Einführung
Die „Nachträge“, die Caffarini innerhalb des zweiten Jahrzehnts des 15. Jahrhunderts verfasste, waren bis herauf in unsere Zeit für den gewöhnlichen Leser praktisch unerreichbar, da sie nie ganz publiziert worden sind, weder im lateinischen Original noch in einer Übersetzung. Erst 1974 wurde die erste kritische Gesamtausgabe des in lateinischer Sprache verfassten „Libellus de Supplemento“ veröffentlicht. Damit wurde eine Quelle erschlossen, die für ein tieferes Verständnis der Heiligen von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist. Und zwar nicht nur, weil der Autor in diesem Werk Tatsachen im Zusammenhang mit der eigenen persönlichen Erfahrung festhielt (er wuchs zur selben Zeit wie Caterina in Siena auf und galt als einer ihrer glühendsten Verehrer), sondern vor allem, weil er uns in dieser Sammlung jenes wichtige Dokument übermittelt hat, von dem wir das Original nicht besitzen: die sogenannten Quadernen (Notizhefte) des Tommaso dalla Fonte, jenes Priesters, der seit den Tagen ihrer Kindheit Caterinas erster Vertrauter und Ratgeber war und der in diesen „Heften“ tagebuchartig alles festgehalten hat, was ihm an seinem Beichtkind als bemerkenswert zur Kenntnis kam.
Einleitung
Die nachfolgende Einleitung zur deutschsprachigen Ausgabe des Supplementum ist eine Zusammenfassung der umfangreichen Einführung von Frau Dr. Imelda Foralosso in: Tommaso di Antonio da Siena (Caffarini). Libellus de Supplemento, Legende prolixe Virginis Beate Catherine de Senis, hg. v. Giuliana Cavallini, Imelda Foralosso, Rom 1974.
Tommaso di Antonio da Siena (Caffarini)
Zunächst ist zu bemerken, dass Caffarini nicht der wahre Nachname unseres Autors zu sein scheint, sondern ein Beiname, der ihm irrtümlich später erst zugeschrieben wurde. Ursprünglich hieß es von ihm immer nur: Fra Tommaso d‘ Antonio (davon abgeleitet der häufig verwendete Rufname Nacci, von Antoniaccio, Naccio) di Siena, oder auch einfach Fra Tommaso da Siena. Er selbst hat sich in seinen Schriften nie anders bezeichnet; hätte er zur adeligen Familie der Caffarini gehört, könnte man sich eine solche Unterlassung bei Fra Tommaso nicht erklären.
Auch der Titel eines Seligen, der ihm von der Verehrung der Gläubigen und von einigen Biographen des Dominikanerordens verliehen wurde, scheint ausdrücklich nur im 17. Jahrhundert auf. Gewiss wurde er schon vorher, ja sogar seit seinem im Jahre 1434 erfolgten Tod aufgrund seines seligen und heiligen Andenkens „als sehr eifriger Prediger des Wortes Gottes in diesen Zeiten verehrt ..., da er mehr im Göttlichen als im Menschlichen bewandert“ bzw. überhaupt ein „sehr heiligmäßiger Mann“ [Chronica Dominicana] war. Aber bei diesen Ausdrücken darf man nicht vergessen, dass sie dem begeistertsten Förderer der heiligen Caterina von Siena zugeschrieben wurden, wobei sich Caterinas Heiligkeit zweifellos in denen widerspiegelte, die neben ihr gelebt und sie geliebt haben.
Tommaso wurde etwa um 1350 in Siena, im Viertel Camollia, geboren. Von seiner Kindheit haben wir keine Angaben. Wir wissen nur, dass er einen Freund hatte, der ihm im Namen ihrer gemeinsam „geliebten Mama“ bis zum Tode treu bleiben würde: Stefano Maconi (vgl. Supplementum III, 6, 14]. Es handelt sich um eine Freundschaft, die zwischen den Schulbänken entstanden ist (weswegen sie ihm wahrscheinlich auch so kostbar war) und am Beginn seines mühseligen Greisenalters mit besonderer Dankbarkeit in Erinnerung gerufen wurde.
Mit vierzehn Jahren, etwa um 1364, trat er in den Dominikanerorden ein, wo er alle Etappen der religiösen Ausbildung und der intellektuellen Vorbereitung durchlief, doch wissen wir nicht, wo er die priesterlichen Studien absolviert hat. Mit 3. September 1373 findet sich sein Name unter den Mönchen, die das Konventkapitel von San Domenico in Camporegio bilden, woraus man schließen kann, dass er seine Studien bereits abgeschlossen hatte. Ein paar Monate später treffen wir ihn in Pisa in Begleitung von Fra Bartolomeo Dominici, der zum Unterrichten im dortigen dominikanischen Studienhaus bestimmt wurde. Auf dieses Jahr lassen sich die ersten dokumentierbaren Spuren der Beziehung zwischen Caffarini und Caterina von Siena zurückführen: ein von ihr an Fra Tommaso und an Fra Bartolomeo Dominici adressierter Brief „um sie zu ermuntern, sich immer intensiver im Verzicht auf den eigenen Willen zu üben“ (Brief 127).
In Pisa blieb Fra Tommaso nicht über den 16. Juni hinaus, denn von da an finden wir ihn als Lehrmeister für Logik im Studienhaus von San Domenico in Siena. Sein Name scheint auf (zusammen mit dem von Raimund von Capua) in einem Dokument in Siena am 1. August 1374. Wahrscheinlich begab er sich im Sommer jenes Jahres nach Prato, von wo er am 8. September an Caterina einen Brief richtete mit einer Auslegung zu Psalm 130. Unmittelbar danach kehrt er nach Siena zurück, wo wir ihn am 20. Jänner 1375 mit Raimund von Capua zusammen finden: der Kontakt zwischen den beiden Mönchen ist also bereits hergestellt.
