Kapitel I und II
1. Kapitel
Das erste Kapitel behandelt einige Visionen und Zwiegespräche mit Gott, Versuchungen, Triumphe und bestimmte Gnaden, die die Jungfrau in einzigartiger Weise für sich erlangt hat. Das Kapitel wird in zehn Punkte unterteilt, entsprechend den zehn Bereichen, die darin behandelt werden. Diese zehn Punkte können auf bestimmte Abschnitte des ersten Teiles der besagten Legende bezogen werden.
1 Es ist wissenswert, dass die Jungfrau, als sie noch ein kleines Kind war und erst im fünften Lebensjahr stand, die jungfräuliche Gottesmutter verehrte und überall, wo sie ihr Bild fand, „Ave Maria“ sagte. Einmal, als sie diesen Gruß sprach, wurde sie von der Erde emporgehoben.1
2 Als sich die Jungfrau ihrem sechsten Lebensjahr näherte und einmal mit ihrem kleinen Bruder zum Haus ihrer Schwester ging, sah sie in der Luft einen wunderschönen Platz, auf dem sich drei Personen befanden: Christus, Johannes und Paulus. Die zwei Letztgenannten sah sie im Kleid der Schar der Heiligen, Christus aber im bischöflichen Gewand. Und sie sah eine große Helligkeit, und während sie ihre Aufmerksamkeit darauf richtete, wurde sie von ihrem Bruder angeredet, sie aber empfand große Freude beim Anschauen. Und damals gab ihr der Erlöser seinen Segen, sie aber empfing ihn mit großer Ehrfurcht. Während ihre Aufmerksamkeit diesen Dingen galt, antwortete sie ihrem Bruder nicht. Offensichtlich aber beziehen sich die zwei vorerwähnten Ereignisse auf das zweite Kapitel des ersten Teiles.2
3 Im Lauf der Zeit erzählte sie ihrem Beichtvater, wie sie einmal, ehe sie ihr Ordenskleid empfing, die Erscheinung des heiligen Dominikus und des heiligen Franziskus sah; von diesen sprach sie der heilige Dominikus an und sagte: „Meine Tochter, du sollst dieses Kleid besitzen und tragen“, und er zeigte ihr das Bußkleid des Dominikanerordens. Der heilige Dominikus aber trug eine wunderschöne Lilie in den Händen, die auf wundersame Weise brannte, aber doch nicht durch den Brand vernichtet wurde. Und so nahm sie später das vorerwähnte Kleid mit größtem Eifer und tiefster Ehrfurcht in Empfang.3
4 Ehe die Jungfrau das Kleid des heiligen Dominikus empfing, stand sie eines Abends eine geraume Zeit im Gebet vor dem Bild des Gekreuzigten. Da erschien ihr der Teufel mit einem Seidenkleid in der Hand und schickte sich an, es ihr anzulegen; sie aber lachte, als sie ihn sah, sie verachtete ihn und wandte sich dem Bild des Gekreuzigten zu. Als sich dann der Teufel entfernt hatte, kam der Gedanke an den Prunk schöner Kleider, wie sie verheiratete Frauen tragen, als schreckliche Versuchung über sie. Sie aber wandte sich im Gebet an den Gekreuzigten und sagte: „Mein liebster Bräutigam, Du weißt, dass ich niemals einen anderen Bräutigam als Dich ersehnt habe. Komm mir zu Hilfe, dass ich diese Versuchungen überwinde. Ich bitte nicht, dass Du sie von mir nimmst, sondern dass Du mir den Sieg über sie schenkst.“ Als sie das gesagt hatte, erschien ihr sogleich die heilige Jungfrau und zeigte ihr das allerschönste Kleid, das aus der Seitenwunde des Gekreuzigten herauskam. Sie selbst schmückte es noch mit Geschmeide aus Gold und Perlen. Hierauf legte sie ihr das Kleid an und sprach: „Wisse wohl, dass die Kleider, die aus der Seite meines Sohnes hervorgegangen sind, alle anderen Kleider an Schönheit weit übertreffen.“
Diese Begebenheit kann in Bezug gebracht werden mit dem Ende des 6. Kapitels des ersten Teiles.4
5 Zu Beginn der Zeit, in der die Jungfrau das Kleid an sich genommen hatte, zeigte ihr der Herr folgende Vision:
Während sie sich wunderte, dass die Menschen mehr dem Verderben der Welt als dem Heil Christi nachgingen, sah sie, wie vor ihr ein überaus schöner Baum stand; er trug die schönsten und süßesten Früchte; der gewaltige Umfang seines Stammes machte aber das Besteigen sehr schwer, und um den Baum waren einige Brombeerstauden gepflanzt. Auf einem dem Baum nahegelegenen Platz war ein Hügel von Getreidehülsen, aber ohne das Mark des Getreides.
