Brief 175 – An ein Frauenkloster
Ein Leben lang in einem geschlossenen Bereich die Eigenheiten der Mitschwestern zu ertragen ist nur möglich im gemeinsamen Blick auf Christus. Im Gemeinschaftsleben der Schwestern scheint es Unstimmigkeiten, vielleicht sogar Uneinigkeit und Streit gegeben zu haben. Caterina mahnt und ermutigt sie: „Jede möge sich selbst und ihre Fehler erkennen. So bewahrt ihr Frieden und Eintracht.“
Ertragt einander in Liebe!
Ende 1375 / Anfang 1376
Im Namen Jesu Christi, der für uns gekreuzigt wurde.
Meine liebsten und teuersten Töchter und Schwestern in Christus Jesus. Ich, Caterina, Dienerin und Magd der Diener Gottes, schreibe und ermutige Euch im kostbaren Blut seines Sohnes. Ich möchte, dass Ihr das alte Kleid ablegt und Euch mit dem neuen Gewand bekleidet, wie der liebe Apostel sagt: „Zieht an den Herrn Jesus Christus.“[1] Ihr habt das alte Kleid abgelegt, das heißt die Sünde und die unangebrachte Furcht, die mit dem alten Gesetz zusammenhing, das nur auf Furcht vor Strafe gegründet war. Gott will nicht, dass seine Braut ihr Leben auf die Furcht gründet; sondern es muss auf dem heiligen und neuen Gesetz der Liebe errichtet sein, weil das das neue Kleid ist.[2]
Ich bitte Euch also, lasst Euer Herz und Eure Seele darauf gegründet sein. Denn die Seele, die in der Liebe gründet, vollbringt große Taten und scheut keine Mühe. Sie sucht auch nicht das Ihrige,[3] sondern sie strebt beständig danach, wie sie sich mit dem, den sie liebt, vereinigen kann. So also handeln die Diener Gottes. Das Erste, was sie tun, um mit Christus vereint zu sein, ist, dass sie alles weggeben, was zwischen ihnen und Christus steht, was sie von Gott wegzieht, das heißt alle Eigenliebe und Selbstzufriedenheit und alles Verlangen, der Welt zu gefallen. O weh! Wie sehr müssen wir diese Hindernisse[4] hassen. Sie verdecken uns das Licht, so dass wir im Finstern leben; sie betrügen uns um die Gemeinschaft mit Gott und führen uns in jene des Teufels; sie rauben uns das Leben und bringen uns den Tod.
Die wahre Liebe, die reine Liebe zu Gott und dem Nächsten, handelt ganz anders. Sie schenkt Licht, Leben und die volle Vereinigung mit Gott – und zwar so sehr, dass wir durch Sehnsucht und Liebe gleichsam ein anderes Er selbst werden und nichts wollen oder lieben, was von Gott getrennt ist. Denn alles, was in ihm ist, lieben wir; was aber außerhalb seiner ist (die Laster und Sünden), hassen wir. Wir lieben die Tugenden in der Weise, dass wir mit Paulus, dem Mann der Liebe, sagen können: „Was mir damals ein Gewinn war, das habe ich um Christi willen als Verlust erkannt, und meinen Verlust erkenne ich nun als Gewinn.“[5] Mit anderen Worten, Paulus sagt, wenn die Menschen nur sich selbst lieben und die Neigungen ihres Herzens nicht geordnet haben, erscheinen ihnen die Freuden, Vergnügungen und Tröstungen der Welt als gut, so dass sie sie lieben und sich an ihnen erfreuen. Sobald sie aber den alten Menschen abgelegt und sich entschieden haben, dem gekreuzigten Christus zu folgen, sehen sie erst, was sie zurückgelassen haben, so dass sie ihren früheren Zustand hassen. Und wie sie nun merken, dass sie Gott innig lieben, haben sie keinen anderen Wunsch mehr, als selbst nach der Tugend zu streben und sie in ihren Nächsten zu lieben.