Das römische Provinzkapitel schlägt ihn 1380 für die theologischen Grade vor, und Caffarini muss sich in das berühmte dominikanische Studienhaus in Bologna begeben. Dort erfährt er die äußerst traurige Nachricht vom Tod Caterinas. Dabei wandelt sich der Schmerz in seinem Geist zu einem Lobgesang (fernab zwar jeder poetischen Höhe), in dem aber eine tiefe und innige Verehrung zum Ausdruck kommt. Nach Beendigung der theologischen Studien zeichnet sich die Zukunft von Bruder Tommaso recht klar ab: die Predigt zieht ihn an, und er widmet sich ihr immer und überall mit Leidenschaft; Caterinas Mitschwestern in Siena verlangen nach ihm und bekommen ihn als Seelenführer; und die Brüder von San Domenico erfahren seine Fähigkeiten als Verantwortungsträger. Diese dreifache Aktivität: Predigt, geistliche Führung des weiblichen dritten Ordens und die Leitung der männlichen Gemeinschaft stellt nun bei Caffarini den Kernpunkt seines Wirkens dar. Zu diesem Wirken kommt noch dazu – wenn auch mit Unterbrechungen – die Lehrtätigkeit: tatsächlich finden wir ihn 1387– 88 als Lektor in Siena und 1390 in Genua. Hier in dieser Hafenstadt wird es dann sein, wo die „Berufung seiner Berufung“ zu reifen beginnt, nämlich sein schriftstellerisches Interesse für Caterina Benincasa.
Raimund von Capua, der gelehrte und heilige Dominikaner, letzter Beichtvater von Caterina und von 1380 an Generaloberer des Ordens, ist gerade dabei, die Biographie seines großen Beichtkindes zusammen zu stellen, und Tommaso hilft ihm, alle Schwierigkeiten, die eine Verzögerung des so ersehnten Werkes darstellen, zu überwinden; er wird zum Schreiber [„ich schrieb und er diktierte“ vgl. Supplementum III, 6, 15] und nimmt so an der Abfassung der Legenda Maior teil, die im Jahre 1395 ihren Abschluss finden wird.
In dieser Biographie findet Caffarini den Auslöser für seine Leidenschaft, die nun mehr und mehr in ihm hervorbricht: nach einer Wallfahrt ins Heilige Land, die er in jenem Geiste unternommen hatte, mit dem Caterina den „heiligen Übergang“, den Kreuzzug, betrachtete, schlägt er seine Zelte in Venedig auf, „eingespannt“ zwischen den Konventen von San Domenico di Castello und jenem von SS. Giovanni e Paolo. Diesem letztgenannten Konvent galt seine besondere Vorliebe, vielleicht auch wegen seiner Lage: denn tatsächlich konnte er von dort aus sehr leicht den Konvent der Mitbrüder erreichen, der sich im äußersten Süden der Stadt befand, wie auch das nördlich gelegene klausurierte Dominikanerinnen-Kloster Corpus Christi. Zusammen mit Fra Bartolomeo Dominici gelang es ihm, hier jene geistige Erneuerung entstehen zu lassen, wie sie von Raimund, dem Generaloberen des Ordens, ersehnt und gewollt war.
In diesen menschlichen, geistigen und religiösen Kontext kommt nun die sienesische Mantellatin, die seit etwa zwanzig Jahren tot war: sie dringt ein in das Leben der Stadt, indem sie es wohltuend verändert, in die kirchlichen Institutionen, und sie verschafft sich allmählich Eingang in das Privatleben einzelner Bewohner. Zugleich entsteht Caffarinis „Schreibstube“, aus der nun in ununterbrochener Folge Kopien der Legenda Maior und der Briefe der „geliebten Mutter und Meisterin“ hervorgehen, sowie jene neuen Werke, die das wahre und eigentliche Schaffen unseres Autors kennzeichnen.
Caterina und die päpstliche Approbation des dominikanischen Drittordens: diese beiden Themen macht ein nunmehr bereits betagter Mönch und Schriftsteller zum Inhalt seiner – manchmal gar zu eifrigen – Mission. Doch kann man ihm diesen Eifer verzeihen, denn die Absicht, die ihn beseelte, war in jeder Hinsicht uneigennützig und lauter.
Caffarini hatte im vornehmen Venedig seiner Zeit eine bemerkenswerte Rolle gespielt, was aus der großen Feierlichkeit ersichtlich wird, mit der ihn die Bürgerschaft bei seinem Tode 1434 ehren wollte. Nun ruhen seine sterblichen Überreste (nach verschiedenen Umbettungen) wieder in SS. Giovanni e Paolo in der Basilika und neben dem Konvent, die Zeugen seines Eifers und seiner Lehre waren. Er ist dorthin 1919 zurückgekehrt auf Initiative des Dominikaners Giocondo Pio Lorgna, der nicht nur Caffarinis Mitbruder, sondern auch sozusagen dessen Nachfolger im Geiste war.
Caffarini und seine Werke in den Jahrhunderten
14. Jahrhundert
Die qualifizierteste Stimme ist zweifellos Caterina selbst, die ihn ihren „vielgeliebten Sohn“ und zusammen mit Fra Bartolomeo Dominici ihren „vielgeliebten Vater und Bruder“ nennt (vgl. die Briefe 325 und 127).