Dann sah sie, wie Menschen voll Hunger herbeiliefen; als sie die süßen Früchte auf dem Baum sahen, näherten sie sich, doch weil sie um ihn herum die Brombeerranken bemerkten, wichen sie aus Furcht vor den Stichen zurück; sie stürzten sich auf jenen Hügel und sammelten dort mit großer Sorgfalt und Umsicht die leeren Getreidehülsen und aßen sie auf, doch sie fanden darin keine Nahrung und blieben daher ungesättigt und schwach. Einige andere aber kamen zum Baum und überwanden die Brombeerranken; doch als sie die Dicke des Stammes und die Schwierigkeit des Besteigens wahrnahmen, wichen sie zurück, wandten sich dem erwähnten Hügel zu und machten es wie die ersten. Einige aber liefen voll Mut und Begier heran, fürchteten weder die Ranken noch den schwierigen Aufstieg, erkletterten den Baum, kosteten und aßen die süßen Früchte und wurden gesund, fröhlich und satt.
Das war so zu denken: Der Baum ist das fleischgewordene Wort, seine Früchte sind die Tugenden; der Hügel aus leeren Getreidehülsen aber ist die Welt. Die zuerst Herankommenden sind diejenigen, die die Mühe der Buße oder Tugenden fürchten; die zweiten sind die, die zwar beginnen, aber nicht ausharren und in die Welt zurückkehren. Sie alle sind in ihrem törichten Streben nach zeitlichen Gütern, die das Herz nicht erquicken, stets krank im Herzen. Die dritten aber sind diejenigen, die weder durch eine Schwierigkeit noch durch eine Widerwärtigkeit von der Tugend abweichen. Dies kann passend auf das 9. Kapitel dieses ersten Teiles bezogen werden.5
6 Als sie am Beginn ihrer Versuchungen durch fleischliche Gedanken hart auf die Probe gestellt wurde, so sehr, dass der Dämon vor ihren Augen unzüchtige Handlungen vollführte, stand sie im Gebet von der Morgenröte an und verharrte bis zur Stunde der Terz; sie sprach: „Ich baue auf meinen Herrn Jesus Christus.“ Zur Stunde der Terz aber erschien ihr der Gekreuzigte. Er war ganz mit Blut überströmt, im Antlitz, in den Haaren und am ganzen Leib, so dass sie ihn nicht erkannte und sehr verwundert war. Dann hob der Gekreuzigte die rechte Hand vom Kreuz, rief sie an und sprach: „Meine Tochter Caterina, siehst du, was Ich für dich getragen habe?“ Da fiel sie von Furcht erfasst auf ihr Angesicht, Christus aber stärkte sie und sprach: „Handle voll Mut, denn Ich werde immer mit dir sein.“ Alle Dämonen aber wichen zurück, und sie sagte gestärkt dem Heiland Dank. Dem Beichtvater berichtete sie schließlich von der großen Wonne, die sie fühlte, als Christus zu ihr sagte: „Meine Tochter Caterina.“ Stets empfand sie eine nicht geringe Freude, sooft die Erinnerung in ihr lebendig wurde.6
7 In der Zeit der Heimsuchung, das heißt der Drangsale und Versuchungen, war die Jungfrau überaus eifrig und standhaft im Gebet; darin fand sie Trost nach den Bedrängnissen. Sie war aber ganz entrückt bei der Betrachtung der Leiden Christi, und das war ihr Trost und ihr Labsal. So kam es, dass sie sich einmal nach einem Kampf, den sie in großer Angst und Pein mit dem Teufel ausgefochten hatte, im Gebet zu Boden warf und mit den leiblichen Augen Christus am Kreuz sah. Er zeigte ihr seine Seite und sprach: „Sieh, meine Tochter, was Ich für dich auf Mich genommen habe! Sei daher voll Eifer, denn Ich bin mit dir.“ Und er sprach zu ihr so beglückende Worte, dass sie ganz dahinschwand und sagte: „Herr, diese Heimsuchungen sind nichts, denn ich bin bereit, alles für Dich zu ertragen, weil Du für mich alles auf Dich genommen hast.“7 Immer errang sie den Sieg über ihre Feinde durch die Beharrlichkeit im Gebet, von der sie stets sprach, mit wem immer sie redete. So musste es auch immer geschehen, denn das Gebet ist der Schild gegen Anfeindungen und Trost und Speise der Seele. Mit dieser Speise nährt sich die Seele; damit hält sie sich aufrecht und wirkt voll Eifer und nicht mit Missmut. Daher betete sie selbst immer, denn ihr Herz war stets mit Gott. Diese zwei Begebenheiten können mit dem zweiten Teil des elften Kapitels in Bezug gebracht werden.
