Brief 240 – An Monna Lapa, Caterinas Mutter

 

Auf der Rückreise von Avignon schreibt Caterina erneut an ihre Mutter und kündet ihre baldige Heimkehr an. Durch die Erkrankung ihrer Reisegefährten war allerdings ein längerer Zwischenaufenthalt in Genua notwendig geworden.

 

Sei nicht traurig, liebe Mutter!

Ende Oktober 1376

Im Namen des gekreuzigten Jesus Christus und der lieben Jungfrau Maria.

Liebste Mutter in Christus, dem geliebten Jesus. Deine unwürdige Tochter Caterina möchte Dich im kostbaren Blut des Sohnes Gottes trösten. Wie sehr habe ich mich danach gesehnt, Dich wahrhaft als die Mutter meiner Seele und meines Leibes zu sehen! Denn ich bin gewiss, wenn Du mehr meine Seele als meinen Leib liebst, wird die übermäßige Anhänglichkeit, die Du vielleicht hegst, vergehen und meine physische Abwesenheit wird Dich nicht mehr so belasten. Ja, sie wird Dich sogar ermutigen, und Du wirst bereit sein, zur Ehre Gottes jede Last zu tragen in dem Bewusstsein, dass ich dasselbe tue, auch zu seiner Ehre. Solange ich zur Ehre Gottes arbeiten kann, wird meine Seele unweigerlich an Gnade und Tugend zunehmen. Du wirst sehen, liebste Mutter, wenn Du meine Seele mehr als meinen Leib liebst, wirst Du nicht mehr niedergeschlagen, sondern getröstet sein.

Ich möchte, dass Du das von der lieben Mutter Maria lernst, die uns zur Ehre Gottes und zu unserm Heil ihren Sohn geschenkt hat, der am Holz des heiligsten Kreuzes starb. Als Maria nach der Himmelfahrt ihres Sohnes allein zurückblieb, war sie bei den heiligen Jüngern. Und wir stellen uns vor, dass sie einander getröstet und ermutigt haben. Maria stimmte aber trotzdem zu und wollte, dass die Jünger zum Lob und Ruhm ihres Sohnes und für das Heil der ganzen Welt hinauszogen, obwohl es für alle schwer war. Sie litt lieber unter dem Abschiedsschmerz, als dass sie sich ihres Daheimbleibens freuen wollte, und das nur auf Grund ihrer Liebe zur Ehre Gottes und für unser Heil. Ich will, dass Du von ihr lernst, liebste Mutter. Du weißt, dass ich Gottes Willen tun muss, und ich weiß, dass Du willst, dass ich es tue. Es war Gottes Wille, dass ich abgereist bin – und meine Abreise war ein Geheimnis und brachte gute Früchte.[1] Es war auch Gottes Wille, dass ich fortblieb; es war keine rein menschliche Entscheidung, und wer etwas anderes behauptet, der lügt.[2] Und so muss ich (auch) in Zukunft vorgehen, in seine Fußstapfen treten, wo immer und wann immer es seiner unermesslichen Güte gefällt.

Du, meine liebe, gute Mutter, solltest nicht traurig sein, sondern Dich freuen, die Lasten zur Ehre Gottes und für Dein und mein Heil tragen zu können. Ich erinnere mich, dass Du Dich über den materiellen Gewinn gefreut hast, als Deine Söhne auszogen, um zeitliche Macht zu erringen. Aber jetzt, wo es darum geht, das ewige Leben zu gewinnen, scheint es so schwer zu sein, dass Du sagst, Du gingest zugrunde, wenn ich Dir nicht bald Antwort gebe.[3] All das, weil Du den Teil von mir, den ich von Dir erhalten habe (ich meine Dein Fleisch, in das Du mich gekleidet hast), mehr liebst als den Teil, den ich von Gott bekommen habe. Erhebe, erhebe Dein Herz und Deine Liebe ein wenig zu diesem geliebten heiligsten Kreuz, an dem jede Last leicht wird. Sei bereit, ein geringfügiges vorübergehendes Leiden auf Dich zu nehmen, um dem nie endenden Leiden zu entgehen, das wir für unsere Sünden verdienen.[4] Hab jetzt Mut aus Liebe zum gekreuzigten Christus! Und glaube nicht, Gott habe Dich und mich vergessen. Denn Du wirst bestimmt Trost empfangen, und zwar vollständigen. Wie groß auch der Schmerz gewesen sein mag, die Freude wird gewiss noch größer sein.

Mit Gottes Gnade werden wir bald nach Hause kommen. Wir wären ja schon da, aber wir wurden durch Neris Krankheit aufgehalten. Maestro Giovanni und Fra Bartolomeo waren auch krank ...[5] Mehr will ich nicht sagen. Herzliche Grüße von uns allen ... Bleibe in der heiligen und zärtlichen Liebe Gottes.

Geliebter Jesus! Jesus, die Liebe!

 


[1] Caterinas beschwerliche und nicht ungefährliche Reise nach Avignon Anfang Mai 1376 (Ankunft am 18. Juni), ihr Einsatz am päpstlichen Hof für die Reform der Kirche und die damit verbundene Rückkehr des Papstes nach Rom (Aufbruch von Avignon am 13. September 1376) gehören zu den denkwürdigen Ereignissen der Kirchengeschichte. Diese Reise wurde von den Päpsten entsprechend gewürdigt als „ihr glorreichstes Unternehmen“ (Johannes Paul II., Amantissima Providentia) und als „großmütige Anstrengung, um den Papst zur Rückkehr an seinen legitimen Sitz in Rom zu bewegen“ (Paul VI., Homilie am 4. Oktober 1970 in St. Peter anlässlich der Erhebung der hl. Caterina von Siena zur Kirchenlehrerin).

[2] Damit wird deutlich, wie sehr ihre kirchenpolitischen Aktivitäten nicht nur Zustimmung, sondern auch vielfältige Kritik hervorriefen.

[3] Lapas Söhne waren aus wirtschaftlichen Gründen nach Florenz gezogen. Es ist das sich oft wiederholende Ungleichgewicht in der Beurteilung: Die Abwanderung der Kinder aufgrund einer Heirat oder einer beruflichen Notwendigkeit wird meist selbstverständlich hingenommen, nicht aber wenn es um die vollständige Verfügbarkeit für den Dienst Gottes geht.

[4] Vgl. 1 Kor 11,32: „Doch wenn wir jetzt vom Herrn gerichtet werden, dann ist es eine Zurechtweisung, damit wir nicht zusammen mit der Welt verdammt werden.“

[5] Raimund von Capua, der bei der Reisegruppe dabei war, berichtet uns darüber ausführlich in seiner Legenda Maior (261–264). Der folgende Satz mit Caterinas Bemerkung, dass auch noch ihre beiden anderen Begleiter, nämlich der Augustiner Giovanni (Terzo) Tantucci und der Dominikaner Bartolomeo Dominici krank wurden, bricht in den Handschriften unvermittelt ab.

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