Brief 21 – An eine ungenannte Person
Die Sprache dieses Briefes mit seinen zahlreichen sexuellen Anspielungen und Caterinas Haltung gegenüber diesen damals verbreiteten Praktiken ist klar und eindeutig, so wie sie auch von der Bibel unmissverständlich eingestuft wird. Dennoch zögert sie nicht, liebevoll und offen jemandem zu schreiben, über dessen Verhalten sie zugibt, dass sie es hart findet, darüber zu sprechen.
Der Name des Adressaten wurde offenbar von einem sehr frühen Kopisten entfernt, denn er findet sich in keinem weiteren noch bestehenden Manuskript. In den Rubriken einiger Handschriften wird nur vermerkt, dass gewisse „ungeeignete Worte“ bewusst weggelassen wurden, und dass niemand „den Namen dessen wissen sollte, an den sich der Brief wendet.“ Die Rubrik scheint zudem anzudeuten, dass der Schreiber, der sie verfasste, den Namen des Adressaten kannte.
Caterina spricht zuerst von der unfassbaren Liebe des Gottessohnes, der bereit war, unsere Sünden auf sich zu nehmen, um dann überzuleiten auf die Not des Adressaten, dem sie rät, den gekreuzigten Christus zu betrachten: „Neutralisiert das Gift in Eurem Fleisch, indem Ihr Euch das gegeißelte Fleisch des gekreuzigten Christus vor Augen haltet.“
Keine Unkeuschheit mehr!
Fastenzeit 1376
Im Namen des gekreuzigten Jesus Christus und der lieben Jungfrau Maria.
Liebster Bruder in Christus Jesus. Ich, Caterina, Dienerin und Magd Jesu Christi, schreibe Euch in seinem kostbaren Blut. Ich möchte Euch als einen redlichen Schuldner sehen, der seinem Schöpfer zurückbezahlt, was er ihm schuldig ist.[1] Ihr wisst, dass wir alle in Gottes Schuld stehen, da wir alles, was wir haben, nur aus Gnade und übergroßer Liebe besitzen. Wir haben nicht darum gebeten, erschaffen zu werden. Aber von der Glut seiner Liebe gedrängt, hat Gott uns als sein Abbild, ihm ähnlich, erschaffen. Und dabei gab er uns eine solche Würde, dass keine Zunge es sagen, kein Auge es sehen, noch ein Herz es sich ausdenken könnte, wie groß diese Würde ist.
Das ist die Schuld, die wir Gott gegenüber haben, und Gott möchte, dass wir sie ihm zurückzahlen: Liebe für Liebe. Es ist eine Sache der Gerechtigkeit und Redlichkeit, wenn jene, die sich geliebt wissen, diese Liebe auch erwidern. Gott aber erwies uns die größtmögliche Liebe, indem er sein Leben für uns hingegeben hat. Denn als Gott sah, dass wir unsere Würde durch die Sünde verloren hatten und Schuldknechte des Teufels wurden, kam die Höchste Ewige Güte aufgrund der Liebe zu seinen Geschöpfen, um uns wiederherzustellen und uns von unseren Fesseln zu befreien. Er sandte das Wort, seinen eingeborenen Sohn, und ließ ihn zum Tod verurteilen, um uns das Leben der Gnade zurückzugeben. Er sandte ihn als Bürge für uns, um uns aus dem Gefängnis der Sünde und aus den Händen des Teufels zu befreien.
O, süßes, liebenswertes Wort, Sohn Gottes, unschätzbar zärtliche Liebe! Du bist als unser Befreier gekommen; Du hast unsere Schuld bezahlt; Du hast den Schuldschein zerrissen, der die Menschheit an den Teufel gebunden hat (denn durch die Sünde waren wir an ihn gefesselt). Ja, durch das Zerreißen des Schuldscheines, der Dein Leib war, hast Du uns befreit.[2] Oh mein Herr, wer könnte einer so brennenden Liebe widerstehen? Gewiss nur diejenigen, die Tag für Tag ihren Bund mit dem Teufel erneuern und Dich, Jesus Christus, Gott und Mensch, gegeißelt und mit Schmach überhäuft, nicht beachten. O weh! O weh! diese Leute machen ihren Leib zu einem Stall, in dem sie wilde, vernunftlose Bestien halten!
