Einleitung
(Der folgende Text ist der gedruckten deutschen Ausgabe entnommen)
Der sogenannte „Prozess von Castello“ ist eine Sammlung schriftlicher Zeugnisse über das Leben und die Tugenden der heiligen Caterina von Siena, die von einer Anzahl ihrer noch lebenden Schüler und Verehrer in den Jahren 1411–1416 im Auftrag des Bischofs von Castello-Venedig[1] (im Hinblick auf ihre Kanonisation) zusammengestellt wurden. Diese Sammlung gehört mit der Legenda des Raimund von Capua zu den bedeutendsten historischen Quellen und bildete eine wesentliche Grundlage für die über vierzig Jahre später erfolgte Heiligsprechung durch Papst Pius II.
Wer immer sich mit der heiligen Kirchenlehrerin aus Siena näher befassen möchte, kommt daher an dem Studium dieser Aussagen nicht vorbei, alle modernen Biographen haben daraus ihre Kenntnisse bezogen. Zudem sind die Berichte ihrer ehemaligen Schüler auch eine Erbauung für den Leser, wenn etwa Francesco Malavolti über seine Bekehrung und seine Erlebnisse auf Rocca d´Orcia erzählt oder Stefano Maconi über den Aufenthalt in Avignon und Bartolomeo da Ravenna von Caterinas Besuch auf Gorgona berichten; viele Details bringt Bartolomeo Dominici, der Caterina jahrelang begleitet hat; hervorzuheben ist auch das fast schwärmerische Zeugnis des Simone da Cortona, der als junger Mönch eifersüchtig Caterinas mütterliche Nähe suchte, oder die sehr lebendige Erinnerung des Sieneser Bürgers Pietro di Giovanni Ventura, der von Anfang an zu ihrem Schülerkreis zählte, und nicht zuletzt natürlich das umfangreiche Zeugnis von Tommaso Caffarini (wobei der von ihm angefügte weitschweifige Predigtteil auch übersprungen werden könnte) – alle diese Zeugnisse geben uns ein Bild von Caterinas Leben und Wirken und stellen uns zugleich ihre Persönlichkeit noch unmittelbarer und lebendiger vor Augen.
Als Caterina am 29. April 1380 in Rom im Alter von dreiunddreißig Jahren starb, hatte sie bereits weit über ihre Heimat hinaus den Nimbus einer Heiligen. Die Faszination, die von ihr ausging und ihr zu dieser außergewöhnlichen Popularität verhalf, weckte in vielen den Wunsch und die berechtigte Hoffnung auf eine baldige Anerkennung durch die Kirche.[2] Doch da diese Bemühungen mit dem Schisma (1378–1417) in Konflikt gerieten, hatten sie keinen Erfolg. So blieb den Jüngern und Bewunderern der Jungfrau zunächst nur die Feier ihres Gedächtnisses, das sie in Rom und Siena und dann vor allem in Venedig Jahr für Jahr mit Prozessionen, Blumen, Predigten, Gesang und einer anschließenden Agape festlich zu begehen suchten.
Unter den reformwilligen Dominikanern, die sich in der Lagunenstadt im Geiste Caterinas sammelten, zeichnete sich dabei vor allem der ehemalige Caterina-Schüler Fra Tommaso da Siena (Caffarini) aus, dem die Förderung ihres Kultes gleichsam zu seiner Lebensaufgabe geworden war. Tommaso wollte eine kirchliche Prüfung der Rechtmäßigkeit dieser Gedächtnisfeiern; und er wollte auch eine Untersuchung der Authentizität über das, was ihre Verehrer mit eigenen Augen gesehen und mit ihren Ohren gehört hatten. So kam – wie er selbst bezeugt, – „auf mein Betreiben und durch Gottes Gnade der Prozess zustande,“[3] eine Untersuchung, die sich über fünf Jahre erstreckte und uns in den Besitz von authentischen Berichten über Caterinas Leben und Wirken brachte, die uns sonst für immer verloren gegangen wären.
