sondern sie wirft sich ihm demütig zu Füßen. Dort empfängt sie durch Liebe, Schmerz und Trauer in vollkommener Demut die Vergebung ihrer Sünden. Sie verdient es, diese süßen Worte zu hören: „Geh in Frieden, Maria, und sündige nicht mehr.“[13]
Mach es genauso, meine liebste Tochter. Lauf zu ihm. Schau auf das demütige Handeln von Magdalena: Indem sie sich ihm voll innerer Ergriffenheit zu Füßen wirft, zeigt sie, dass sie ein reuiges Herz hat und sich nicht für würdig hält, vor das Antlitz ihres Meisters zu treten. Erhebe auch Du Dich (aus der Sünde) mit Herz und Leib und Seele, und schlafe nicht länger, denn Du hast keine Zeit. Und da Du keine Zeit hast, warte nicht auf die Zeit.
Antworte dem gekreuzigten Christus, der Dich mit demütiger Stimme ruft. Eile dem Duft seines Salböls nach.[14] Bade Dich im Blut des gekreuzigten Christus, so wirst Du an seinem Blut Anteil haben. Das ist es, was meine Seele ersehnt: Dich teilhaben zu sehen am Blut und dass Du ein Glied bist, das durch Gnade mit seinem Haupt, dem gekreuzigten Christus, verbunden ist.
Wenn Du mir jetzt sagtest: „Ich hätte dann nichts zum Leben, und das hält mich zurück,“[15] dann antworte ich Dir, dass Gott für Dich sorgen wird. Außerdem habe ich von Deinem leiblichen Bruder gehört, dass er Dir in allem Notwendigen helfen will. Warte also nicht auf das göttliche Urteil, das sonst über Dich kommen wird, wenn Du es nicht tust.
Sei nicht länger mehr ein Glied des Teufels.[16] Er hat Dich als seine Schlinge ausgelegt, um Menschen zu fangen. Es bleibt nicht allein bei dem Schaden, den Du Dir selbst antust, sondern denke auch daran, für wie viele Du der Grund bist, dass sie in die Hölle kommen.
Mehr will ich nicht sagen. Liebe den gekreuzigten Christus. Denke daran, dass Du sterben musst und nicht weißt, wann. Bleibe in der heiligen und zärtlichen Liebe Gottes.
Geliebter Jesus! Jesus, unsere Liebe! Süße Gottesmutter Maria!
[1] Vgl. 1 Kor 6,16–20: „Wisst ihr nicht: Wer sich an eine Dirne bindet, ist ein Leib mit ihr? Denn es heißt: Die zwei werden ein Fleisch sein. Wer sich dagegen an den Herrn bindet, ist ein Geist mit Ihm. Hütet euch vor der Unzucht! ... Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt und den ihr von Gott habt? Ihr gehört nicht euch selbst, denn um einen teuren Preis seid ihr erkauft worden. Verherrlicht also Gott in eurem Leib!“ Ähnlich auch 1 Petr 1,18–19: „Ihr wisst, dass ihr aus eurer sinnlosen, von den Vätern ererbten Lebensweise nicht um einen vergänglichen Preis losgekauft wurdet, nicht um Silber oder Gold, sondern mit dem kostbaren Blut Christi, des Lammes ohne Fehl und Makel.“
[2] Vgl. Spr 26,11; 2 Petr 2,22: „Auf sie trifft das wahre Sprichwort zu: ... Die gewaschene Sau wälzt sich wieder im Dreck.“
[3] Vgl. Mt 8,12: Sie werden „hinausgeworfen in die äußerste Finsternis; dort werden sie heulen und mit den Zähnen knirschen.“
[4] In der Summa Theologica III, q.92 reflektiert der hl. Thomas von Aquin darüber, wie die Seligen im Himmel das Wesen Gottes schauen und worin ihre Seligkeit der Gottesschau besteht.
[5] In Dialog 38 geht Caterina näher ein auf die Qualen der Hölle.
[6] Vgl. Joh 15,6.
[7] Vgl. Lk 12,40.
[8] Vgl. Mt 3,10; Lk 3,9.
[9] Vgl. Spr 26,11: „Wie ein Hund, der zurückkehrt zu dem, was er erbrochen hat, so ist ein Tor, der seine Dummheit wiederholt.“
[10] Vgl. Hebr 10,17: „An ihre Sünden und Übertretungen denke ich nicht mehr.“
[11] Vgl. 2 Petr 3,9: „Der Herr ... will nicht, dass jemand zugrunde geht, sondern dass alle sich bekehren.“
[12] Der Gedanke, dass Christus seiner heiligsten Mutter keine Bitte abschlagen kann in Erinnerung an ihre Zärtlichkeit, mit der sie ihn als Kind genährt hat, ist ein im Mittelalter oft verwendetes Motiv sowohl in der Kunst (Maria, dargestellt, wie sie zur beschwörenden Empfehlung der flehenden Menschen vor dem Thron des verherrlichten Christus knieend, ihrem Sohn ihre entblößte Brust zeigt) als auch bei den theologischen und mystischen Schriftstellern, wie etwa bei Richard v. St.-Laurent, Arnaud v. Chartres (De laudibus B. Mariae Virginis, PL 189, 1725), Goutier de Coincy (Miracles de Notre Dame), weiters in den Offenbarungen der hl. Mechtild v. Magdeburg oder im Mariale des hl. Albertus Magnus. Caterina kommt darauf nur hier zu sprechen.
[13] Caterina, die selbst eine große Verehrerin der hl. Maria Magdalena war (Raimund zufolge wurde sie ihr von Christus und der allerseligsten Jungfrau als Lehrerin und Mutter übergeben, vgl. R. 183; Supplement II, 6,25; dazu auch noch Supplement I, 2, 14–21; II, 2, 9; II, 3, 8), gibt hier die traditionelle Auffassung ihrer Zeit wieder. Der Erklärung Gregors des Großen folgend (Magdalenen Homilien) sah man im Mittelalter die „drei Marien“ der Evangelien als ein und dieselbe Person, nämlich als bekehrte Prostituierte, der Christus Barmherzigkeit erwiesen hatte: Maria Magdalena, Maria von Betanien und die nicht namentlich genannte Büßerin in Lk 7,36–50.
[14] Vgl. Hld 1,3: „Wir wollen dem Duft deiner Salben nacheilen.“
[15] Auch zu Caterinas Zeiten gab es das also, dass sich viele Frauen nur deshalb verkauften, um für ihren Lebensunterhalt aufzukommen.
[16] Nicht ein „Glied“ am „Leib des Teufels“ soll sie sein, sondern ein „Glied“ am „Leib Christi“.