O weh, liebster Bruder! Schlaft nicht mehr länger in der Todsünde! Ich sage Euch, schon ist die Axt an die Wurzeln des Baumes gelegt.[3] Nehmt die Schaufel der heiligen Gottesfurcht, lasst die Hand der Liebe sie leiten und schaufelt den Schmutz aus Eurer Seele und Eurem Leib![4] Seid nicht grausam zu Euch selbst – Euer eigener Henker –, indem Ihr Euch von Eurem Haupt, von Christus, dem süßen und lieben Jesus, trennt. Keine Beschmutzung, keine Unreinheit mehr! Lauft zu Eurem Schöpfer zurück. Öffnet das Auge Eurer Seele[5] und seht, wie groß das Feuer seiner Liebe ist, die Euch ertragen hat und nicht befahl, die Erde möge sich öffnen oder die wilden Tiere mögen Euch verschlingen.[6] Im Gegenteil, die Erde gibt Euch weiter ihre Früchte, die Sonne ihr Licht und ihre Wärme und der Himmel bewegt sich wie zuvor, damit Ihr leben könnt, und außerdem gibt er Euch noch ein bisschen Zeit, damit Ihr Euer Leben ändern könnt. Und das alles aus Liebe!
O, Ihr törichter Dieb und Schuldner! Wartet nicht länger; opfert dem gekreuzigten Christus Euren Geist, Eure Seele und Euren Leib.[7] Ich meine damit nicht, dass Ihr Euch töten sollt in dem Sinn, dass Ihr Euch vom leiblichen Leben trennt (wiewohl Ihr es tun wollt); sondern Ich meine den Tod in Euren sinnlichen Gelüsten. Tötet Euren Willen und lasst Eure Vernunft leben, indem Ihr dem Beispiel des gekreuzigten Christus folgt. Dann werdet Ihr bezahlen, was Ihr schuldig seid.
Gebt Gott, was Gottes ist, und der Erde, was der Erde gehört. Gott soll man sein Herz und seine Seele und die Liebe schenken – und zwar mit ganzer Kraft, nicht nachlässig. Alles, was Ihr tut, soll in Gott gegründet sein. Und was soll man der Erde geben, diesem sinnlichen Teil von uns? Nur was er verdient. Was aber verdient ein Mörder? Ein Mörder verdient den Tod. Genauso müssen wir diesen Willen töten, indem wir unser Fleisch geißeln, es gefügig machen und ihm das Joch der heiligen Gebote Gottes auferlegen.
Seht Ihr nicht, dass dieses Fleisch sterblich ist? Seine Frische vergeht so rasch, wie eine geknickte Blume welkt, die ihre Wurzeln verloren hat. Seid nicht mehr so, um der Liebe des gekreuzigten Christus willen! Ich versichere Euch, dass Gott eine solche Abscheulichkeit und Bosheit nicht dulden wird; wenn Ihr Euer Leben nicht ändert, wird er mit Euch streng ins Gericht gehen. Ich sage Euch, es ist nicht nur Gott, die höchste Reinheit, die das nicht erträgt, sogar die Teufel können es nicht ausstehen! Denn alle anderen Sünden sind verständlich – nicht aber diese Sünde gegen die Natur.[8] Oder seid Ihr eine Bestie oder ein wildes Tier? Ich sehe deutlich, dass Ihr die Form eines Menschen habt, aber dieser Mensch hat sich in einen Stall verwandelt, in dem die Bestien der Todsünden hausen.
O weh! Um der Liebe Gottes willen, Schluss damit! Denkt an Euer Heil; antwortet Christus, der Euch ruft! Ihr seid geschaffen, ein Tempel Gottes zu sein;[9] Ihr sollt durch die Gnade Christus empfangen, tugendhaft leben und teilhaben am Blut des Lammes, in dem unsere Sünden abgewaschen werden.