8 Aus den oben erwähnten Schriften habe ich Kenntnis erhalten, wie die Jungfrau nicht nur auf wunderbare Weise lesen, sondern auch schreiben gelernt hat. Man kann hier erfahren: Als einmal ein Gefäß, in dem eine Flüssigkeit zum Schreiben und Aufzeichnen war, in die Hände dieser heiligen Jungfrau fiel – es war von einem Schreiber bereitgestellt worden –, nahm sie ein Rohr und ein kleines Blatt Papier, und obwohl sie nicht die geringste Unterweisung im Schreiben erhalten hatte, setzte sie sich hin und begann zu schreiben;8 sie schrieb mit den passenden Buchstaben auf dem zurechtgelegten Blatt in ihrer Muttersprache folgende Worte, die ins Latein übersetzt wurden. Sie lauten: „Heiliger Geist, komm in mein Herz, führe es durch Deine Macht zu Dir, o Gott, und verleihe mir Liebe mit Furcht. Bewahre mich, Christus, vor jedem bösen Gedanken. Erwärme und entflamme mich mit Deiner süßesten Liebe, so dass jede Pein mir leicht erscheint. Mein heiliger Vater und süßer Gebieter steht mir bei in jeder Not. Christus die Liebe, Christus die Liebe.“9
Als ganz eindeutiges Zeichen eines Wunders mag aber gelten, dass die erwähnte Schrift von solcher Beschaffenheit und Schönheit war, dass niemand sie in ähnlicher Weise schaffen könnte, außer er hätte durch einen langen Zeitraum gelernt zu buchstabieren und Buchstaben genau zu bilden und zu schreiben. Darum ist auch später der besagte, von der Jungfrau auf so wundersame Weise beschriebene Zettel als einzigartige Reliquie einem verehrungswürdigen Mönch übergeben worden, nämlich Fra Jeronimo da Siena aus dem Orden der Eremiten des heiligen Augustinus.10 Dieser, der sich später, nach dem Tod der Jungfrau, als Prediger in der Stadt Venedig aufhielt, schenkte eben dieses Blatt Papier als Gabe von einzigartigem Wert einem ehrwürdigen Priester, dem Herrn Leonardo Pisano von Venedig, der gleichfalls Prediger in Venedig war. Besagter Priester geruhte es in der Folge mir als besonderes Geschenk weiterzugeben. Jetzt befindet sich das genannte Blatt Papier mit einigen anderen Andenken an diese Jungfrau bei den Schwestern vom Orden der Buße des heiligen Dominikus in Venedig.11
9 Man soll aber wissen, dass die vorerwähnte Aufzeichnung, mag sie auch auf wundersame Weise von der Hand der Jungfrau geschrieben worden sein, doch nicht die erste, die sie schrieb, gewesen zu sein scheint. Ich erhielt nämlich einmal einen Brief von einem ehrwürdigen Pater, Don Stefano Maconi von Siena aus dem Orden der Kartäuser (er war einer von den Schreibern und von den in Christus besonders geschätzten Söhnen dieser gütigen Jungfrau); darin schrieb er mir unter anderem: Seit die Jungfrau auf wundersame Weise schreiben gelernt hatte, erhob sie sich vom Gebet mit dem Verlangen zu schreiben. Mit eigener Hand schrieb sie ein Briefchen, das sie Don Stefano selbst schickte. In ihm findet sich in ihrer Muttersprache folgender Schluss (die Muttersprache lateinisch wiedergegeben):
„Wisse, mein teuerster Sohn: dies ist der erste Brief, den ich je geschrieben habe.“
Hierauf teilte mir der erwähnte Pater in dem vorhin genannten Brief mit, dass die Jungfrau später in seiner Gegenwart oftmals mit eigener Hand geschrieben hätte, unter anderem einige Blätter des Buches, das sie in ihrer Muttersprache verfasst hatte,12 und dass er diese aus besonderer Verehrung in die Kartause Pontignano bei Siena, wo er einst seine Profeß abgelegt hatte, überbrachte und dort verwahrt halte. Obendrein habe ich auch in den Büchern der Briefe der Jungfrau, die von ihren verschiedenen Schreibern abgeschrieben worden waren, gelesen und erfahren, dass die Jungfau selbst ihrem verehrten Vater, dem Magister Raimund (der dann später, nach dem Heimgang der Jungfrau in die Ewigkeit, ihre Biographie verfasste) zwei Briefe mit eigener Hand geschrieben hat; unter anderem teilte sie ihm mit, wie der Herr auf wundersame Weise in besonderer Vorsehung in ihrem Geist die Fähigkeit zum Schreiben geformt hatte.13
Aber wenn auch die erwähnten zwei Beispiele aus den Schriften der Jungfrau auf den Anfang des dritten Teiles bezogen werden können, so können sie doch auch mit dem 11. Kapitel des ersten Teiles in Verbindung gebracht werden.
10 Als sie einmal den Herrn gebeten hatte, sie zu seiner Braut zu erwählen, erschien ihr Christus im Gebet und trug einen mit fünf Steinen geschmückten Ring in seiner Hand. Er gab ihn ihr, sie aber erfasste eine so große Liebe, dass sie es kaum ertragen konnte. Und man sah, dass sie den Ring immer an den Händen trug, und wenn sie sich einmal eine gewisse Nachlässigkeit hatte zuschulden kommen lassen, so empfand sie dann von neuem Liebe und Wonne. Mit Christus zeigte sich ihr aber auch der Prophet David mit dem Psalter und der heilige Dominikus.14
Dies bezieht sich offensichtlich auf das 12. und letzte Kapitel jenes ersten Teiles der Legende.