15. Jahrhundert
Die Beliebtheit Caffarinis in Venedig ist durch einen Brief bezeugt, den Fra Giovanni Dominici an seine Mutter richtete, nachdem diese ins dortige Dominikanerinnen-Kloster Corpus Christi eingetreten und dann Schwester Paola geworden war: „Unser geliebter Bruder Tommaso di Antonio da Siena, der vor Eifer und Liebe erglüht und Euch bekannt ist durch das Zeugnis, das er für die vorgenannte Dienerin Christi [der heiligen Caterina] abgelegt hat, ist der Stadt Venedig, Eurem Kloster und anderswo so bekannt, dass man darüber nichts mehr zu sagen braucht“ [Prozess 666]. Im Sterberegister von San Domenico in Siena steht über ihn: „Von der Last des Alters gebeugt und berühmt geworden aufgrund vieler gute Werke, gab er seinen Geist dem Schöpfer zurück, nicht aber ohne Wunder, erstaunliche Zeichen und eine großen Verehrung des venezianischen Volkes. Denn mit viel Aufwand und auf Kosten der venezianischen Patrizier wurde diesem so bewundernswerten Vater ein Grab aus Marmor errichtet ...“ [Vgl. Necrolog, 41]. Bleibt noch für dieses Jahrhundert der Hinweis auf die zahlreichen Bemerkungen und Verweise, die von den Zeugen im Prozess von Castello zu seiner Person und seine Schriften gemacht wurden, da doch letztlich er es war, der diesen Prozess ausgelöst und beseelt hatte.
16. Jahrhundert
In den Aufzeichnungen aus dieser Epoche wird Caffarinis Name praktisch nicht erwähnt. Es ist dies die Zeit nach der Heiligsprechung Caterinas, in der es bezüglich der Echtheit ihrer Stigmata zu einem großen Streit gekommen war zwischen den Franziskanern und den Dominikanern und der schließlich durch die offizielle Anerkennung von Caterinas außerordentlicher mystischer Gnade beendet wurde. In dieser polemischen Auseinandersetzung wurde Caffarini, der bereits mit zahlreichen Schriften und Illustrationen für das wundersame Ereignis eingetreten war, in der Stille belassen: es sprachen, vielleicht allzu viel, seine Werke; über ihn schwieg man lieber.
17. Jahrhundert
In diesem Jahrhundert hingegen beginnt man sich wieder für unseren Autor und seine Werke zu interessieren. Nun wird ihm ausdrücklich der Beiname „Seliger“ zugeschrieben und ebenso die Beifügung des Zunamens „Caffarini“: beide Fakten bezeugen die Wertschätzung, die er nicht nur im Volk genoss, sondern auch unter den gelehrteren Personen, die damit ein gewisses Kriterium zur Unterscheidung besaßen.
1601 wurde die Zusammenfassung der Disputation zur Verteidigung der heiligen Stigmata der heiligen Caterina von Siena publiziert, ein Werk von Gregorio Lombardelli. Michele Pio schreibt das Leben von Caffarini unter jenen der berühmten Dominikaner. Fra Antonio Portoghese (der sich aus Verehrung für Caterina „Sanese“ nennen lässt) schreibt in seiner kurzen Chronik über den Dominikanerorden auf Seite 209: „Etwa zur selben Zeit [zu Beginn des 15. Jahrhunderts] leuchtete in Venedig die Person des Fra Tommaso di Antonio da Siena, der dort den Schwesternkonvent der Buße vom heiligen Dominikus gründete und dafür sorgte, dass dieser Orden des Habits der Buße vom heiligen Dominikus vom Apostolischen Stuhl approbiert und durch viele Gnadenerweise ausgestattet wurde, weswegen er es verdient hätte, selber unter den apostolischen Männern Platz zu nehmen.“ Er erwähnt ihn auch auf Seite 248, indem er ihn als glaub- und lobenswürdigen Schriftsteller bezeichnet.
Der Dominikaner Ambrogio Gozzeo vermerkt: „Bruder Tommaso di Antonio da Siena, ein ernsthafter und kluger Pater, ein hervorragender Historiker, mit den alten Chroniken bestens vertraut, war auch in anderen Wissenschaften gut bewandert und verfasste die Lebensbeschreibung der heiligen Caterina von Siena sowie das Supplementum zu ihrer Biographie; er schrieb über den Verdienst des Ordenslebens, über den Ursprung, den Beginn und die Bestätigung des Ordens von der Buße, die Lebensbeschreibung der seligen Maria von Venedig, des heiligen Dominikus sowie die Lebensbeschreibungen vieler Seliger des Ordens und sammelte und ordnete die Briefe der heiligen Caterina von Siena.
Dieses von Bruder Ambrogio Gozzeo erstellte Verzeichnis der Werke Caffarinis ist übrigens das erste, welches nicht von Caffarini selbst stammt. Und zwar ist es ein vollständiges Verzeichnis: zwar fehlt in ihm jedwede Andeutung über den „Prozess von Castello“ (ein von Caffarini eher bearbeitetes als verfasstes Werk), dafür aber wird andererseits die Lebensbeschreibung über den heiligen Dominikus zitiert, die unser Autor selbst erwähnt, über die bei den zeitgenössischen caterinianischen Kritikern hingegen nichts zu finden ist.
18. Jahrhundert
Vom Beginn dieses Jahrhunderts (genau genommen aus dem Jahre 1705) stammt der handschriftliche Kodex 2360, der in der Casanatensischen Bibliothek in Rom aufbewahrt wird und eine Kopie des sienesischen Kodex T. I. 2 aus dem vierzehnten Jahrhundert ist. In ihm wird in der Weise einer Einführung ein frommes und ausgedehntes Profil von Caffarini geboten und, um dessen Wichtigkeit zu verankern, eine Liste all jener Autoren, die sich zuletzt mit Tommaso da Siena und dessen schriftstellerischer Arbeit beschäftigt haben.
Quétif und J. Echard geben uns ausführliche Anmerkungen über Caffarini, die bis heute ihre Gültigkeit haben. Flaminio Corner spricht lobend über Caffarini, indem er ihn wie folgt beschreibt: „Ein sehr eifriger Erneuerer der Ordensdisziplin in den venezianischen Konventen und ein sehr frommer Gründer des dritten Ordens der Buße des heiligen Dominikus in Venedig.“ Bernardo Maria de Rubeis widmet unserem Autor im Jahre 1751 zahlreiche Seiten, indem er ihn stets in ein positives Licht rückt.