O weh! O weh! Meine unglückliche Seele! Ich weiß nicht, wie ich Herr werden kann über Eure und meine Sünden![10] Wie grausam und roh war Eure Seele und Eure bestialische sinnliche Leidenschaft, die Ihr außer der Sünde gegen die Natur ...[11] O weh! Unsere Herzen müssten zerspringen! Die Erde sollte sich öffnen, die Felsen uns begraben und die Wölfe uns verschlingen: Sie sollten solchen Frevel, solchen Schmutz und solche Sünden gegen Gott und gegen Eure Seele nicht dulden! Mein Bruder, unsere Worte versagen und alle Kräfte verlassen uns! O weh! Ich kann nicht mehr! Macht ein Ende mit diesem Elend; macht es Euch nicht so bereitwillig zur Gewohnheit. Ich habe es Euch gesagt und sage es nochmals, dass Gott es nicht dulden wird, wenn Ihr Euch nicht ändert.
Ich versichere Euch, wenn Ihr Euch dazu entscheidet, Euer Leben zu bessern in der kurzen Zeit, die Euch noch verbleibt, dann wird Gott, der so gütig und barmherzig ist, mit Euch Erbarmen haben und Euch liebevoll in seine Arme schließen. Er möchte Euch teilhaben lassen an der Frucht des Blutes des Lammes, das mit so brennender Liebe vergossen wurde, dass auch der größte Sünder Erbarmen findet. Denn Gottes Barmherzigkeit ist größer als unsere Sünden, so lange wir uns ändern wollen und den Schmutz unserer Sünden ausspeien in einer heiligen Beichte mit der festen Absicht, lieber den Tod zu wählen, als noch einmal zu dem zurückzukehren, was wir erbrochen haben. Auf diese Weise werdet Ihr Eure Würde wiedergewinnen, die Ihr durch die Sünde verloren habt. Und wir werden Gott unsere Schulden erstatten. Seid Euch dessen bewusst: Wenn Ihr sie nicht bezahlen wollt, werdet Ihr im finstersten Gefängnis enden, das Ihr Euch nur vorstellen könnt. Und denkt daran, wenn diese Schuld nicht mit der Beichte und Reue über die Sünden bezahlt wird, ist niemand mehr verpflichtet, sie auf sich nehmen. Ihr werdet ganz allein mit den Teufeln, Euren Herren, denen Ihr gedient habt, in die Tiefen der Hölle gehen.
Mein lieber Bruder in Christus, den geliebten Jesus, ich will nicht, dass Ihr in diesem Gefängnis und in der Verdammnis endet. Nein, ich will, und ich bitte Euch, und ich will Euch im Namen des gekreuzigten Christus helfen, Euch aus den Händen des Teufels zu befreien. Bezahlt Eure Schulden durch die heilige Beichte, durch die Absage an die Beleidigung Gottes und durch die feste Absicht, nicht mehr in ein solches Elend zurückzufallen. Denkt an den gekreuzigten Christus. Neutralisiert das Gift in Eurem Fleisch, indem Ihr Euch das gegeißelte Fleisch des gekreuzigten Christus, des Gottmenschen, vor Augen haltet. Denn durch die Vereinigung der göttlichen mit der menschlichen Natur hat unser Fleisch eine so hohe Würde erlangt, dass es über alle Engelchöre erhöht ist.
Wie sehr sollten sich die törichten Kinder Adams schämen, dass sie sich selbst einem solchen Elend ergeben und ihre Würde verloren haben! Setzt Euch den gekreuzigten Christus als Ziel; verbergt Euch in den Wunden des gekreuzigten Christus; ertränkt Euch im Blut des gekreuzigten Christus, und zögert nicht! Wartet nicht auf die Zeit, denn die Zeit wartet nicht auf Euch.
Und sollte Euch Eure Schwachheit Schwierigkeiten bereiten, dann sprecht über Euch das Urteil wie ein guter Richter. Setzt Euch auf den Richterstuhl Eures Gewissens und lasst nur jene Gedanken und Gefühle zu, die Ihr durch eine heilige und liebevolle Erinnerung an Gott korrigiert habt. Ruft Euer Innerstes zum Widerstand auf, und stimmt keiner Sünde zu bzw. werft sie hinaus. Sagt Euch vielmehr: „Meine Seele, nimm heute dieses kleine bisschen Leiden auf dich. Widerstehe, und gib nicht auf. Vielleicht ist morgen dein Leben zu Ende, und wenn du noch am Leben bist, wirst du das tun, was Gott von dir will. Also tue heute das gleiche!“
Ich sage Euch, wenn Ihr so handelt, werden Eure Seele und Euer Leib, die jetzt ein Stall sind, zu einem Tempel, der bei Gott Gefallen findet, und er wird mit seiner Gnade in Euch Wohnung nehmen. Wenn dann Euer Leben zu Ende geht, werdet Ihr zur ewigen Anschauung Gottes gelangen, wo nur Leben ohne Tod und Sättigung ohne Langeweile ist. Lasst nicht zu, dass Ihr ein so großes Gut eines erbärmlichen Vergnügens wegen verliert.
