Raimund von Capua

Raimund vor Gregor XI. in Avignon (Detail), Gemälde in S. Caterina, Varazze (Foto Mayr)

 

Der Dominikaner Raimund von Capua war der Seelenführer und Berater der heiligen Caterina und die wichtigste Persönlichkeit in den letzten Jahren ihres Lebens. Als juristisch gebildeter und thomistisch geschulter Theologe war er ihr unentbehrlicher Ratgeber. Durch ihn erhielt sie Kenntnis von den komplizierten Zusammenhängen des kirchlichen und politischen Lebens. Seinen Beziehungen und diplomatischen Kontakten war es zu verdanken, dass sich Caterinas Wirkungskreis vergrößern konnte und sich ihr Tore und Wege öffneten, die ihr sonst versperrt geblieben wären. Obwohl Raimund ihr geistlicher Leiter und Vorgesetzter war, wusste er sich dennoch auch als der von ihr Geführte und nannte sie, wie ihre anderen Jünger, ebenfalls „Mutter“. Für Caterina schien dies selbstverständlich zu sein. Im sicheren Bewusstsein ihrer Sendung und Aufgabe war Raimund zwar der verehrte Priester und Führer ihrer Seele, ihr „liebster und teuerster Vater“, aber immer zugleich auch (obwohl er um siebzehn Jahre älter war!) ihr „lieber Sohn in Jesus Christus“, der ihr „von der lieben Mutter Maria anvertraut wurde“ (Br. 211, 226, 373).

Wenn man die sechzehn uns erhaltenen Briefe, die Caterina an ihn gerichtet hat, liest, weiß man am Ende nicht, was man hier mehr bewundern soll: die spirituelle Glut und den Freimut, mit dem Caterina ihrem Seelenführer schrieb, oder die Demut, mit der er das alles angenommen hat. Sie tadelt ihn, weil er in ihren Augen zu ängstlich ist und die Bereitschaft zum Martyrium vermissen lässt: „Ihr wart noch ein Milchkind und kein Mann, ihr wart nicht würdig, auf dem Schlachtfeld zu stehen ...“ (Br. 344) und eröffnet ihm zugleich – wie niemand anderem sonst – die letzten Tiefen ihrer Seele: „Ihr wisst“ schrieb sie, „dass ich Euch gewogen bin und euch unschätzbar liebe um eures Heiles willen ... Wenn ich Euch Eure Fehler gezeigt habe, so freut Euch dabei und dankt dem gütigen Gott, der für Euch bestimmt hat, dass jemand an Euch arbeitet und über Euch wacht vor Gottes Angesicht“ (Br. 344).

 

Die 16 Briefe im Überblick

 

1. Bluthochzeit – Niccolò di Toldo

Brief 273 (kurz nach dem 13. Juni 1375). Der berühmteste und gewiß meistgelesene Brief Caterinas berichtet von der Hinrichtung eines jungen Adeligen aus Perugia. In die politischen Mühlen rivalisierender Städte und Adelsgeschlechter geraten, wird Niccolò di Toldo am 4. Juni 1375 verhört und schließlich als Unruhestifter zum Tod durch Enthauptung verurteilt. Caterina kommt in dieser Angelegenheit eigens aus Pisa nach Siena zurück. Dabei gelingt es ihr, den Delinquenten mit Gott zu versöhnen. Unmittelbar nach der Hinrichtung schildert sie in einem Brief an Raimund den ganzen Vorfall. Die allgemeine Wirkung des Briefes liegt wohl auch darin, dass hier – im Angesicht der Ewigkeit – der unbedingte Ernst des menschlichen Lebens sichtbar wird.

 

2. In der Schule der Liebe

Brief 226 (Februar 1376). Bald nach dem 11. Februar ergeht das Ultimatum des Papstes an die Florentiner. Auf Ersuchen der Regierung und auf Geheiß Caterinas reist Raimund nach Avignon mit Zwischenstation in Florenz. Caterina schickt von Siena aus ihren Sekretär Neri di Landoccio (vielleicht mit dem gegenwärtigen Brief) zu Raimund, der ihn zusammen mit Giovanni Tantucci und Felice da Massa als Begleiter mitnimmt nach Avignon.

 

3. Zieht los als arme Verkünder!

Brief 280 (März 1376). Auf dem Weg nach Avignon erhält Raimund einen weiteren Brief von Caterina, die offenbar über die Reiseroute ihrer Getreuen genau informiert ist. Der Inhalt: Zuspruch und Ermutigung.

