Brief 215 – An einige Frauenklöster in Bologna
Es gab, wie es scheint, zu viel Luxus in den Zellen und im Kloster. Caterina erinnert die Schwestern an ihre Gelübde und zeichnet dann das Bild der wahren Braut Christi im Gegensatz zur elenden Braut, die nur auf sich selbst bedacht ist. Zugleich nennt sie verschiedene Missstände beim Namen und nimmt vor allem die Priorin in Pflicht: Sie muss zuerst mit gutem Beispiel vorangehen und dann auch die Festigkeit haben, um des Heiles der Schwestern willen zurechtzuweisen.
Schluss mit unserem Elend!
Spätherbst 1377
Im Namen des gekreuzigten Jesus Christus und der lieben Jungfrau Maria.
Liebste Schwestern in Christus, dem lieben Jesus. Ich, Caterina, Dienerin und Magd der Diener Jesu Christi, schreibe Euch im seinem kostbaren Blut. Ich möchte Euch in der wahren und vollkommenen Liebe gegründet sehen. Diese Liebe ist jenes hochzeitliche Gewand, das die Seele, die zum Hochzeitsmahl des ewigen Lebens geladen ist, tragen muss. Denn ohne dieses Gewand würden wir vom Hochzeitsmahl des ewigen Lebens ausgeschlossen.[1] Christus hat uns alle eingeladen, und er hat uns allen dieses Kleid der Gnade verliehen, das wir in der Taufe empfangen haben. Das Gewand und die Einladung bekamen wir mitsammen, denn in der Taufe wurde uns die Makel der Erbsünde genommen und die Gnade geschenkt.[2]
Durch die Taufe hat ein Kind, wenn es früh stirbt, das ewige Leben kraft des Blutes des gekreuzigten Christus, dass der Taufe die Wirksamkeit verleiht. Wenn wir aber älter geworden und zum Vernunftgebrauch gekommen sind, können wir uns an die Einladung halten, die uns in der Taufe gegeben wurde. Wenn wir uns nicht an sie halten, werden wir vom Herrn des Hochzeitsmahles ausgeschlossen und hinausgeworfen, weil wir kein Hochzeitsgewand haben. Und warum haben wir keines? Weil wir das nicht halten wollten, was wir in der Taufe versprochen hatten, nämlich der Welt mit ihren Freuden, dem Teufel und uns selbst – das heißt der eigenen selbstsüchtigen Sinnlichkeit – zu widersagen. Das muss jedes vernunftbegabte Geschöpf tun, egal in welchem Stand auch immer, denn Gott schaut nicht auf das Ansehen der Person, sondern auf das Streben nach Heiligkeit. Alle, die diese versprochenen und übernommenen Verpflichtungen nicht einhalten, sind Diebe. Sie stehlen das, worauf sie keinen Anspruch haben, und deshalb schließt sie Gott zu Recht aus und befiehlt, ihnen Hände und Füße zu binden und sie hinauszuwerfen in die Finsternis. Das heißt, die Hände und Füße ihrer Liebe werden gebunden, so dass sie Gott nicht mehr ersehnen können. Und jenen, die in der Todsünde gestorben und der Verdammnis anheimgefallen sind, werden die Hände und Füße ihres Handelns gebunden, damit sie nicht in der Lage sind, nach der Frucht des ewigen Lebens zu greifen[3] (die den wahren Kämpfern gegeben wird, die aus Liebe zur Tugend gegen die Laster angekämpft haben), sondern nur jene Frucht pflücken können, die aus ihrem eigenen bösen Tun erwächst: nämlich die Speise des Todes.