Es gibt zwei Tugenden, die sie mehr als alle anderen freuen, weil sie diese so auffallend in Christus wahrnehmen – nämlich die Demut und die Nächstenliebe. Denn sie sehen, wie Gott sich zu ihrer eigenen Menschennatur erniedrigt hat und wie er weder Ehre noch Ruhm suchte, sondern Schande, Hohn, Beleidigung, Spott, Hunger, Durst und Verfolgung auf sich nahm, um unseren Stolz auszumerzen. Daher möchte die Christus geweihte Braut, die sich ganz aufrichtig und frei geschenkt hat, ihm lieber auf diesem Weg nachfolgen als in Annehmlichkeiten. So zeigt sie, dass sie die Tugend der Demut besitzt. Eine solche Braut erfreut sich an der Nächstenliebe. Sie zeigt das in der Liebe zu ihrem Nächsten, für dessen Seelenheil sie sogar ihr Leben geben würde. Dieses Verlangen erwirkt sie aus der Betrachtung ihres ans Kreuz gehefteten Bräutigams, der sein Blut in so überreichem Maß vergossen hat – nicht wegen der Nägel oder des Kreuzes, sondern wegen seiner zärtlichen Liebe zur Ehre des Vaters und unserem Heil. Denn die Liebe war das starke Band, das den Gott-Menschen am Kreuz festhielt.
Wacht daher auf, ihr Christus geweihte Bräute, und legt Eure Nachlässigkeit ab! So wie Ihr körperlich hinter Klostermauern eingeschlossen seid, so lasst auch Eure Sehnsüchte und Neigungen verborgen eingeschlossen sein im Herzen des gekreuzigten Christus, das sich für uns geopfert und geöffnet hat. Dort wird sich Eure Seele mit Tugenden füllen und stärken, und plötzlich werdet Ihr diese zwei Flügel finden, die Euch ins ewige Leben fliegen lassen: Demut und Liebe. Auf den von mir oben beschriebenen Weg werdet Ihr zeigen, dass Ihr diese beiden Flügel besitzt.
Ich bitte Euch daher, liebe Frau, meine Tochter: Bemüht Euch, ohne Furcht, voll Freude und mit Zuversicht für das Heil all Eurer Töchter zu wirken; und seid gewiss, dass ihr für den gekreuzigten Christus alles vermögt. Denkt daran, dass Gott Euch zum Gärtner gemacht hat, um das Laster auszureißen und die Tugend einzupflanzen. Ich bitte Euch, tut es so und lasst dabei nicht nach. Und Euch (Schwestern) bitte ich, seid Untergebene und nehmt die Zurechtweisungen an, denn es ist besser für Euch und für uns, sie in diesem Leben zu geben bzw. zu empfangen als im anderen.[6]
Ich bitte Euch alle, liebste Schwestern in Christus Jesus, seid alle eins und lasst Euch von Gottes Güte umwandeln. Jede möge sich selbst und ihre Fehler erkennen. So bewahrt ihr Frieden und Eintracht, denn wenn man nur die Fehler der anderen und nicht die eigenen sieht und wenn die einen nicht die Last der anderen tragen bzw. ertragen wollen, entsteht Uneinigkeit. Lasst das nicht zu. Sondern seid einander in Liebe verbunden, liebt und ertragt einander, weint mit den Unvollkommenen, und freut Euch mit den Vollkommenen. Auf diese Weise bekleiden wir uns mit dem hochzeitlichen Gewand und werden mit dem Bräutigam zur Hochzeit des ewigen Lebens gelangen.
Mehr will ich nicht sagen. Bleibt in der heiligen und zärtlichen Liebe Gottes.
Der Friede Gottes sei in Euren Herzen.
[1] Vgl. Röm 13,14. Caterina zitiert hier (wie in Br. 160) die Paulus-Stelle in Latein: Induimini Dominum nostrum Jesum Christum – wobei sie die Vulgata ergänzend das nostrum hinzufügt.
[2] Vgl. Br. 108: „Es ist die Liebe, die uns mit Liebe bekleidet“ und Br. 268.
[3] Vgl. 1 Kor 13,5.
[4] Ital. mezzo – Mittel, etwas Dazwischenliegendes (hier im negativen Sinn verwendet). Gemeint ist damit alles, was sich zwischen uns und Gott schiebt und für die Einigung mit Gott ein Hindernis darstellt.
[5] Phil 3,7.
[6] Vgl. das Augustinus-Gebet: „Hier brenne, hier schneide, damit Du es mir ersparst in der Ewigkeit!“ (Hic ure, hic seca, ut in aeternum parcas.)