 

4. Die Zukunft der Kirche

Brief 219 (Anfang April 1376). Raimund und seine Begleiter erreichen Anfang April Avignon. Bald darauf kommt dieser Brief, in dem Caterina von einer Vision berichtet, die sie in der Nacht des 1. April erlebt hat: Sie sah, wie ihr Christus ein Kreuz auf die Schulter legte und einen Ölzweig in die Hand gab mit dem Auftrag, Frieden zu stiften unter den Völkern. Damit nimmt ihre Sendung – derer sie sich schon lange bewusst war – eine konkrete Gestalt an: Sie soll nach Florenz reisen und mit der Macht ihres Wortes die Florentiner zur Ehrfurcht gegenüber dem Papst zurückbringen. Dieser Einsatz für den Frieden führt sie schließlich nach Frankreich. Caterina kommt am 18. Juni nach Avignon und bleibt dort bis zum 13. September 1376, der endgültigen Abreise des Papstes nach Rom.

 

5. Die Erprobung der Tugend

Brief 211 (Ende April 1376). Noch vor ihrer Abreise nach Avignon richtet sie einen weiteren Brief an Raimund, den sie bereits am Hof des Papstes in Frankreich weiß. Ähnlich wie in den vorhergehenden Schreiben aus dieser Zeit mahnt sie Raimund, sich nicht zu fürchten, was immer auch geschehen möge. (Vielleicht auch ein Hinweis auf eine nur ihn betreffende Not.)

 

6. Ein seltsamer Brief

Brief 267 (Anfang Oktober 1377). Nach dem Erfolg in Avignon verbringt Caterina längere Zeit im Orcia-Tal, unter anderem auch auf den Burgen der mächtigen Salimbeni. Siena ist misstrauisch geworden, noch dazu, da sie ihren Beichtvater und Ratgeber nach Rom schickt. Der genaue Auftrag kann nur vermutet werden. Fest steht aber, dass Raimund in kirchlichen Kreisen und auch beim Papst ungnädig aufgenommen wurde und seine Oberen ihm verbieten, nach Siena zurückzukehren. Caterina ist darüber tief betroffen. Nun richtet sie an ihn diesen Brief, von dem niemand mit Sicherheit weiß, was es damit auf sich hat. Caterina spricht von einem Versagen ihrerseits: Hatte sie dem Papst mehr versprochen, als sie halten konnte – nämlich Florenz und Siena für den Papst umzustimmen?

 

7. Christus – die Brücke zum Himmel

Brief 272 (Mitte Oktober 1377). Caterina hatte sich um Raimund Sorgen gemacht. Sein Brief und der Brief von Papst Gregor trösten sie wieder. Ihr an Gott gerichtetes Gebet und die von ihm erhaltene Antwort auf ihre vier Bitten bilden den Hauptinhalt des Briefes, den sie nun von Rocca d´Orcia aus (eigenhändig, wie es heißt) an Raimund schreibt. Etwas später dient ihr dieser Brief als eine Art Grundgerüst für ihr Hauptwerk, den „Dialog“.

 

8. Die Geduld – das Mark der Liebe

Brief 104 (November / Dezember 1377). Caterina nennt Raimund, der sich scheinbar in Rom aufhält, in diesem Brief „meinen nachlässigen und undankbaren Sohn“, und sie ermahnt ihn zur Geduld bei Widerwärtigkeiten. Ihre eigene Stimmung ist aber ebenfalls ziemlich gedrückt: „Was mich betrifft, so möge mich Gott, wenn es sein Wille ist, aus diesem dunklen Leben nehmen, denn das Leben ist unerträglich für mich, und ich ersehne den Tod.“

 

9. Programm für einen Seelsorger

Brief 100 (Ende Januar 1378). Raimund wurde Anfang 1378 erneut mit der Leitung des Dominikanerkonvents in Rom betraut (Santa Maria sopra Minerva). Bei seinen vielfältigen Aufgaben darf er eines nicht vergessen, dass er als Priester immer zuerst Seelsorger ist, dem das Heil der Seelen am Herzen liegen muss. Der Brief ist, abgesehen von der Anrede und den Schlußsätzen, identisch mit jenem, den Caterina dann an den Rektor des Hospitals in Siena sendet (Br. 63 an Matteo di Fazio dei Cenni).

 

10. Im Boot des Kreuzes

Brief 275 (Januar / Februar 1378). Caterina spricht vom Kreuz Christi als dem Schiff unseres Heiles, das uns über das stürmische Meer der Zeit hinüberträgt in den sicheren Hafen der Ewigkeit.