O liebste Schwestern! Wenn jene, die eine solche Schuld nicht gut gemacht haben, so schwer bestraft werden, was sollen dann wir elenden und unwissenden Bräute sagen, die zum Hochzeitsmahl des ewigen Lebens und in den Garten des heiligen Ordenslebens eingeladen sind? Dieser Garten ist voll Wohlgeruch, voll süßer und schmackhafter Früchte. Hier wird die Braut schon in diesem Leben ein irdischer Engel, wenn sie das hält, was sie versprochen hat. Die anderen Menschen, die in der Welt leben, sind Gerechte, wenn sie in der allgemeinen Liebe leben; wenn sie dagegen in Todsünde lebten, wären sie wilde Tiere. Das gilt auch für diejenigen, die in ständiger Enthaltsamkeit leben und in den Garten des heiligen Ordenslebens eingetreten und Engel geworden sind; würden sie aber nicht halten, was sie versprochen haben, dann wären sie schlimmer als Teufel. Solchen Menschen fehlt das Gewand, von dem ich gerade spreche.
O wie schwer und hart wird die Strafe sein, die die Braut Christi vom höchsten Richter erhalten wird! Ihr wird die Tür des ewigen Bräutigams verschlossen sein.[4] Was für ein Vorwurf wird es für sie sein, wenn sie sich – und zwar nur der eigenen Sünde wegen – der Nähe Gottes und des Gesprächs mit den Engeln beraubt sieht! O liebste Schwestern! Jede, die ein wenig darüber nachdenkt, würde lieber den Tod wählen, als gegen ihre Vollkommenheit zu verstoßen.[5] Ich spreche nicht nur von einer Beleidigung Gottes, sondern sogar von einer Beleidigung gegen die eigene Vollkommenheit. Im Zustand der Todsünde leben und Gott beleidigen, ist eine Sache; und eine andere ist es, seine eigene Vollkommenheit zu verletzen, die zu erreichen man versprochen hat. Denn zu den Geboten, die es zu halten gilt, wurde ja noch gelobt, die (evangelischen) Räte sowohl geistig wie auch aktiv zu beobachten.
Die evangelischen Räte
Die Menschen, die in der allgemeinen Nächstenliebe leben, halten beides, die Gebote und die Räte (weil sie miteinander verbunden sind und man nicht die einen ohne die anderen beobachten kann), aber sie beobachten die Räte im Geiste. Doch diejenigen, die versprochen haben, in Vollkommenheit zu leben, beobachten die Räte sowohl geistigerweise als auch aktiv. Deshalb sage ich, wenn sie sie nicht ihrem Versprechen gemäß aktiv beobachten, sondern das nur geistigerweise tun, sündigen sie gegen ihre Vollkommenheit, für die sie ja eine aktive und geistige (Beobachtung der Gebote und Räte) versprochen haben. Und was haben wir versprochen, liebste Schwestern? Wir haben versprochen, die (evangelischen) Räte zu beobachten, als wir in der Profess drei Gelübde ablegten; denn wir haben freiwillige Armut, Gehorsam und Enthaltsamkeit gelobt. Wenn wir sie nicht einhalten, beleidigen wir Gott wegen des Versprechens und Gelübdes, das wir abgelegt haben; und wir verletzen auch die von uns gewählte Vollkommenheit. Wenn andere, die bezüglich der Räte nichts versprochen haben, sie aktiv nicht halten, so sündigen sie nicht – außer wenn sie sich um der Vollkommenheit willen im Herzen etwas vorgenommen haben. Wir aber, die wir das Gelübde abgelegt haben, begehen eine Sünde.
Warum wollen wir ein Gelübde nicht halten, das wir einmal abgelegt haben? Wegen der egoistischen Liebe zu uns selbst. Diese selbstsüchtige Liebe raubt uns das Hochzeitsgewand; sie entzieht uns das Licht und bringt uns Finsternis; sie nimmt uns das Leben und gibt uns den Tod und die Lust auf eitle vergängliche Dinge; und sie nimmt uns die heilige Sehnsucht nach Gott. O wie erbärmlich ist diese Art Liebe! Sie lässt uns die kostbare Zeit verschwenden; sie hält uns ab von der Speise der Engel, so dass wir zur Nahrung der Raubtiere übergehen; damit meine ich die Menschen, die wegen ihres ungeordneten Lebens zu wilden Tieren wurden, deren Speise Laster und Sünde sind. Die Speise der Engel hingegen sind die wahren und echten Tugenden. Wie verschieden ist doch das eine vom andern – so unterschiedlich wie der Tod vom Leben, wie das Endliche vom Unendlichen!