Entstehung und Verlauf des Prozesses
In Venedig gab es drei Dominikanerklöster: den Hauptkonvent SS. Giovanni e Paolo, den Konvent S. Domenico und das Schwesternkloster Corpus Christi.[4] In diesen drei Klöstern wurde nach dem Beispiel der Konvente von Chioggia, Lucca, Pisa, Rom und Siena seit dem Ende des 14. Jahrhunderts damit begonnen, das Gedächtnis der heiligen Caterina von Siena mit zunehmender Feierlichkeit zu begehen,[5] und zwar am ersten Sonntag nach dem 29. April, dem Fest des heiligen Dominikaner-Märtyrers Petrus von Verona. Im Jahre 1411 fiel dieser Sonntag auf den 3. Mai, an dem die Kirche das Fest der Auffindung des heiligen Kreuzes feierte.[6] Bartolomeo da Ferrara, der Inquisitor von Ferrara und Prediger des Konvents SS. Giovanni e Paolo, war mit der Ansprache beauftragt. Als Thema seiner Predigt hatte er die Textstelle aus dem Brief des hl. Paulus an die Galater gewählt: „Damit wäre ja das Ärgernis des Kreuzes beseitigt“ (Gal 5,11). Dem Brauch entsprechend illustrierte er seine Worte mit verschiedenen Beispielen aus dem Leben Caterinas und lud die Gläubigen zugleich nach Castello ein, wo Fra Tommaso Caffarini in der dortigen Apostelkirche an diesem Tag über dasselbe Thema predigen würde. Im Anschluss an die Feier gab es lebhafte Diskussionen über den Inhalt der Predigt und über die Rechtmäßigkeit einer solchen Verehrung, wie sie hier offensichtlich einer von der Kirche noch nicht heiliggesprochenen Jungfrau erwiesen wird. Da man nach langem Hin und Her zu keiner Einigung kam, wurde entschieden, die ganze Debatte vor das Tribunal des zuständigen Bischofs zu bringen.
So erschienen also am 24. Mai 1411 sieben Personen, die mit den Dominikanern von SS. Giovanni e Paolo befreundet waren,[7] an der Kurie und legten dem Bischof von Castello, Francesco Bembo, dar, wie schon seit längerer Zeit in seiner Diözese des Todes einer frommen Mantellatin, genannt Caterina von Siena, gedacht wurde.
Weil aber einigen Gläubigen eine derartige Verehrung anstößig erscheine, da es vonseiten der Kirche dafür noch keine Anerkennung gäbe, würden sie nun den Bischof bitten, eine Untersuchung einzuleiten, um zu zeigen, dass alle der Jungfrau zugeschriebenen Tugenden auch tatsächlich der Wahrheit entsprächen.
Zugleich sollte nach dem Urteil glaubwürdiger Personen geprüft werden, ob das Gedenken, das bisher alljährlich in den Konventen SS. Giovanni e Paolo, S. Domenico und im Kloster Corpus Christi abgehalten wurde, in Zukunft auch weiterhin so gefeiert werden könne, da jedwedes öffentliche Ärgernis vermieden werden sollte. Letzten Endes könne nur eine Entscheidung des Bischofs, der in seiner Diözese der Lehrmeister des Glaubens ist, dem Murren und dem Unmut verschiedener Leute ein Ende setzen. Soweit der Antrag.
Zwei Tage später berief der Bischof in Gegenwart seines Generalvikars Domenico d´Ascoli und des Notars an der Kurie, Francesco di Viviano, die beiden Dominikaner Bartolomeo da Ferrara und Tommaso Caffarini zu sich, um sie über seine Entscheidung zu informieren: Man werde unter dem Vorsitz des Generalvikars eine Untersuchung einleiten, so dass jeder Gläubige guten Sinnes sich überzeugen könne, dass das Gedenken an Caterina von Siena legitim sei und nicht gegen päpstliche Entscheidungen verstoßen würde.[8]
Tommaso da Siena (Caffarini), der von Anfang an die Fäden gezogen und das Ganze wahrscheinlich selber initiiert hatte, kümmerte sich nun auf Einladung des Generalvikars darum, bezüglich der beiden strittigen Punkte – nämlich ob Caterina wirklich diese Tugenden besaß und ob es zum gegenwärtigen Zeitpunkt angebracht sei, ihrer öffentlich zu gedenken – Zeugenaussagen zu bekommen.