19. Jahrhundert
Alfonso Capecelatro ist in diesem Jahrhundert die berufenste „Stimme“ in Bezug auf die caterinianischen Probleme. Auch was unseren Autor betrifft, müssen wir uns lediglich mit ihm begnügen; in seiner „Geschichte der heiligen Caterina von Siena und des Papsttums zu ihrer Zeit“ gibt er uns eine reichhaltige analytische Biographie, in der er auch Caffarini und seinem Werk einen breiten Raum gewährt.
20. Jahrhundert
Die tiefgründigsten Berichte über Tommaso da Siena und eine objektive Forschung zur Bewertung seiner Persönlichkeit und seines Werkes entstanden zweifellos im 20. Jahrhundert in den Jahren zwischen 1920–1970. Allerdings war es erst notwendig, dass der einflussreiche französische Kritiker Robert Fawtier seine schweren Vorwürfe gegen Caffarini vorbrachte und die Gültigkeit der wichtigsten caterinianischen Quellen anzweifelte, um so die Gelehrten wachzurütteln und zu einem vertieften wissenschaftlichen Bemühen anzuspornen. Caffarinis Rehabilitierung erwirkte vor allem Innocenzo Taurisano, der leidenschaftlich auf die hyperkritische Härte Fawtiers reagierte und mit seinen Untersuchungen einen namhaften Beitrag zur Kenntnis von Caterina und ihres gesamten Werkes geleistet hat. Ein anderer Forscher, der sich eingehend mit Caffarini und seinem Supplement befasste war Carlo Frati. Er veröffentlichte 1923 eine sorgfältige Studie über den aus dem beginnenden 15. Jahrhundert stammenden Kodex 1574 der Universitätsbibliothek von Bologna. Die überzeugendste wissenschaftliche Darstellung aber gelang wohl dem bereits erwähnten Marie-Hyazinthe Laurent, der es verstanden hat, Caffarinis Werken Schritt für Schritt zu folgen und die Gestalt des Autors und seine Vorgehensweise nachzuzeichnen und deutlich sichtbar zu machen.
Caffarinis Werke
Caffarini hat in der kurzen Zeitspanne seines schriftstellerischen Wirkens relativ viel geschrieben, wobei es vor allem zwei Themenbereiche waren, die sein Interesse beherrschten: die Dominikaner und die Mystikerin von Siena. Er wollte den eigenen Orden mehr bekannt machen und zugleich Caterinas Kanonisation die Wege bereiten. Beides wusste er sehr geschickt zu verbinden. Weil das gelebte Beispiel seiner heiligmäßigen Mitglieder zugleich die beste Empfehlung für ein Institut darstellt, begann Caffarini zunächst mit der schrittweisen Veröffentlichung verschiedener Biographien: Die Lebensbeschreibungen von Johanna von Orvieto und Margareta von Città di Castello (fertiggestellt Ende 1400) übersetzte er in die sienesische Mundart, drei Jahre später beendet er die Legenda der Maria von Venedig und gleichzeitig damit auch ein Werk über den heiligen Dominikus [Legenda Sancti Dominici, ein Werk, das nicht nur Laurent, sondern auch Ambrogio Gozzeo und andere Historiker verschweigen].
Nach diesen „Einleitungswerken“ folgen jene Arbeiten, für die er sich dann besondere Mühe gab: eine dreiteilige Abhandlung über Entstehung, Entwicklung und Anerkennung des Dritten Ordens der Buße des heiligen Dominikus (in der er sämtliche diesbezügliche Dokumente, Briefe und Akten gesammelt hat) und gleichzeitig eine Geschichte der dominikanischen Ordensregel, wie sie in den Konventen Venedigs und in den Gemeinschaften des Drittordens bisher gelebt wurde. Durch die Bulle Innozenz´ VII. (vom 26. Juni 1405) wird Caffarini auch beauftragt, die Regel von Munio de Zamora zu übersetzen [Anm.: Unter dem Einfluss der Bettelorden hatten sich im 13. Jahrhundert zahlreiche Laien beiderlei Geschlechts zu Bruderschaften zusammengeschlossen. Die den Dominikanern nahestehenden Gruppen wurden 1285 vom Generaloberen Munio de Zamora durch eine einheitliche Regel auch juridisch mit dem Predigerorden verbunden].
Der andere Teil in Caffarinis Werken hat Caterina von Siena zum Inhalt. Das Erste, was er ihr zu Ehren schrieb, war ein Gedicht mit 24 Strophen, das er während seines Studienaufenthaltes in Bologna verfasste, als er 1380 von ihrem Tod erfuhr. Von seiner Zeugenaussage im „Prozess“ von Castello wissen wir, dass er darüber hinaus (einer im Mittelalter verbreiteten Gepflogenheit folgend) auch versuchte, die gesamte Legenda Maior in Verse zu setzen, was bis 1412 großteils geschehen war.
Weiters gibt es von Caffarini ein Kompendium von Fastenpredigten aus dem Jahre 1396, die von ihm gehaltene Collatio aus den Jahren 1405 und jene berühmte Predigt, die er am 3. Mai 1411 in Venedig zu Ehren der heiligen Caterina gehalten hat und die dann infolge der Kritik einiger Zuhörer zu einer Anzeige beim Bischof führte und dadurch den „Prozess“ von Castello ins Rollen brachte. Zuletzt bleiben noch einige von Grottanelli veröffentlichte Briefe unseres Autors – was aber im Grunde nur sehr wenig ist, wenn man bedenkt, wie dicht und beharrlich seine Korrespondenz gewesen sein muss, die er mit einer großen Anzahl von Personen unterhalten hat.