Werfen wir zunächst einen Blick auf das, was denen Freude macht, die wahre Bräute des gekreuzigten Christus sind und die sich an dieser süßen und liebevolle Speise erfreuen. Und schauen wir dann auch, woran sich diejenigen erfreuen, die zu wilden Tieren geworden sind.
Die wahre Braut Christi
Die wahre Braut Christi hat Freude daran, ihren Bräutigam zu suchen, aber nicht bei den Zusammenkünften, sondern in der heiligen Selbsterkenntnis.[6] Dort findet sie ihn, das heißt, indem sie die Güte des ewigen Bräutigams in ihrem Innern erkennt und erfährt und ihn mit ganzem Herzen, ganzer Seele und all ihren Kräften liebt; indem sie Freude daran hat, am Tisch des heiligsten Kreuzes zu sein; indem sie die Tugenden anstatt friedlich und schmerzlos lieber durch Leiden und Kämpfe erwirbt, um dem gekreuzigten Christus gleichförmig zu werden und in seine Fußstapfen zu treten. Und selbst wenn sie ihm schmerzlos dienen könnte, so wollte sie es nicht, da sie vielmehr wie ein wahrer Ritter sich selbst überwinden und ihm dadurch dienen möchte, dass sie sich der Selbstliebe entkleidet und die liebevolle Nächstenliebe anzieht. Und sie geht durch die enge Tür[7] des gekreuzigten Christus: denn sie hat freiwillig Armut, Gehorsam und Enthaltsamkeit versprochen und hält sie auch.
Sie hat die schwere Last weltlichen Reichtums, ihre Freuden und Privilegien abgeworfen. Und je mehr sie sich von diesen Dingen trennt, um so glücklicher ist sie, denn sie ist demütig, gehorsam und sträubt sich nicht gegen die Anordnungen. Sie vertrödelt nie die Zeit, sondern hat immer die Ordensregeln und das abgelegte Versprechen im Sinn. Sie wacht und betet. Ihre Zelle ist für sie gleichsam ein Himmel, in der süße Psalmen erklingen. Ihr Offizium betet sie nicht nur privat, sondern gemeinsam im Chor, und sie will immer die erste sein, die den Chor betritt, und die letzte, die ihn verlässt. Sie verabscheut das Sprechzimmer und das Sprechgitter und das Schwätzen mit ihren Anhängern. Sie kümmert sich nicht darum, wie man die gemauerte Zelle schön gestaltet, sondern sie ist vielmehr daran interessiert, die Zelle ihres Herzens zu befestigen, so dass die Feinde nicht eindringen können – und diese Zelle schmückt sie mit den Tugenden. Ihre materielle Zelle ist frei von eleganter Ausstattung. Und wenn, dann gibt sie alles weg, weil sie die Armut liebt und um dadurch den Schwestern zu helfen. So bewahrt sie ihre Seele und ihren Leib im Stand der Enthaltsamkeit, denn sie hat die Dinge weggegeben, wodurch sie (ihre Reinheit) verlieren könnte. Sie bewahrt sich die geschwisterliche Liebe, indem sie alle liebt und die Fehler ihrer Nächsten mit wahrer und heiliger Geduld erträgt. Sie lebt wie ein Igel, im beständigen Kampf gegen ihre egoistische Sinnlichkeit.[8] Sie fürchtet, ihren Bräutigam zu beleidigen. Sie verliert die emotionale Beziehung zu ihrer Heimat und alle Erinnerungen an die Verwandten. Nur diejenigen, die den Willen Gottes tun, sind mit ihr durch die Liebe verbunden. O wie glücklich ist ihre Seele! Sie ist mit ihrem Bräutigam eins geworden und kann nur ersehnen, was seinem Willen entspricht. So durchquert sie gelassen das stürmische Meer und verströmt einen solchen Wohlgeruch im Garten des heiligen Ordenslebens, dass, sollte jemand den gekreuzigten Christus fragen: „Wer ist diese Seele?“, der Herr antworten würde: „Sie ist mein anderes Ich, und sie ist es durch die Liebe geworden.“[9] Sie hat das Hochzeitskleid und wird deshalb nicht vom Hochzeitsmahl ausgeschlossen, sondern voll Freude und Jubel von ihrem ewigen Bräutigam empfangen. Sie verströmt ihren Duft nicht nur vor Gott, sondern vor den sündigen Menschen in der Welt, denn ob die Welt es will oder nicht, sie zollt ihr Hochachtung.