Anmerkungen:
1 Mit der „Legende“ ist hier immer Raimund von Capuas große Caterina-Biographie, die Legenda Maior, gemeint.
2 Als Caterina und ihre Gefährtinnen nach dem Generalkapitel der Dominikaner in Florenz (und mit dem nachfolgenden Segen des Papstes) der Führung und Leitung des angesehenen Dominikaners Raimund von Capua anvertraut wurden, empfand sie dies als ein Geschenk des Himmels. In Br. 373 an Raimund schreibt Caterina: „Nun bitte und beschwöre ich Euch, Vater und Sohn, der Ihr mir anvertraut wurdet von jener lieben Mutter Maria ...“ Vgl. dazu auch Suppl. III, I, A.2; ebenso Br. 211 an Raimund: „O weh, mein Sohn, den mir die süße Mutter Maria übergab!“
3 Caffarinis Beiträge beziehen sich auf Raimunds große Biographie, die Legenda Maior, als auch auf Caffarinis abgekürzte Version, die Legenda Minor.
1 Vgl. F. Valli, Saggi su S. Caterina da Siena, Urbino, 1949, S. 58; vgl. auch R. 28.
2 Vgl. Legenda Maior 29.
3 Vgl. Legenda Maior 53.
4 Vgl. Legenda Maior 402, das ein Teil von Kapitel 6 des dritten Teiles ist.
5 Vgl. Dialog 44, ebenso R. Fawtier, Catheriniana, in: Mélanges d´Archéologie et d´Histoire, XXXIV, Rome 1914, 94–95.
6 Vgl. Legenda Maior 106–109.
7 Vgl. Gal 2, 20.
8 Nur Caffarini berichtet hier und in seiner Stellungnahme im Prozess von Castello die gegenwärtige Episode. R. Fawtier bezweifelt hartnäckig die Echtheit, vor allem in S. Catherine de Sienne, II, S. 354 ff.. Vgl. auch Legenda Maior 113.
9 Vgl. Prozess, S. 95. Der dort wiedergegebene Text entspricht der Lesart von Codex B.
10 An Fra Jeronimo (Hieronymus), Augustiner-Eremit von Lecceto, ist uns ein schöner Brief Caterinas erhalten über die rechte Freundschaft (Br. 52).
11 Das Kloster und die Kirche wurden in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts von Lucia Tiepolo, der Äbtissin des Benediktinerinnen-Konvents SS. Filippo et Giacomo in Amiana, errichtet. 1394 änderte Papst Bonifaz IX. die Benediktinerregel in jene der Dominikaner. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts wurde die Kirche nach einer Zerstörung neu aufgebaut und 1444 vom heiligen Bischof Lorenzo Giustiniani neu eingeweiht. Das Kloster befand sich bis 1534 unter der Leitung der Dominikaner, war dann zwischenzeitlich in unmittelbarer Abhängigkeit vom Heiligen Stuhl und unterstand schließlich seit 1560 dem Patriarchat von Venedig. Die Gemeinschaft endete am 12. Mai 1810, als die Kirche und der Konvent vom allgemeinen Aufhebungsdekret betroffen wurden.
12 Über den von Caterina an Stefano Maconi eigenhändig geschriebenen Brief vgl. Seite 427, Anm. 71.
13 Im III. Teil (Kapitel 1, Art. 1) wird ausgesagt, dass die beiden Briefe (371 und 373), die dort eingefügt sind (vgl. S. 292 und 297), von der Hand Caterinas persönlich geschrieben wurden. Im Brief 272 jedoch sagt die Heilige, dass sie mit ihrer Hand jene und einen anderen davor geschrieben hat. Folglich müssten es also mindestens vier autographische Briefe sein, die sie an Raimund abgeschickt hat.
14 Die Legenda Maior 114 und die Legenda Minor I, 12 berichten die Vision mit einer größeren Anzahl von Personen: neben Christus, David und dem heiligen Dominikus sah die Heilige zudem auch die heilige Jungfrau Maria, begleitet vom heiligen Johannes dem Täufer (bzw. dem Evangelisten Johannes) und dem heiligen Paulus.
2. Kapitel
Das zweite Kapitel behandelt vielerlei, u. a. einige Visionen, Entrückungen, Worte, die Gott an sie richtete, Offenbarungen, die der Jungfrau zuteil wurden, wenn sie an Gott dachte oder während sie betrachtete oder betete, sei es im Stehen, sei es im Gehen. So widerfuhr ihr, dass sie leibliche und geistliche Tröstungen für sich und andere erlangte; in gleicher Weise auch, dass ihr selbst und anderen besonders erbetene Gnaden zuteil wurden.1 Die erwähnten Abschnitte – 21 Punkte – sind irgendwie mit dem ersten Teil der Legende in Zusammenhang zu bringen, im einzelnen mit bestimmten Kapiteln und insbesondere mit den neunten Kapitel, das von den Visionen der Jungfrau handelt.
1 Man soll erfahren, dass die Jungfrau einmal ihrem Beichtvater berichtet hat, sie habe Gott mit solcher Wonne gesehen, dass sie nichts anderes sagen könne, als dass es die reine Glückseligkeit war.
2 Die Seele der Jungfrau fand über alle Maßen ihr Entzücken in dem, was Gott betrifft. Als sie einmal an ein Fenster getreten war und dort in dem Gedanken an Gott versunken war, vernahm sie in der Höhe noch nie gehörte Gesänge mit solcher Wonne, dass es ihr schien, nicht auf der Welt, sondern im ewigen Leben zu sein.
