Brief 186 – An Neri di Landoccio Pagliaresi

Südliche Toskana (Foto Mayr)

 

In diesem vorletzten von insgesamt 11 Briefen, die Caterina an ihren literarisch gebildeten Sekretär gerichtet hat, erinnert sie ihn daran, dass wir ohne Liebe nicht leben können und dass das einzige Hindernis unsere Ichbezogenheit ist.

 

Wir sind für die Liebe geschaffen

Ende Oktober 1379

Im Namen des gekreuzigten Jesus Christus und der süßen Jungfrau Maria.

Liebster und teuerster Sohn in Christus, dem lieben Jesus. Ich, Caterina, Dienerin und Magd der Diener Jesu Christi, schreibe Dir in seinem kostbaren Blut.

Ich möchte sehen, wie Du das Gefäß Deines Herzens und Deiner Seele bereitest, um das zu empfangen, was die göttliche Güte Dir mit Hilfe des Gebets geben will. Und warum will ich, dass Du Dich vorbereitest? Weil Du es sonst nicht empfangen kannst. Denn Gott ist immer bereit zu geben, daher muss auch das Herz immer bereit sein, zu empfangen.

Und wie geschieht das? Durch die Bereitwilligkeit, die wir von Gott erhalten und empfangen haben, als wir nach seinem Bild, als sein Abbild geschaffen wurden.[1] Damals erhielten wir das Gefäß, die Bereitschaft und das Licht. Das heißt das Gedächtnis als ein Gefäß, das auffängt; den Verstand, mit dem wir in der heiligen Taufe das Licht des Glaubens empfangen; und den Willen, der bereit und fähig ist zu lieben, denn ohne Liebe kann man nicht leben.[2]

Wir haben also für unser Sein von Gott die Bereitschaft erhalten, zu lieben, da wir für die Liebe geschaffen sind.[3] Deshalb müssen wir auch bereit sein, aus freier Entscheidung dieses aus Liebe geschenkte Leben Gott darzubringen und aufzuopfern und durch die Liebe wiederum Liebe empfangen. Ich spreche von der allgemeinen Liebe, die Gott zu jedem vernunftbegabten Geschöpf hat, sowie von den besonderen Gaben und Gnaden, von denen wir spüren, dass wir sie persönlich empfangen haben. Nun, dann bitten wir Gott, er möge uns überfluten mit dem Feuer seiner unvergleichlichen abgrundtiefen Liebe, mit einem übernatürlichen Licht, mit einer Fülle an Gnaden und einer Zier an Tugenden, und dass das Antlitz unserer Seele im kostbaren Blut des demütigen und makellosen Lammes reingewaschen wird.

Lauf also voll Hunger nach der Ehre Gottes und dem Heil der Seelen zum Tisch des Kreuzes und iss dort ausgiebig von dieser süßen und milden Speise, bis Deine ichbezogene Sinnlichkeit platzt und verendet[4] und Dein Wille zur Eigenliebe und zu jeglichem sinnlichen Appetit erstorben ist. Dann bist Du bereit, als treuer Bräutigam der göttlichen Wahrheit für sie zu sterben und, wenn es möglich wäre, tausendmal für sie das Leben hinzugeben. Jetzt ist die Zeit da, liebster und teuerster Sohn, Dein Leben hinzugeben, und Du wirst dazu auch imstande sein, wenn Du die Bereitschaft hast, wie ich sie beschrieben habe. Mehr will ich nicht sagen.

Bleibe in der heiligen und zärtlichen Liebe Gottes.

Geliebter Jesus! Jesus, die Liebe!



[1] Vgl. Gen 1,26. Nur hier (außer einer Andeutung in Br. 113) spricht Caterina davon, dass die Bereitschaft (disposizione) bereits selbst eine Gabe ist.

[2] Vgl. Br. 372 an Karl von Durazzo: „Sie machen ihr Gedächtnis bereit, um darin die Wohltat des Blutes des demütigen Lammes festzuhalten; ihre Vernunft, um den Willen Gottes zu verstehen und zu erkennen – der nur unsere Heiligung will und alles, was er uns, seinen Geschöpfen, gibt oder zulässt, nur aus diesem Grund gibt; und schließlich ihren Willen, um Gott aus ganzem Herzen und mit aller Kraft zu lieben.“ Ähnlich auch in Br. 259 an Tommaso d‘ Alviano: „Wenn wir die drei geistlichen Kräfte unserer Seele geordnet, durch die Liebe erhoben und im Namen Gottes versammelt haben – ich meine, unser Gedächnis, um die Gaben und Gnaden Gottes zu behalten, unsere Einsicht, um zu erkennen, was Gottes Sohn, die Weisheit, wünscht, und unseren Willen, um in der Milde und Sanftheit des Heiligen Geistes zu lieben –, dann wohnt Gott in unserer Seele durch seine Gnade.“

[3] Die Erkenntnis, dass der Mensch von Gott aus Liebe und für die Liebe geschaffen ist und daher ohne Liebe nicht leben kann, ist das alles umfassende Grundthema, welches das ganze Schrifttum Caterinas durchzieht.

[4] Ital. criepa.

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