Die wichtigsten caterinianischen Schriften, die aus der Feder Caffarinis stammen, sind die Legenda Minor (entstanden in den Jahren zwischen 1412–1417 als eine Synthese von Raimunds Legenda Maior unter Hinzufügung einiger wichtiger Anmerkungen), sein über zweihundert Seiten umfassendes Zeugnis, das er für den „Prozess“ von Castello erstellt hat, und schließlich und vor allem aber das Supplementum.
Libellus de Supplemento
Caffarini nennt es einigemale Büchlein (Libellus), dann aber doch eher ein „Ergänzungsbuch“, das heißt er möchte all das ergänzen, was in Raimunds Biographie über Caterina nicht aufgenommen worden war. Caterina war seit kurzer Zeit tot, der Ruf ihrer Heiligkeit hatte sich längst über Italien hinaus verbreitet, nur die offizielle Kirche hüllte sich noch in Schweigen – das Volk dagegen nannte sie unter vorgehaltener Hand bereits eine Heilige. Die von Raimund von Capua verfasste Biographie war inzwischen in zahlreiche Kopien vervielfältigt worden und zirkulierte in den Konventen, im Kreis der Gelehrten und der „Großen“, wodurch sie die Lehre und die Taten der Sienesin wiederbelebte, wo immer sie hinkam. Ihre Schüler und alle jene, die von ihr gehört hatten, tranken begierig die Berichte, die in Raimunds Werk enthalten waren. Und doch waren viele mit dem, was Raimund zur bleibenden Erinnerung an sein großes Beichtkind niedergeschrieben hatte, nicht ganz zufrieden. Manche Details aus der Kindheit und den Jugendjahren der Heiligen waren ihm unbekannt, da ihm die Seelenführung Caterinas erst 1374 anvertraut wurde.
Und so mehrten sich die Stimmen, die verlangten, dass ein Augenzeuge, ein Mitbürger, am besten ein Gleichaltriger, von ihr erzählen sollte, damit „auch alle alltäglichen und unauffälligen Handlungen, ja ich möchte sogar sagen, alle Bewegungen der Füße, alle Gebärden, Aufenthaltsorte und Aussprüche aufgezeichnet würden.“ Zudem sollte der neue Verfasser gut darauf Acht geben, „dass nichts von ihren Taten und Worten bleibt, ohne dass es der schriftlichen Aufzeichnung anvertraut wird, und dass nicht nur die wichtigsten Ereignisse aufgezeichnet werden, sondern auch alles nicht so Augenfällige“ (vgl. Supplementum, Prolog).
Das Anliegen erlaubte tatsächlich kein Zögern. Wenn man sich die weit zurückliegenden Details noch vergegenwärtigen wollte, dann müsste dies bald geschehen, „damit nicht Dinge, die durch Nachlässigkeit unberücksichtigt geblieben sind, verloren gehen und Ihr nicht etwa vor dem Urteil des strengen Richters als Schuldiger dasteht.“ Und denkt auch daran: „Wenn Ihr die Arbeit lange hinauszögert, könntet Ihr eines Tages sterben, und alles, was noch vorhanden ist, könnte durch Eure Nachlässigkeit verloren gehen“ [Ebd.].
Dieses breite Interesse an der Jungfrau ist also die maßgebliche Ursache für das Entstehen des Supplementum, und so macht sich Caffarini ohne Zögern ans Werk, indem er versucht, das ganze Material, das die zahlreichen befragten oder im Entstehen begriffenen Quellen in seine Hände gegeben hatten, harmonisch zu vereinen. „Man sollte sich also auf ein Werk gefasst machen, das wertvoller als die Legenda Maior sein würde und ihr auch noch Neues hinzufügt. Die nun folgende Untersuchung aber wird uns zeigen, dass es nicht immer so war“, sagt Fawtier [R. Fawtier, S. Catherine de Sienne, Essai de critique des sources, I, Sources hagiographiques, Paris 1921, 47].
Bruder Tommaso konnte freilich das Supplementum nicht verfassen, ohne es in seinem eigenen Stil zu tun, und wer seine anderen Werke kennt, kann sich nicht von ihm ein „Wunder“ und eine Überwindung jener Grenzen erwarten, die es ihm verwehrten, ein namhafter Schriftsteller und ein Wissenschaftler im Sinne der modernen Kriterien zu sein. Es gab Kritiker, die Caffarini bei diesem Werk bewusste Verfälschung unterstellen wollten (Fawtier), andere dagegen bezeichneten sein Werk als „maßlos reich und schön“ (Taurisano), und wieder andere behaupteten sogar, es wäre darin „Caterinas Herzschlag und das Rauschen ihres Blutes zu vernehmen“ (Rosmini). Vielleicht sollte man es einfach nüchterner betrachten und mit Laurent sagen, dass uns zumindest die erste Hälfte des Werkes „besser verstehen lässt, was über Jahre hinaus das wahre Leben der Caterina von Siena und ihrer kleinen Schar gewesen ist.“ Vor allem aber verdient das Urteil von Conti Anerkennung, der zugibt, dass „der beste Dienst, der vom Supplementum geleistet wurde, der ist, dass es uns die Tagebücher von Fra Tommaso dalle Fonte, dem ersten Beichtvater Caterinas, erhalten hat, und dass es uns den Charakter und die Werbemethoden von Caffarini kennenlernen ließ“ [F. Conti, Frate Tommaso d´Antonio e il suo Supplementum, in: S. Caterina da Siena, 1951, 54].