Mehr will ich nicht sagen. Bleibt in Gottes Liebe! Vergebt meine Torheit. Möglicherweise habe ich Euch mit zu vielen Worten überhäuft und das gesagt, was wir vielleicht nicht hören wollen. Entschuldigt, bitte. Aber meine Liebe und Sorge um Euer Seelenheil ließen mich das sagen. Würde ich Euch nicht lieben, hätte ich mich nicht darum gekümmert, noch hätte es mich gestört, Euch in des Teufels Händen zu wissen – aber weil ich Euch liebe, kann ich es nicht ertragen. Ich will, dass Ihr Anteil habt am Blut des Gottessohnes.
Geliebter Jesus! Jesus, die Liebe! Liebste Maria.
[1] Vgl. Br. 311 an die Regierung von Siena: „Wem schulden wir etwas? Gott und der heiligen Kirche … Und was schulden wir? Gott schulden wir Lob und Ehre … denn er hat uns geliebt, bevor wir geschaffen wurden, und er hat uns Ehre erwiesen im Blut seines Sohnes, indem wir die Frucht der Gnade erhielten … Sie hat uns vom Tod befreit und das Leben geschenkt. Und daher schulden wir Gott Ehre und Liebe.“
[2] Vgl. Br. 69 an Sano di Maco, wo das Bild breiter dargestellt wird: „Der Teufel hielt uns gefesselt als sein Eigentum, als seine Knechte und Gefangene, aber Jesus hat uns gerettet. … O unschätzbare, süße Liebe, Du hast den Schuldschein durchgestrichen, der den Menschen an den Teufel gebunden hatte und hast ihn ans heilige Kreuz geheftet. Dieser Schuldschein bestand aus dem Fell des Lammes, des makellosen Lammes. Christus hat uns in sich eingeschrieben und dann das Lammfell zerrissen. Trösten wir uns also in dem Bewusstsein, dass unser Schuldschein zerrissen ist und dass unser Widersacher, der Teufel, uns nicht mehr zurückfordern kann.“
[3] Mt 3,10.
[4] Das ist die einzige Stelle, wo Caterina das Bild von der Schaufel verwendet.
[5] Vgl. Br. 51 an Felice da Massa: „Das Auge unserer Seele ist der Verstand, der das Licht des heiligsten Glaubens so weit besitzt, wie die Hülle der Eigenliebe es nicht verdeckt.“
[6] Vgl. das Urteil des Mose über die Rotte Korachs (Num 16,30): „Wenn die Erde ihren Rachen aufreißt und sie verschlingt … dann werdet ihr erkennen, dass diese Leute den Herrn beleidigt haben.“ Vgl. auch die Androhung des Strafgerichts bei Jer 15,3: „Vier Plagen biete ich gegen sie auf – Spruch des Herrn: Das Schwert zum Morden, die Hunde zum Fortschleifen, die Vögel des Himmels und die Tiere des Feldes zum Fressen und Vertilgen.“
[7] Vgl. Röm 12,1.
[8] Vgl. Dialog 124: „Diese Elenden … begehen die verfluchte Sünde wider die Natur. Nicht nur Mir, der Ich höchste und ewige Reinheit bin, ist sie zum Ekel (so dass Ich um dieser Sünde willen fünf Städte durch Mein göttliches Gericht vernichtete) sondern sogar den Dämonen.“
[9] Vgl. 1 Kor 3,16.
[10] Caterina schließt ihre eigene Sündhaftigkeit in jene des Adressaten mit ein.
[11] Das ist eine jener Auslassungen, von denen in den Rubriken die Rede ist.