Im Jahre 1411 – am Höhepunkt des Schismas, als es zugleich drei Päpste gab, König Ladislaus nach der Herrschaft Roms und ganz Mittelitaliens strebte und Gregor XII. sich mit seiner kleinen Restkurie in das Fürstentum Rimini flüchten musste –, in dieser dunklen Zeit des Petrusamtes sollte als helles Licht das Beispiel jener bleibend festgehalten werden, die für die Wunden der Kirche ihr Leben gab.
Insgesamt 23 Aussagen mit noch zwei zusätzlichen Noten und einem Brief des Kardinals Giovanni Dominici waren bis zum Sommer 1416 bei der Kurie eingegangen, „um öffentlich die Heiligkeit des Lebens und der Lehre dieser Jungfrau zu bezeugen ...“[9] Bei einem Blick auf die Zeugenliste sind zwei Dinge bemerkenswert: erstens, dass von den 24 Personen nur zwei Laien waren, während alle anderen dem Ordensklerus angehörten (darunter 16 Dominikaner, 2 Kartäuser, 2 Benediktiner, 1 Zisterzienser, 1 Franziskaner), und zweitens, dass diesen Klerikern eines gemeinsam war: sie waren allesamt Anhänger der Reform[10] und gehörten selbst einem Reformzweig ihres jeweiligen Ordens an. Warum Tommaso nicht auch andere noch lebende Personen, die Caterina kannten, um eine Aussage ersuchte, ob manche vielleicht ablehnten, oder ob Zeugnisse von ihm eliminiert wurden, wenn sie dem Zweck der Untersuchung nicht entsprachen – dies alles lässt sich jetzt nicht mehr beantworten.
Eine erste Serie, bestehend aus 12 Aussagen (darunter fünf von Augenzeugen und Schülern Caterinas), war bereits nach zwei Jahren beisammen und bildet den eigentlichen Kern des Prozesses. Jedenfalls zeigten sich die Antragsteller damit zufrieden, als sie im Januar 1413 erneut beim Bischof vorstellig wurden und die bisher gesammelten Zeugenaussagen einsehen konnten. Sie baten nur noch darum, dass alles in einen gemeinsamen Band kopiert, vom Notar beglaubigt und in den Archiven des Bischofs von Castello gelagert werden möge. Später kam noch eine zweite Serie von Aussagen dazu, in denen verschiedene Aspekte von Caterinas Tugenden ins Licht gerückt wurden, wobei die Heiligkeit ihres Lebens und die Berechtigung ihres jährlichen feierlichen Gedenkens als bereits feststehende Tatsache erschien.
Und die Reaktion der diözesanen Autorität? Ein Urteil des Bischofs ist zwar in keiner einzigen Handschrift überliefert, aber allem Anschein nach fiel seine Entscheidung positiv aus. Denn zu keiner Zeit hatte er die von einigen kritisierten Gedenkfeiern zu Ehren Caterinas in seiner Diözese verboten, auch nicht vorübergehend während des Prozesses. Vielmehr wurden sie weiterhin so wie in der Vergangenheit abgehalten. Ja, der Bischof unterstützte sogar mit seiner Autorität das Unternehmen der Dominikaner – wie Tommaso da Siena bestätigt –, indem er veranlasste, dass solange er diese Diözese leite, „von nun an jeder beliebige Prediger über die Tugenden und das Leben dieser bewunderungswürdigen Jungfrau zur Erbauung der Gläubigen frei Predigen könne.“[11]
Historische Bedeutung
Über die Bedeutung des castellanischen Prozesses und seiner einzelnen Zeugenaussagen, die grundsätzlich als historische Quellen zu betrachten sind, gab es (abgesehen von den Aussagen über den Kult) bereits unterschiedliche Auffassungen. Während ihn die einen als ein „völlig tendenziöses“ Dokument darstellten (Fawtier), schrieben ihm andere eine Bedeutung zu, die seinesgleichen sucht (Rosmini).