Wann genau Caffarini sein Supplementum geschrieben hat, lässt sich nur ungefähr sagen. Sicher aber als maximale Zeitspanne zwischen 1401 und 1417/18. Das geht hervor aus Ereignissen, die im Werk angegeben sind und die sich innerhalb dieses Zeitraumes abgespielt haben. Sicher ist auch, dass das Werk nicht in einem Guss entstanden ist, sondern dass die einzelnen Teile des Supplements verschiedene Entstehungszeiten haben. Fra Bartolomeo da Ferrara, der Dominikaner, der gemeinsam mit Caffarini durch seine Predigten über Caterina den castellanischen Prozess „angeregt“ hatte, verweist in seiner Zeugenaussage vom 30. September 1411 (die am 27. April 1412 versiegelt wurde) auf ein gewisses supplementum für weitere Informationen über die eucharistische Spiritualität der Heiligen (vgl. Prozess 26). Außerdem ist im Gegenzug seit den ersten Seiten des Supplementum wiederholt die Legenda Minor unter den konsultierten Quellen angegeben.
Mehrheitlich wird von den Gelehrten eine zweifache Redaktion des Werkes angenommen, das heißt, dass es zunächst eine erste Fassung gegeben habe – Teil I und Teil II (mit Ausnahme des 7. Kapitels über die Wundmale) –, die dann durch eine spätere zweite Fassung ergänzt und vollendet worden wäre. Wie auch immer: Entscheidend ist, was Caffarini mit dem Buch bezwecken wollte, nämlich eine Schrift zu verfassen, die sich – auch in der äußeren Erscheinungsform – getreulich an die Lebensbeschreibung des Raimund von Capua anschließt: „Aus diesem Grund habe ich daran gedacht, alles, was ich in die Hände bekommen konnte, als Ergänzung der besagten Legende zu sammeln, und zwar so, dass es entsprechend dem Inhalt der Kapitel ganz leicht den Stellen der Kapitel in der genannten Legende zugeordnet werden kann. Einiges davon wird sich auf den ersten Teil der Legende beziehen können, einiges auf den zweiten und einiges auf den dritten Teil“ (Prolog).
Aufbau und Inhalt
Eines merkt man sofort: bei der Abfassung des Supplementum ist der Blick des Autors ständig auf die Legenda Maior gerichtet, die für ihn das Musterbeispiel darstellt, an das er sich treu zu halten gedenkt. Das beginnt bereits mit der Dreiteilung des Werkes, mit der Unterteilung in Kapitel und Artikel bis hin zur Gliederung und Anordnung des Inhaltes.
Der erste Teil des Supplementum ist der kürzeste: nur zwei Kapitel, eingeleitet durch einen langen Prolog, der aus drei Briefen zusammengesetzt ist, mit denen die Entstehung des Werkes dokumentiert werden soll. Dann folgen im 1. Kapitel Visionen, göttliche Zwiegespräche, Versuchungen und Siege, die mit Hilfe der Gnade errungen wurden. Ähnlich, nur wesentlich umfangreicher, ist das zweite Kapitel, das zusätzlich dazu eine Sammlung von Wundern enthält. Der Kritiker, dem diese Materie völlig fremd ist, wird sich „nicht länger darüber aufhalten“ [Fawtier] und einfach weiterblättern. Wer diese Seiten aber unvoreingenommen zu lesen versteht, wird sich vielleicht – ehrfürchtig und gerührt – das Urteil von Laurent zu eigen machen: „Mit ein paar Ausnahmen“, schreibt er, „wird hier immer über das Privatleben der Heiligen gehandelt; eine schöne Sache, da sie uns intimer in die caterinianische Seele eindringen lässt. Vielleicht braucht man nicht mit geschlossenen Augen allen Erzählungen glauben, die hier wiedergegeben sind; doch wenn man das bewunderungswürdige Element heraushebt, das aus jeder Seite des Buches hervorsprießt, erlaubt uns der ganze erste Teil des Supplementum, besser zu verstehen, welches für Jahre das wahre Leben der Caterina von Siena und der kleinen Gesellschaft war, die sie um sich hatte und von der sie der vitale Mittelpunkt war“ [Vgl. M. H. Laurent, Prefazione alla Vita di S. Caterina da Siena scritta da fra Tommaso Caffarini ... a cura di G. Tinagli, Siena 1938, 56].
Auch im zweiten Teil bringt Caffarini zunächst die Inhalte der Quadernen, schließt aber dann mit dem sehr ausführlichen 7. Kapitel über die Stigmen, und damit ändert sich der Ton des Werkes vollständig. Denn während er bisher im Wesentlichen die Aufzeichnungen von Tommaso dalla Fonte, wiedergegeben hat, kommt er jetzt mit seinen eigenen Überlegungen zu Wort: In einer weit ausholenden Abhandlung über die verschiedenen Arten der Stigmen und ihre Bedeutung, aufgezeigt an einzelnen Beispielen – wobei einem franziskanischen (Franziskus) drei dominikanische (Caterina v. Siena, Helena v. Ungarn und Walther v. Straßburg) gegenüberstehen –, verteidigt er dabei sehr geschickt, ohne Caterinas Namen allzu oft zu nennen, die Tatsächlichkeit ihrer Wundmale.
Der dritte Teil schließlich, der sich aus vielen Einzelstücken zusammensetzt, handelt von den Leiden und dem Hinscheiden der Jungfrau. Um dieses Thema kreisen mehr oder weniger die ersten vier Kapitel. Das fünfte Kapitel versucht dann – ganz im Stil der mittelalterlichen Biographien – an fünfzehn Punkten gewisse Parallelen zwischen ihrem Hinscheiden und dem Sterben Jesu aufzuzeigen (diese fünfzehn Ähnlichkeiten finden sich übrigens auch in der Legenda Minor). Das sechste und letzte Kapitel des dritten Teiles ist all jenen Personen gewidmet, die im „Prozess“ von Castello durch ihr schriftliches Zeugnis für die Heiligkeit Caterinas eingetreten sind. Es ist sozusagen das geschuldete Dankeschön, das Caffarini hier am Schluss seines Supplementum all jenen gegenüber ausspricht, die sich für Caterina eingesetzt haben, um ihren Kult zu verbreiten. Wenn diese Darstellungen auch teilweise sehr nüchtern, ja sogar monoton ausgefallen sind, so bieten sie dennoch wertvolle historische Einzelheiten, die für Caterinas Gesamtbild unerlässlich sind.