Die elende Braut Christi
All jene, die im Zustand der Sünde leben, sind gerade das Gegenteil. Auf ihrer selbstsüchtigen, sinnlichen Eigenliebe gegründet, sie sind vollkommen blind. Ihr Leben verbreitet Gestank vor Gott und den Menschen, und wegen ihrer Sünden haben die Menschen in der Welt den Respekt vor dem heiligen Ordensleben verloren. O weh! Wo ist das Gelübde der Armut geblieben? Mit ungeordneter Sorge, Liebe und Begierde nach den Gütern der Welt und mit geiziger Begierde und Grausamkeit gegenüber den Nächsten suchen sie zu besitzen, was ihnen verboten ist. Wenn sie das Kloster und die kranken Mitschwestern in großen Schwierigkeiten sehen, so lassen sie ihnen nichts zukommen – so als hätten sie (irgendwo) eine Schar von Kindern zu versorgen, denen sie ihr Erbe vermachen müssten.[10] O Erbärmlichkeit! Du hast (vielleicht) keine solchen Anwandlungen, aber Du willst Deine selbstsüchtige Sinnlichkeit zur Erbin machen. Du möchtest mit ihr und mit denen, die Dich verehren, in gutem Einvernehmen sein und überhäufst sie mit Geschenken. Du vertrödelst den ganzen Tag im Geschwätz mit ihnen und verschwendest Deine Zeit mit leeren und trägen Worten. Aber Du bemerkst das nicht; oder Du erkennst es zwar, tust aber so, als würdest du es nicht sehen: Und so verdirbst Du Dir Geist und Seele. Du wirst durch fleischliche Gelüste und Angriffe belästigt und gibst ihnen bewusst und willentlich nach. O Erbärmlichkeit! Darf das eine Braut Christi tun? O, du Ehrlose vor Gott und der Welt! Wenn Du Dein Offizium betest, ist Dein Herz weg mit seinem sinnlichen Vergnügen und bei den Menschen, die Du mit dieser Liebe liebst. O liebste Schwester! Du stellst Dich selbst in den Dienst des Teufels; unter dem Anschein der Frömmigkeit bist Du tagsüber ständig im Sprechzimmer oder beim Gitter! O verfluchtes Geschwätz, das in der Kirche Gottes und im heiligen Ordensleben heute verbreitet ist, wenn solche, die das Werk des Teufels tun, fromm genannt werden! Sie sind alle fleischgewordene Teufel.
O weh! O weh! In welchen Zustand ist der Garten gekommen, in den der Schmutz der Unreinheit ausgesät wurde! Und der Leib, der durch Fasten und Wachen, durch Buße und viel Gebet gedemütigt werden sollte, liebt nun den Genuss und den Schmuck, teure Körperpflege und üppige Speisen und verhält sich nicht wie eine Braut Christi, sondern wie eine Dienerin des Teufels und eine öffentliche Hure! Durch den Gestank ihrer Unaufrichtigkeit verführt sie andere Menschen. Sie ist eine Feindin der Aufrichtigkeit und der Diener Gottes und verletzt den Gehorsam: Sie will weder ein Gesetz noch eine Priorin über sich, denn der Teufel und ihre eigene Sinnlichkeit sind ihre Priorin geworden. Ihr gehorcht sie, und ihr sucht sie eifrig zu dienen. Sie wünscht denen Strafe und Tod, die sie vom Tod der schweren Sünde befreien wollen. Und so groß ist dieses Elend, dass sie durch die Sünde scheinbar keine Grenzen kennt und jede Vernunft verloren hat. Sie schärft ihren Verstand, um ihre ungeordneten Wünsche erfüllen zu können. Derartige Wünsche findet der Teufel nirgends so sehr als hier in diesen fleischgewordenen Teufeln. Es stört sie nicht, wenn sie sich an Männer heranmacht, um sie zur ungeordneten Liebe zu ermutigen – und zwar so sehr, dass oft zu sehen war, wie selbst ein für Gott bestimmter Ort zu einem Stall wurde, in dem es tatsächlich zur Todsünde kam. Sie wurde zur Ehebrecherin und hat so elend gegen ihren Bräutigam rebelliert, dass sie aus der höchsten Höhe des Himmels in die Tiefen der Hölle fällt. Sie flieht ihre Zelle wie einen Todfeind; sie lässt ihr Offizium aus und isst nicht gern im Refektorium zusammen mit den armen Schwestern, sondern sie speist viel lieber abgesondert, um es bequemer zu haben und bessere Speisen zu genießen. Sie ist grausam gegen sich selbst, und so hat sie auch kein Mitgefühl mit den anderen.