 

11. Ich wollte mein Leben opfern

Brief 295 (Anfang Juli 1378). Caterina hält sich im Auftrag des Papstes in Florenz auf. Im Frühjahr 1378 stirbt Gregor XI., ein Friede zwischen dem Heiligen Stuhl und Florenz ist aber noch nicht in Sicht. Caterinas diesbezügliche Bemühungen hätten ihr bei einem Aufstand am 22. Juni 1378 beinahe das Leben gekostet. In diesem Brief an Raimund berichtet sie darüber aus ihrer Sicht. Sie klagt, dass ihr das ersehnte Martyrium verwehrt wurde.

 

12. Seid vom Licht erleuchtet!

Brief 330 (Dezember 1378). Seit 20. September 1378 ist das Schisma vollendete Tatsache. Zwei Monate später, am 28. November 1378, kommt Caterina mit ihren Getreuen in Rom an. Sie wird von Raimund begrüßt, ehe er im Auftrag Urbans an der Spitze einer päpstlichen Delegation nach Frankreich aufbricht, um die Pariser Universität und König Karl den Weisen von einer Unterstützung des Gegenpapstes abzuhalten. In einem nach Pisa nachgeschickten Schreiben erinnert ihn Caterina, er möge bei seinem Einsatz für die Kirche ganz erfüllt sein vom Licht Gottes. Zugleich aber ersehnt sie seine Rückkehr nach Rom.

 

13. Ihr seid gerne geflohen

Brief 333 (Januar 1379). Durch die zunehmende Gefährlichkeit der Reise (in Ventimiglia wird Raimund vor feindlichen Hinterhalten und Lebensgefahren gewarnt) wird die Mission seinerseits schließlich abgebrochen. Caterina zögerte nicht, Raimund von Rom aus brieflich mitzuteilen, was sie von dieser Vorsichtsmaßnahme hält: „Ihr seid nicht würdig, auf dem Schlachtfeld zu stehen, sondern habt wie ein Kind im Hintergrund Zuflucht gesucht. Freiwillig seid Ihr geflohen, und habt Euch sogar gefreut, dass Gott Eurer Schwäche nachgegeben hat.“

 

14. Wer liebt, der ist treu

Brief 344 (20. Juli 1379). Nach dem ersten gescheiterten Versuch erhält Raimund im Mai 1379 vom Papst den Auftrag, es von Genua aus neuerlich zu probieren, diesmal über Spanien. Aber auch hier ist der Weg versperrt, so dass er die Reise gar nicht erst beginnen kann. Caterinas Reaktion auf dieses neuerliche Scheitern ist eine Mischung von Vorwürfen gegenüber einem Freund und gegen sich selbst: „Wäret Ihr treu geblieben, so hättet Ihr nicht gezögert. Wenn Ihr nicht aufrecht gehen hättet können, wäret Ihr eben gekrochen. Und wenn es nicht als Mönch möglich gewesen wäre, dann wäret Ihr eben als Pilger gegangen.“ Und am Schluss ein typisches Caterina-Wort: „Ein Mann seid Ihr, wenn Ihr Versprechungen macht. Seid mir aber kein Weib, wenn es darum geht, dies umzusetzen in die Tat!“

 

15. Lobpreis des kostbaren Blutes

Brief 102 (Januar1380). Der Brief lässt vermuten, dass Raimund fernab von Caterina in einer verantwortungsvollen Aufgabe gegen alle möglichen Misserfolge zu kämpfen hat. Vielleicht während seiner Zeit als Provinzial der oberen Lombardei, wozu er Ende 1379 gewählt wurde. Dies würde auch der Inhalt des Briefes nahelegen: Caterinas Wunsch, er möge mit dem Blut Christi gänzlich umkleidet werden.

 

16. Das Vermächtnis – der letzte Brief

Brief 373 (15. Februar 1380). Urbans anfängliche Erfolge waren nicht von langer Dauer. Nach der Vertreibung des Gegenpapstes erwächst ihm in dem mächtigen römischen Stadtpräfekten ein neuer Gegner. Das Volk wird aufgehetzt, sein Leben ist in Gefahr, und Caterina kann nur noch beten und ihr Leben als Opfer anbieten. Alle Mühen waren scheinbar vergebens, die vertrauten Freunde sind fernab von Rom, und sie selbst erfährt die Vorahnung des nahenden Todes. In dieser Situation möchte sie Raimund noch einmal alles anvertrauen und berichten. Und so wird er der Empfänger ihres letzten großen Briefes, der zugleich eine Art Testament darstellt, das sie ihm und ihrer „Familie“ hinterlassen wollte.

 

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