Die Quellen
Caffarini verwendete für sein Supplementum eine ganze Reihe von Quellen, denen er eine unterschiedliche Rangordnung beimaß. Nach eigenen Angaben [im Prolog] waren dies die Legenda Maior, Caterinas „Dialog“, ihre Briefe, Gespräche und Briefe ihrer Schüler, verschiedene Aufzeichnungen, mehrere „Notizhefte“ ihres ersten Beichtvaters, Gehörtes von glaubwürdigen Personen und die von Caffarini selbst verfasste Legenda Minor.
Den wichtigsten Platz unter diesen Zeugnissen nimmt natürlich Raimunds Legenda Maior ein, und man merkt förmlich, wie die Gedanken des Autors ständig auf sein „Modell“ gerichtet sind, um es zu imitieren und zu „vervollständigen“. Diese strikte Abhängigkeit ist bemerkenswert, zumal wenn man bedenkt, dass sich Caffarini persönlicher Erinnerungen hätte bedienen können: Er hatte die Heilige gekannt und war einer ihrer Schüler gewesen. Vermutlich aber wollte er (das große abendländische Schisma war noch nicht beendet) sich deshalb so genau an Raimunds vorgegebener Linie orientieren, um nicht den Gegnern Caterinas, das heißt den Gegnern des römischen Papstes, unnötige Angriffspunkte zu liefern.
Eine andere Quelle ersten Ranges sind die bereits erwähnten Quadernen (Notizhefte) mit den Aufzeichnungen von Caterinas erstem Beichtvater, Tommaso dalla Fonte. Er hatte sie zu nächtlicher Stunde in Zusammenarbeit mit seinem Mitbruder Bartolomeo Dominici erstellt, und Caffarini konnte sich offenbar ihrer noch bedienen, als er die ersten Teile seines Supplementum verfasste. Was aber dann mit diesen „Notizheften“ geschah, wissen wir nicht. Manche hoffen (Taurisano), dass sie noch irgendwo in den reichen Funden des venezianischen Staatsarchivs zu finden seien. Andere Kritiker wiederum (Fawtier) behaupten, sie wären „wissentlich vernichtet worden“, wobei Caffarini nur „einige erbärmliche Fragmente“ in sein Werk übernommen hätte, während das übrige von ihm erdichtet worden sei, weshalb es natürlich auch keine Kopien der Hefte geben könne. [Vgl. R. Fawtier, La double expérience de Catherine Benincasa, Paris, 1948, 35–38].
Ganz anders dagegen argumentiert der bereits erwähnte Francesco Conti. Er schreibt: „Ob Caffarini Veränderungen in den Erzählungen von Tommaso della Fonte gebracht hat, wissen wir nicht, da uns die Möglichkeit jedweder Gegenüberstellung mit der Quelle fehlt. Die Buchstabentreue bei der Wiedergabe der Quellen, die den Tod Caterinas betreffen, und der sehr einfache und lautere Stil, in dem diese Paragraphen geschrieben sind [der erste und zweite Teil], machen eine wortwörtliche oder fast wortwörtliche Wiedergabe wahrscheinlich. Eines ist jedenfalls sicher: das Supplementum ist Tommaso dalla Fonte um einiges näher als die Legenda Maior (dort, wo sie sich auf die Notizen des Tommaso dalla Fonte bezieht). Es zeigt sich sehr gut, dass die Legenda Maior den ursprünglichen Bericht ausgearbeitet hat, zumindest im Ausdruck.“ Auch Valli ist der Meinung, dass die Berichte des zweiten Kapitels praktisch in ihrer Gesamtheit von den Miracula, den Aufzeichnungen des Tommaso dalla Fonte, herkommen. (Vgl. F. Valli, Saggi su S. Caterina da Siena, Urbino 1949, 56).
Außer diesen beiden wesentlichen Quellen ist auch der Verweis auf die Legenda Minor häufig, die praktisch mit der Legenda Maior verkoppelt ist und das typische Merkmal eines bibliographischen Verweises hat, der an zweiter Stelle hinzukommt.
Wie aber ist Caffarini mit diesen Quellen umgegangen? Wenn es nach dem „Überkritiker“ Fawtier geht, dann wäre Caffarini schlichtweg ein Fälscher gewesen. Da er aber diesen Vorwurf nicht beweisen kann, können wir ihn einfach als unbegründet betrachten. Valli dagegen ist der Meinung, dass Caffarini die Miracula (also die Notizen des Tommaso dalle Fonte), wie er sie vorwiegend im ersten und zweiten Teil des Supplementum verwendet, praktisch auswendig wiedergibt: „Meiner Meinung nach berichtet er, ohne die Texte vor Augen zu haben, einfach indem er sie auswendig zusammenfasst.“ In manchen Fällen hat Valli offensichtlich Recht, man sollte allerdings nicht verallgemeinern. So teile ich zum Beispiel seine Überlegungen bezüglich der berühmten Vision, die Caterina als kleines Kind gehabt hatte. Caffarini kannte dieses Ereignis und brachte es in der Legenda Minor und im Supplementum, ohne mit der Legenda Maior die Genauigkeit der berichteten Details zu kontrollieren; so werden die Caterina erscheinenden Personen von vieren hier zu dreien, und in der Legenda Minor werden die anderswo namentlich aufgezählten Personen einfach „Apostel“. Ähnliches wiederholt sich noch einige wenige Male, aber nicht oft. Für die wiedergegebenen Fälle gibt es keinen Zweifel, dass Valli richtig geurteilt hat.