3 Als sie sich inmitten ihrer Mitschwestern befand und ihre Gedanken besonders fest auf Gott gerichtet waren, empfand sie ein solches Entzücken, dass sie nicht das Geringste verspürte, als ihre Gefährtinnen sie anrührten; später aber fing sie laut zu singen an, so laut und mit solcher Stimme, dass sie in eine andere Person verwandelt zu sein schien. Alle Gefährtinnen nahmen an ihrer Tröstung teil, so dass sie beinahe drei Tage hindurch so verharrten, weil sie nicht essen wollten. Und sie kehrten unter einem heftigen Regenguss zurück, wobei sie unaufhörlich sangen, denn sie waren voll des Geistes.
4 Als sie sich einmal in der Kirche der Brüder des Predigerordens in Siena befand, erschien ihr der heilige Dominikus, und sie wurde von ihm so getröstet, dass sie vor Wonne zu sterben wünschte. Er geleitete sie bis zu ihrem Haus.
5 Als sie in der Kirche verweilte und betete, sah sie Christus; er redete mit ihr, und von seiner Brust ging ein solcher Glanz aus, dass er die Kirche erleuchtete. Sie empfand darüber großen Trost. Dann führte er sie in das ewige Leben, und sie verweilte dort über eine lange Zeit. Da sie nicht in die Welt zurückkehren wollte, sagte Christus zu ihr: „Geh mit meinem Segen!“ So kam sie wieder zu sich und fand sich allein in der Kirche. Sogleich ging sie zu ihrem Haus; sie ging aber durch die Straße, als ob sie es nicht merkte. Auch das berichtete sie ordnungsgemäß ihrem Beichtvater.
6 Als sie in ihrer Kammer im Gebet verweilte, fühlte sie über ihrem Haupt eine gewisse Last; als sie sich hierauf aufrichtete, sah sie Christus und den heiligen Dominikus. Sie fing zu singen an, und sie sangen mit ihr; Christus war in der Mitte zwischen ihr und dem heiligen Dominikus, und so sangen alle drei gemeinsam. Sie empfand darüber solchen Trost, dass sie nichts anderes wollte als sterben.
7 Als sie in der Gemeinschaft weilte und an Gott dachte, wurde sogleich ihr Sinn in das ewige Leben entrückt. Sie glaubte, mit Gott und allen Heiligen zu sein. Dann sah sie ein Lamm, weiß wie Schnee; ihm folgten alle Heiligen und sie selbst mit ihnen, und sie sangen ein unbeschreiblich schönes Lied.
8 Als sie in ihrer Kammer in das Gebet versunken war und nach der Gnade Christi verlangte, gleichsam als ob sie sagen wollte: „Er küsse mich mit dem Kuss seines Mundes (Hld 1,1)“, erschien ihr Christus und gewährte ihr seinen Kuss; darüber empfand sie eine Wonne, die über alle Maßen ging, und sie fragte ihn, wie sie ihn immer bei sich festhalten könnte. Er antwortete ihr und sagte, dass die Möglichkeit darin liege, sich stets mit geistigen Gütern zu beschäftigen. Er redete so freundliche Worte zu ihr, dass sie ihn bat, ihre Seele von dieser Welt hinweg zunehmen. Er antwortete, dass er es noch nicht wolle, und fügte noch hinzu: „Ich will ja, dass du für bestimmte Personen Sorge trägst und dass dein Leben Richtschnur und Beispiel für viele sei.“
9 Nachdem sie Christus gebeten hatte, ihr und zweien ihrer Mitschwestern das Kleid der Reinheit zu geben, sah sie im Gebet Christus, die heilige Maria und den heiligen Dominikus. Christus öffnete mit seinen Händen die Seitenwunde, die er am Kreuz empfangen hatte; sie trat ein und nahm mit großer Freude die Kleider für sich und ihre Gefährtinnen entgegen.
10 Während sie im Gebet versunken war, erschien ihr ein Engel des Herrn, brachte ihr einen Kranz aus Lilien und sprach: „Ich gebe ihn dir auf Geheiß Gottes zum Zeichen deiner Reinheit.“ Er war aber so schön, dass sie nicht wusste, wie sie es erzählen sollte, außer dass sie beim Gedanken an seine Schönheit eine solche Freude empfand, dass sie fast verging.