Zwei Einwände wurden vor allem erhoben. Der erste: es gab mehrere Zeugen, denen die Aussagen ihrer Vorgänger bereits bekannt waren, sodass deren Zeugnisse nicht frei ausgearbeitet wären (so hatte etwa Bartolomeo Dominici, während er in Rimini weilte, per Eilpost eine Kopie der Aussagen von Fra Tommaso Caffarini und Stefano Maconi erhalten und einen Passus davon praktisch wortwörtlich in seiner Aussage verwendet), was manche zu der Annahme verleitet, dass dadurch die Aussagen harmonisiert werden sollten, wodurch sie letztlich wertlos seien. Und der zweite Einwand: die zu starke Orientierung oder gar Anlehnung an Raimunds Legenda, wodurch man den Eindruck habe, dass manche Zeugen dem Werk Raimunds blind gefolgt seien, was den Wert ihrer Aussagen erheblich vermindern würde.
Aber kann man das wirklich so sagen? Raimund hatte mit der Legenda fünf Jahre nach Caterinas Tod begonnen und dieses Werk zehn Jahre später, 1395, beendet. Unter den Zeugen gab es wohl keinen, der sie nicht mit größter Aufmerksamkeit gelesen hatte. Nun aber waren mehr als dreißig Jahre vergangen und die Schüler von damals waren inzwischen ältere Männer geworden (Tommaso Caffarini war 63, Bartolomeo Dominici 67, Stefano Maconi 61, Simone da Cortona um die 66 und Francesco Malavolti bereits gegen 70 Jahre alt). Es war naheliegend, die eigenen Erinnerungen mit jenen Raimunds zu vergleichen, die nicht nur nach einem kürzeren Zeitabstand niedergeschrieben wurden, sondern auch von jemand stammten, der zu der Jungfrau in einem ganz besonderen Verhältnis stand.
Darüber hinaus wird aber von den Zeugen im Prozess auch eine ganze Reihe von Ereignissen aus dem Leben Caterinas berichtet, die in Raimunds Legenda in keiner Weise erwähnt werden. Versucht man eine Gegenüberstellung dieser Berichte mit anderen unabhängigen Quellen, so entdeckt man, dass die Aussagen des Prozesses genau stimmen. Wenn dennoch dieser oder jener Zeuge sich irgendwo geirrt hat, etwa was die genaue chronologische Abfolge betrifft, so muss dies der zeitlichen Distanz zugeschrieben werden (April 1380 Todesjahr Caterinas – April 1412 Datum der ersten Bezeugung). Wer wollte sich rühmen, nach einer so langen Zeitspanne seine Erlebnisse mit absoluter Genauigkeit aus dem Gedächtnis heraus wiedergeben zu können?
gewiss gibt es Aussagen, die sich nur auf Raimunds Legenda stützen, aber ihre Zahl ist gering. Viele der erwähnten Fakten wurden zudem nicht nur von Raimund erlebt, sondern auch von den damals mitanwesenden Prozess-Zeugen, sodass man ihre Aussagen nicht einfach als wertlose „Abschreibübung“ aus Raimunds Legenda abtun kann. Wenn sie in ihren Aussagen dennoch Raimund erwähnen und ihn zitieren, dann deshalb, um durch den Verweis auf seine „Autorität“ der eigenen Erzählung mehr Bedeutung zu verleihen. Schließlich war Raimund nicht irgendjemand.
Man kann den einzelnen Berichten des Prozesses durchaus eine unterschiedliche Bedeutung zuschreiben, die sich allein schon aus der Verschiedenheit der Zeugen ergibt. Aber das mindert nicht die Tatsache, dass diese Aussagen insgesamt eine außerordentlich wichtige geschichtliche Quelle darstellen, noch dazu, wenn man bedenkt, dass es sich bei den hier aufgeführten Zeugen um äußerst gebildete und tief religiöse Menschen handelte, die ihre Aussagen im Angesicht Gottes niedergeschrieben und mit einem Eid besiegelt haben.