Conti hingegen möchte dieses System nicht einfach allgemein auf die Methode von Caffarini anwenden. Nach einer eingehenden Untersuchung der ersten vier Kapitel im dritten Teil des Supplementum, die dem Tod Caterinas gewidmet sind, kommt er zu dem Ergebnis, dass unser Autor nichts anderes getan hat, als die verschiedenen Quellen nebeneinander zu stellen, nachdem er sie zuvor nach einem zeitlichen und einem inhaltlichen Kriterium unterteilt hat. Eine Arbeit also, die eher Geduld verlangt als Genialität. Aus künstlerischer Sicht könnte man so etwas bedauern, aus historischer Sicht dagegen müssen wir dafür dankbar sein. Denn so haben wir eine umso größere Sicherheit, dass die Dokumente nicht schlecht interpretiert oder gar manipuliert wurden. Caffarini nahm bald diesen, bald jenen Passus aus den Texten, die er vor sich hatte, und verlegte ihn in sein Werk, ohne dabei scheinbare (oder tatsächliche) Widersprüchlichkeiten zu eliminieren; vielmehr beschränkte er sich lediglich auf einige kurze Bemerkungen, die den in Frage stehenden Texten folgen. Diese Bemerkungen allerdings sind sehr nützlich gerade für jenen Teil des Supplementum, in dem Caffarini Dokumente verwendet, die wir gegenwärtig nicht besitzen, nämlich den ganzen ersten Teil und die Kapitel 1–4 aus dem zweiten Teil.
Die Codices des Supplementum
Die Codices, die Caffarinis Schreibstube in Venedig verließen und die in ganz Europa und in Nordafrika verbreitet wurden, waren sehr zahlreich. Auch von Caffarinis Hauptwerk, dem Supplementum, wurden viele Kopien angefertigt, wenngleich uns heute nur zwei handschriftliche Codices aus dieser Zeit zur Verfügung stehen.
Der eine, für den Dominikanerkonvent in Siena geschrieben, befindet sich jetzt in der sienesischen Stadtbücherei mit der Signatur T. I. 240 – von ihm wurden dreihundert Jahre später zwei Kopien angefertigt, die heute in Rom aufbewahrt sind –, und der andere gehörte ursprünglich zum Dominikanerkonvent von SS. Giovanni e Paolo in Venedig und kam dann in die Universitätsbibliothek von Bologna (dort trägt er die Nummer 1574).
In welchem Verhältnis diese beiden grundlegenden Codices aus dem 15. Jahrhundert zueinanderstehen, ist nur hypothetisch zu bestimmen. Grundsätzlich kann man sie aber als „gleich alt und als Zwillinge“ definieren. Sie kommen beide, wie aus der Schrift und den Ausschmückungen ersichtlich wird, aus der venezianischen Schule, und sie entstammen beide der „Schreibstube“ von Caffarini. Dennoch sind sie nicht gleichzeitig geschrieben worden, sondern – so wird mit guten Gründen angenommen – der Codex S (Siena) entstand früher als der Codex B (Bologna).
Wissenschaftler und Übersetzer des Supplementum
Die Zahl derer, die sich bisher um eine Herausgabe oder Übersetzung des Supplementum bemüht haben, ist äußerst gering. Zuerst hatte Girolamo Gigli, der verdiente Forscher caterinianischer Themen, eine Veröffentlichung des Textes mit eigenen Anmerkungen versucht, aber dieser Versuch blieb ohne Folgen. Weiter bekannt geworden war das Supplementum nur durch die teilweise und zudem fehlerhafte italienische Übersetzung von A. Tantucci aus dem 18. Jahrhundert. Diese Teilübersetzung trug den Titel: „Supplement zur übersetzten Lebensbeschreibung der heiligen Caterina von Siena, zuerst in lateinischer Sprache vom seligen Tommaso Nacci Caffarini geschrieben und nun ins Italienische von P. A. Tantucci, einem Senesen aus dem Dominikanerorden, übersetzt und mit Anmerkungen durch denselben versehen.“ Davon gab es zwei Neuauflagen: Siena 1765 und Rom 1866.
1887 erfolgte eine weitere Veröffentlichung in gekürzter Form durch E. Cartier im zweiten Band des Lebens der heiligen Caterina von Siena vom seligen Raimund von Capua.
Schließlich hat uns 1938 Giuseppe Tinagli mit seinem ihm eigenen lockeren Stil eine zwar gute, aber leider unvollständige Übersetzung hinterlassen. Der kleine Band enthält nämlich nur Teil I und die 6 ersten Kapitel von Teil II. Das auf Seite 190 angekündigt folgende Kapitel, das den Titel Wundmale-Tod-Glorie hätte tragen sollen, ist nie erschienen. Tinagli ließ vermutlich bewusst das lange und berühmte siebente Kapitel aus und veröffentlichte nur die Übersetzung der drei ersten Kapitel des dritten Teiles in der Revue „Santa Caterina da Siena“.
1974 hat das nationale Zentrum der caterinianischen Studien in Rom unter der Leitung von Frau Prof. Giuliana Cavallini und in Zusammenarbeit mit Frau Dr. Imelda Foralosso und Herrn Prof. Antonio Traglia die erste kritische Gesamtausgabe des in lateinischer Sprache verfassten „Libellus de Supplemento“ veröffentlicht.
Auf dieser Grundlage erfolgte 2005 erstmals eine Gesamtübersetzung aus dem Lateinischen, und zwar ins Deutsche durch Dr. Josef Schwarzbauer (in der Reihe Caterina von Siena 5). Im Jahre 2010 erschien schließlich auch eine Übersetzung ins Italienische durch Angelo Belloni und Tito Centi.