11 Einmal war sie in einer so vollständigen Entrückung des Geistes, dass sie gar nichts spürte, als sie von ihren Mitschwestern berührt wurde. Es schien ihr, dass Christus sie mit seinen Armen festhielt; sie wurde aber von Christus so festgehalten und gezogen, dass sie selbst die Erde nicht berührte. Das war ihr gewährt worden, weil sie nach nichts als nach dem Himmlischen Verlangen trug und sich um das Irdische nicht kümmerte, ja, es wie Unrat geringschätzte. Sie wunderte sich über die Torheit vieler Menschen, dass sie das Irdische lieben und ihr Verlangen darauf richten, während sie doch das Himmlische haben könnten. Immer wieder sagte sie: „O unerkannter Herr! Warum erkennen Dich die Menschen nicht, guter Jesus?“ Und zu jenen, die mit ihr redeten, sagte sie: „Freut euch, freut euch in Jesus Christus, unserem Vater; er ist der Trost der Seelen.“ Als sie einmal gefragt wurde, wie es ihr gehe, antwortete sie mit heiterem Antlitz und sagte: „Sehr gut durch die Gnade meines Herrn Jesus Christus.“ Immer war sie fröhlich, weil sie mit guten Dingen beschäftigt war, denn immer war ihr Sinn geistigen Gütern zugewandt. Ihr erster Beichtvater bezeugte, dass er sie niemals anders antraf als betend oder lesend, als weinend oder singend oder sich irgendeiner geistigen Tätigkeit widmend; sehr oft wurde sie entrückt und verharrte in einem Zustand der Selbstvergessenheit. Christus hatte sie stets im Herzen und im Mund, und wenn sie ihren Weg ging, sah sie nichts als nur Christus.
12 Als sie einmal um die Gabe der echten Tugenden bat, nämlich um die wahre Liebe, das heißt zu Gott und zum Nächsten, und dass sie mehr Freude empfinde am Gut des Nächsten als am eigenen Gut, und in gleicher Weise mehr Schmerz über den Schaden und das Übel des Nächsten als über das eigene Übel leide, und während sie darum inständig für sich und eine andere Person bat, erschien ihr schließlich im Gebet Christus und sprach: „Meine Tochter Caterina, Ich gewähre dir die Gnaden, um die du bittest, sowohl dir als auch denen, für die du sie erhalten willst.“ Dass es ihr gewährt wurde, zeigte sich in ihrem Verhalten darin, dass sie anschließend in solcher Verzückung war, dass sie zehn Tage lang so verharrte, weil sie weder zu essen noch zu trinken vermochte. Es schien ihr, als wäre sie erwacht, nachdem sie zuvor gleichsam geschlafen hätte. Sie sagte auch, dass sie das Empfinden hätte, in großer Ruhe und unermesslicher Reinheit zu sein, und sie wolle mit den unschuldigen Kindern sein und verbleiben und sie herzen und küssen.
13 Eine ihrer Mitschwestern erzählte dem Beichtvater der Jungfrau folgendes: Einmal, als sie im Haus der Jungfrau war und sie zusammen über Gott sprachen, entfernte sich die Jungfrau ein wenig von ihr und kniete sich zum Gebet nieder. Nach einer gewissen Zeit begann sie laut zu lachen und gleichzeitig zu weinen. Die vorerwähnte Mitschwester blickte auf sie und sah, dass ihr Angesicht fast ganz rot war, und als sie sie berührte, spürte diese gar nichts. Als sie wieder zu sich gekommen war, bat die erwähnte Gefährtin sie, ihr zu sagen, was ihr in der geschilderten Entrückung widerfahren sei. Sie aber wollte es ihr nicht sagen, sondern nur ihrem Beichtvater. Diesem eröffnete sie, dass sie, als sie so lachte, ein solches Einströmen der göttlichen Gnade und Wonne in ihrem Herzen gespürt habe, dass der Leib es nicht aushalten konnte, sondern es auch nach außen kundtat. Sie konnte die genannte Wonne nicht verdeutlichen, sondern nur so viel sagen, dass sie Christus in Menschengestalt gesehen habe. Er zeigte ihr seine Seite, und sie empfand eine so große Wonne, dass sie von ihr nicht reden und sie nicht ertragen konnte. Hierauf – so erzählte sie – habe sie sich erhoben und sich in einem Winkel der Kirche niedergekniet; sie habe ein solches Entzücken gefühlt, dass sie sich davon in ihrem hingebungsvollen Gebet völlig überströmt fand. Und sie weinte vor dem Beichtvater darüber, dass sie nicht imstande sei, eine solche Glückseligkeit zu schildern.
14 Als sie in ihrer Kammer im Gebet versunken war, erschien ihr der Apostel Jakobus der Ältere und die heilige Maria Magdalena. Es schien ihr, dass sie in ihrer Mitte sei, und sie empfand großen Trost. Hierauf glaubte sie Christus zu sehen und dass er einmal im Gesicht habe und sie so nahe streifte, dass es ihr immer schien, von ihm berührt zu werden. Sie sprach: „Wie sehr hat uns doch der Herr geliebt, der das, was er so sehr liebte, für uns und nicht für die Engel hingab!“ Und sie sagte zum Beichtvater: „Seht, Vater, dass ich nicht mit den Menschen verkehren kann, denn ich fühle, dass ich so von meinem Bräutigam Jesus Christus gezogen werde, dass auch die Sinne meines Leibes hingerissen werden. Ich bitte Euch daher, mir nicht zu erlauben anderswohin zu gehen.“ Das sagte sie, weil sie bisweilen von ihren Mitschwestern zu irgendwelchen Orten geführt wurde, damit sie einen Gewinn fänden und etwas von ihrer Belehrung annähmen; sie sprach ja mit großem Feuer und riss die Menschen auf wunderbare Weise zu Gottesfurcht und Gottesliebe hin.