Woher kommen diese vielen Sünden? Aus der sinnlichen Eigenliebe, die ihr das Auge der Vernunft so sehr verdüstert hat, dass sie das Böse nicht erkennt und auch nicht sieht, in welchen Zustand sie gekommen ist oder noch kommen wird, falls sie sich nicht bessert. Denn wenn sie sehen würde, dass die Sünde sie zur Dienerin und Magd dessen macht, was nicht ist, und sie in die ewige Verdammnis führt, würde sie lieber sterben, als ihren Schöpfer zu beleidigen und der eigenen Seele Schaden zufügen. Doch ihre selbstsüchtige Liebe lässt sie das versprochene Gelübde nicht halten, sondern übertreten, denn aufgrund ihrer Ichbezogenheit besitzt und wünscht sie sich Reichtum und weltliche Ehren; im Ordensleben dagegen ist dies Armut und Schande.
Wisst ihr, was daraus folgt, wenn man entgegen dem Gelübde der Armut und der Ordensregel viel besitzen will? Daraus folgt Unehrlichkeit und Ungehorsam. Warum Unehrlichkeit? Auf Grund der Verwicklung, die durch Verwandtschaft und Besitz entsteht – denn hätte sie nichts zu geben, würde sie nur mit den Dienern Gottes Freundschaft halten, die nicht zum eigenen Nutzen, sondern nur um des gekreuzigten Christus willen lieben. Die Diener der Welt aber – die nur an ihren eigenen Vorteil denken, Geschenke erwarten oder aus ungeordneter Liebe gefallen wollen – würden sie niemals umgarnen, wenn sie nichts zu schenken hätte und nur Gott dienen wollte. Und sobald sie dadurch in ihrer Gesinnung verdorben und hochmütig wird, wird sie auch sofort ungehorsam und will niemandem andern vertrauen als sich selbst. So wird es immer schlechter mit ihr, bis schließlich der Tempel Gottes ein Tempel des Teufels ist und sie vom Hochzeitsmahl des ewigen Lebens ausgeschlossen wird, weil sie das Gewand der Nächstenliebe verloren hat.
Mahnung an die Schwestern
Weil Ihr also seht, liebste Schwestern, wie gefährlich es ist, wenn wir unsere versprochenen Gelübde nicht beobachten, bemühen wir uns voll Eifer, sie zu halten! Denken wir an unsere bedauernswerte Nacktheit! Dann sehen wir, wie nützlich unser hochzeitliches Gewand für uns und wie wohlgefällig es vor Gott ist, wenn wir damit voll bekleidet sind. Ich sehe keinen andern Weg. Deshalb habe ich Euch gesagt, dass ich Euch in der wahren und vollkommenen Nächstenliebe gegründet sehen will. Darum bitte ich Euch um der Liebe des gekreuzigten Christus willen: Wacht auf! Machen wir endlich Schluss mit unserem Elend und mit unserer Unvollkommenheit, denn wir haben keine Zeit zu verlieren. Die Glocke des Gerichts hat geschlagen, wir werden zum Tode verurteilt, aber wissen nicht wann. Schon ist die Axt an die Wurzel unseres Baumes gelegt.[11] Wir dürfen nicht säumen, denn wir wissen nicht, wieviel Zeit wir noch haben. Jetzt müssen wir unseren eigenen Willen ertränken und sterben aus Sehnsucht nach Liebe zur Tugend.