15 Einmal litt sie an einer völligen Ermattung des Blutes; Ursache dafür war die Gewalt, die sie sich selbst antat wegen des Übermaßes der Wonne und des Reizes der Güter Gottes. Sie wurde nämlich so sehr von Gott gezogen, dass sie nicht widerstehen konnte und so an großer körperlicher Schwäche litt. Es geschah aber, dass ihr in diesem Zustand Christus und Maria Magdalena erschienen; sie spürte, dass sie von ihnen berührt wurde, und sofort wurde sie von ihrer Schwäche befreit. Sie sagte, sie habe jene Berührung wie eine leibliche gespürt. So geschah es ihr öfter, und immer wurde sie von Gott befreit, weil sie niemals eine irdische Medizin zu sich nahm; sie hatte ja Jesus Christus in der Seele, der alles heilte.
16 Als sie einmal in der Kirche der Brüder des Predigerordens zu Siena in der Betrachtung der Menschennatur Christi versunken war, sah sie in Christus etwas Tieferes als die Menschennatur; sie sah in ihm eine einzigartige Fülle, eine Liebe, eine Wonne, eine Lieblichkeit und eine so große Glückseligkeit, dass sie auf keine Weise davon reden konnte. Daher bat sie ihren Beichtvater und sprach: „Bittet Gott, er möge mir meinen Mund öffnen, damit ich Euch diese Glückseligkeit verdeutlichen kann, und helft mir Gott zu loben, denn meine Zunge vermag nicht das Große zu sagen, das der Herr in meiner Seele wirkt.“
17 Einmal ging sie mit zwei Mitschwestern zum Kloster des heiligen Abundio,2 das nicht weit entfernt von der Stadt Siena liegt. Damals fühlte sie sich sehr schwach; sie hatte auch geschwollene Beine, so dass sie sich nur mühsam bewegen konnte. Aber weil die Liebe sie nötigte, nahm sie die Mühe auf sich. Gleich nach Verlassen der Stadt erschienen ihr der heilige Paulus und Maria Magdalena, die sie zusammen begleiteten und trösteten. Sie aber ging so schnell, dass die Mitschwestern ihr nicht folgen konnten. Und so, mit Paulus und Maria, ging sie die Hälfte des Weges. Gleich darauf sah sie vor sich Christus, der ihr seine offene Seite zeigte, und sie ging so schnell, dass sie beinahe lief, die Gefährtinnen aber versuchten mehr als zuvor ihr zu folgen. Sie ging mit offenem Mund und so in sich gekehrt, dass sie nichts sah, und doch gelangte sie ohne die Mitschwestern – denn diese konnten ihr nicht folgen – zum Kloster. Sie trat in die Kirche ein und warf sich zur Erde, dann umfasste sie Christus und drückte ihren Mund auf seine Seite. Dabei kostete sie eine solche göttliche Wonne, dass sie es nicht beschreiben konnte. So verharrte sie eine lange Zeit hindurch. Später kamen ihre Gefährtinnen und fanden sie ganz ihren Sinnen entrückt. Nach einiger Zeit erhob sie sich und begann zu jenen Schwestern mit solchem Feuer und solcher Liebe zu reden, dass alle voll Verwunderung waren. Und alle (Schwestern im Kloster) kamen und standen auf dem Chor und an anderen Plätzen, um sie zu sehen.
18 Als einmal in der Kammer der Jungfrau zwei ihrer Mitschwestern an einem Brett aßen, auf das die Jungfrau sich zu legen pflegte, wenn sie schlief, sagte eine von ihnen: „Oh, das ist ein heiliger Tisch!“ Da sagte die Magd Christi: „Oh, wenn ihr wüsstet, wer darauf Platz genommen hat, würdet ihr anders reden!“ Jene fragten sie: „Wer denn?“ Sie antwortete: „Christus und die heilige Maria Magdalena. Denn eines Tages, als ich allein den Garten, der hier daneben ist, betreten hatte, erschienen mir Christus und die erwähnte Maria, und ich sprach mit ihnen wie mit meinen Mitschwestern. Nach einer angemessenen Zeit aber sagte ich zu Christus: 'Meister, es ist nicht gut, dass wir hier sind.' Er aber sprach: 'Tochter, geh, wohin du willst.' Da ging ich in meine Kammer und hatte auf der einen Seite Christus und auf der anderen Magdalena. Hierauf nahm Christus auf diesem Tisch Platz; er saß auf der einen Seite des Lagers und ich in der Mitte; Maria aber hatte sich auf der anderen Seite auf diesem Tisch niedergelassen. So verharrten wir lange Zeit hindurch, und darum ist dieser Tisch wahrhaft heilig.“
19 Eines Tages – es war der 11. Januar – berichtete die Jungfrau ihrem Beichtvater, dass sie bis zu dieser Zeit, wenn sie entrückt wurde, die Lobgesänge der Heiligen im Himmel gehört hätte, sie aber nicht verstehen konnte; an jenem Tag aber, sagte sie, erfasse sie ihre Lobgesänge. Und sie sagte, dass alle wie mit einem Mund sangen, jene aber, die brennender liebten, mit vollerer Stimme; und sie sprach von Maria Magdalena und dem Evangelisten Johannes, die Gott besonders ergeben waren. Alle Lobgesänge der Heiligen aber endeten damit, dass sie erkannten, alles, was sie hätten, einzig durch Gottes Gnade und Barmherzigkeit zu haben. Sie selbst sprach zu Gott: „Du machst, dass ich mich jener erinnere, von denen es in der Apokalypse heißt, dass sie mit Gesang dem Lamm folgten und hierauf die Kränze von ihren Häuptern abnahmen und vor die Füße des Lammes legten“ (Offb 14, 4). Während sie dies ihrem Beichtvater erzählte, fügte sie hinzu: „Hört Ihr nicht jene Stimmen?“ Und sie klagte in inniger Liebe und sagte dann: „Hört Ihr nicht Magdalena, hört Ihr nicht, wie laut sie singt, wie ihre Stimme die Stimmen aller übertönt?“ Und sie stand mit gespannter Aufmerksamkeit da, als würde sie dies mit ihren leiblichen Ohren hören. Später sagte sie zum Beichtvater: „Macht Euch bereit für diesen Abend: ich werde den Herrn Jesus Christus zu Euch schicken.“ Und so geschah es, freilich nicht körperlich, sondern, wie er selbst bezeugte, durch eine innere Wandlung des Beichtvaters.
20 Einmal, am Abend der Vigil zum Fest der heiligen Jungfrau Luzia, begann die Jungfrau eine große Freude des Herzens zu spüren. Es schien ihr, nicht im Schlaf, sondern im Wachen, dass im Himmel ein großes Fest bereitet würde, sie wusste aber nicht, aus welchem Anlass oder für wen. Da konnte sie sich, von dem Zauber angeregt, kaum zurückhalten zur Kirche zu eilen, um zu der Festlichkeit, die sie empfand, die Glocken läuten zu lassen. Gott aber erfüllte ihr Verlangen aus einem anderen Anlass, denn da das Wetter stürmisch war und einen Hagelschlag befürchten ließ, wurden, wie es in solchen Fällen in ihrer Heimat üblich ist, die Glocken geläutet, nicht nur die einer einzigen Kirche, sondern die Glocken aller Kirchen. Und so wurde das Verlangen der Jungfrau erfüllt. Hierauf schien es ihr, dass am Abend im Himmel überaus festliche Gesänge erschallten; eine große Menge von Jungfrauen kam in den Chor, unter ihnen eine, die die anderen überragte, und alle Heiligen erwiesen ihr ihre Ehrfurcht. Sie hatte aber an der Brust eine goldene Spange, sie selbst strahlte ganz im Glanz wunderbarer Schönheit.
21 Als der Beichtvater der Jungfrau sagte, dass am folgenden Tag das Fest der heiligen Margareta sei, begann sie zu lachen, dann sagte sie, sie werde sich deswegen freuen, weil es nun drei Jahre wären, seit die Dämonen immer an einem solchen Tag mit ihr gekämpft und sie gerade an diesem oder dem vorhergehenden Tag in ihrem Zimmer viele gesehen hätte, die versuchten, ihr mit aller Macht Schaden zuzufügen, es aber nicht konnten, weil die Kraft Gottes ihr beistand. Sie litt sehr viele Qualen in ihrem Herzen, konnte aber nicht weinen. Als sie sich erheben wollte, um mit einigen Personen zu sprechen, wurde ihr sogleich gesagt, sie müsse sitzen bleiben; und sie tat es. Und siehe, es erschien ihr die heilige Maria Magdalena und kam auf sie zu, und plötzlich begann sie zu weinen, und aus ihren Augen begann ein Strom von Tränen hervorzubrechen. Da empfand sie einen solchen Trost und eine solche Glückseligkeit, dass sie davon überwältigt wurde. Deshalb bat sie den Herrn Jesus Christus, sie aus diesem Leben wegzunehmen.
Mag auch manches von dem vorher Gesagten mit dem zweiten Teil der Legende in Beziehung gebracht werden können, so kann doch das meiste dem ersten Teil zugeordnet werden, wie oben gesagt wurde. Somit mag der erste Teil dieses Büchleins seinen Abschluss finden; er entspricht dem ersten Teil der Legende.
Ende des ersten Teiles.
Anmerkungen:
1 Die Erzählungen des 2. Kapitels stammen alle aus den Miracula (den Aufzeichnungen des Tommaso dalla Fonte). Vgl. Valli, Saggi, a.a.O., S.56
2 Das Benediktinerinnen-Kloster Santa Bonda, etwas über eine Meile von Siena entfernt, wurde im Jahre 801 von Pippin, dem Sohn Karls des Großen, gegründet und den heiligen Abundio und Abbundanzio geweiht. Vielleicht deshalb weil das Kloster von Nonnen bewohnt war, wurde es vom Volk allgemein „zur heiligen Bonda“ genannt. Der Jesuate Giovanni Colombini wurde dort begraben und seine einzige Tochter war zu Caterinas Zeiten Mitglied dieser Kommunität. Heute ist der Komplex ein Bauernhaus, wobei der unmittelbar umliegende Bereich weiterhin „Santa Bonda“ genannt wird.