Euch, Frau Priorin, sage ich: Gebt das gute Beispiel eines heiligen und aufrichtigen Lebens, damit Ihr Eure Töchter und Untergebenen in der Wahrheit unterrichten, ermahnen und wenn nötig auch strafen könnt. Verbietet ihnen den vertrauten Umgang mit den Laien und die Unterhaltung mit ihren Anhängern und das unnötige und unkontrollierte Öffnen des Sprechzimmers und der Gitter. Ermutigt sie, ihre Zellen zu leeren (damit sie nichts zu verschenken haben) einschließlich ihrer dekorativen Vorhänge und Federbetten und der überflüssigen und unzüchtigen Kleider, falls welche da sind – und ich fürchte, sie haben welche. Und Ihr, liebste Mutter, müsst damit beginnen, damit die anderen bereit sind, Eurem Beispiel zu folgen. Euer Gewissenshund möge Euch beißen und mahnen, damit Ihr daran denkt, dass Ihr vor Gott einmal Rechenschaft geben müsst. Verschließt nicht die Augen, um nicht zu sehen; denn Gott sieht Euch, und Ihr werdet keine Entschuldigung haben. Habt vielmehr stets ein wachsames Auge auf die Euch Anvertrauten. Ich bin sicher, wenn Ihr mit dem genannten Gewand bekleidet seid, werdet Ihr es so tun. Ich bete für Euch, und ich verpflichte mich für Euch zu beten und Euch die Last tragen zu helfen mit der Liebe, die Gott mir schenken wird. Seht zu, dass ich darüber Gutes zu hören bekomme.
Mehr will ich Euch nicht sagen. Bleibt in der heiligen und zärtlichen Liebe Gottes.
Geliebter Jesus! Jesus, die Liebe!
[1] Vgl. Mt 22, 1–14, das Gleichnis vom Hochzeitsmahl.
[2] Vgl. Dialog 135: „Ich gab euch das Gewand, nicht gezwungen durch eure Gerechtigkeit und Tugend, sondern einzig aus Güte und durch die Vermittlung des sanften und liebreichen Wortes, Meines eingeborenen Sohnes. Er kleidete euch neu mit Unschuld und Gnade, indem Er sich selbst des Lebens beraubte. Diese Unschuld und Gnade empfangt ihr in der Taufe.“
[3] Dieses Bild von den gebundenen Händen und Füßen, mit denen es unmöglich ist, die Frucht des ewigen Lebens zu pflücken, kommt nur hier vor.
[4] Caterina verbindet hier das Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl (Mt 22) mit dem Gleichnis von den törichten und klugen Jungfrauen (Mt 25).
[5] Das Ordensleben wurde als „Stand der Vollkommenheit“ bezeichnet, weil das Leben nach den evangelischen Räten (Gehorsam, Enthaltsamkeit, freiwillige Armut) das ständige Bemühen erfordert, die Liebe und die anderen Tugenden immer vollkommener zu üben (vgl. den Titel der Konzilskonstitution über die Erneuerung des Ordenslebens: „Perfectae Caritatis“).
[6] Vgl. Br. 166 an Monna Colomba: „Ihr müsst wissen, dass Gott nicht auf Festlichkeiten, beim Tanz und Spiel oder bei Vergnügungen zu finden ist. Für den, der dies alles sucht, ist das eher eine Gelegenheit und eine Gefahr, ihn zu verlieren.“
[7] Mt 7,13; 13,24.
[8] Vgl. Br. 26 an Sr. Eugenia: seid „vorsichtig (abweisend) wie ein Igel.“
[9] Vgl. Joh 14,23 und Gal 2,20: „Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir.“ Vgl. auch Dialog 1 (Prolog): „Und fragtest du Mich, wer sie seien, so würde Ich dir antworten: Sie sind Mein zweites Ich.“
[10] Vgl. dazu Dialog 130.
[11] Vgl. Mt 3,10; Lk 3,9.