Rechtliche Bedeutung
Nach Meinung zahlreicher Autoren wäre der Prozess von Castello eine typische Untersuchung gewesen über das Leben und die Lehre einer Persönlichkeit, wie sie seit dem 13. Jahrhundert für gewöhnlich einer Heiligsprechung vorausgeht. Diese Einschätzung ist aber nicht ganz zutreffend, denn eine derartige Untersuchung ist immer abhängig vom Heiligen Stuhl. Der vorliegende Prozess aber hat einen rein diözesanen Charakter. Er stand vom Anfang an unter der Autorität des Bischofs von Castello und wurde von ihm einberufen und auch durchgeführt. Wenn dabei einzelne Zeugen ganz offen ihren Wunsch nach einer Heiligsprechung Caterinas zum Ausdruck brachten, war das völlig legitim; das hatte bereits Raimund von Capua mit seiner Legenda getan.[12]
Ebenso legitim war es, dass der Bischof von Castello die Untersuchung begünstigt und vorangetrieben hat. Als Bischof hatte er das Recht, in seiner eigenen Diözese den Kult eines noch nicht heiliggesprochenen Dieners Gottes zu erlauben. Den Bischöfen war nur das Recht entzogen, dafür eigene Messtexte und ein eigenes Offizium zu verfassen. Unter diesen Bedingungen holte der Bischof von Castello, ehe er offiziell das Gedenken Caterinas approbiert hatte, Informationen über die Tugenden und Wunder ein, welche die Dominikanermönche von Venetien jener zuschrieben, die in ihrem Leben „Caterina, la Santa“ genannt worden war.[13]
Nachdem die bisher üblichen und von den Bischöfen tolerierten Formen des Volkskultes an verschiedenen Orten auch Anlass zu Missbräuchen gaben, wurden die kirchlichen Normen verschärft. Wenn sich nun Bischof Bembo in dieser Angelegenheit nicht einem derartigen Tadel seitens des Heiligen Stuhles aussetzen wollte und auch die Dominikaner (und vor allem Caffarini) jedes derartige Risiko vermeiden mussten, dann war es unbedingt notwendig, eine bischöfliche Bestätigung zu erhalten, dass es sich bei der Jungfrau Caterina um eine Mantellatin handle, die einer zukünftigen Heiligsprechung würdig sei, und dass die bisher in den Konventen von Venedig und Chioccia ihr zu Ehren abgehaltenen Gedenkfeiern die kirchlichen Rahmenbedingungen nicht überschreiten würden.
Zudem war das Ereignis des 1411 in Gang gesetzten Prozesses für die Dominikaner eine Gelegenheit, Informationen zu sammeln, die vielleicht eines Tages für eine Heiligsprechung Caterinas nützlich sein könnten.
Tatsächlich haben dann die drei von Papst Pius II. im März 1459 beauftragten Kardinäle (Basilio Bessarione, Alano di Coetivy und Prospero Colonna) in der vorbereitenden Untersuchung zur Heiligsprechung Caterinas eher den Prozess als die Legenda Raimunds untersucht, bzw. verwendet. Sie fanden darin die Aussagen zahlreicher Personen, die Caterina gekannt hatten, und der offizielle Charakter dieser Untersuchung, da sie unter der Leitung eines Bischofs durchgeführt wurde, verlieh ihr einen juristischen Wert, dem der Bericht des Dominikaners Raimund von Capua in dieser Form nicht beanspruchen konnte.
Für Tommaso Caffarini war die Bedeutsamkeit der Untersuchung von Venedig evident. Er war nicht nur ihr unermüdlicher Stimulator gewesen, sondern auch bestrebt, das Ergebnis, wie es im Original-Manuskript deutlich geworden war, möglichst bekannt zu machen.
Das Original-Manuskript (D)
Nach dem Ersuchen der Antragsteller und auf Weisung des Bischofs wurden alle Aussagen, die in den Jahren 1411–1416 zugunsten Caterinas in der Kurie eingegangen waren, in einem eigenen Band vereint. Die Übertragung der einzelnen Zeugenaussagen[14] auf die Blätter des Codex war dem Notar Francesco di Viviano anvertraut, der zu verschiedenen Zeiten daran gearbeitet hatte, wobei die ersten 12 Aussagen in den Anfangsmonaten des Jahres 1413 von ihm geschrieben wurden (Fol. 1–178).
Nachdem sich die Antragsteller der Untersuchung mit dem Ergebnis vollauf zufrieden zeigten, nimmt man an, dass zu dieser Zeit der Prozess bereits grundsätzlich abgeschlossen war. Viviano hat daher sein persönliches Zeichen am Ende der letzten Folie aufgesetzt und so wurde damals der Codex fertig gestellt.[15] Später wurde er noch wesentlich erweitert, wobei es ungewiss ist, ob die beiden Bezeugungen von Francesco Malavolti und Tommaso Paruta, die 1413 bzw. 1414 als nächstes in der Kurie eintrafen, gleich unmittelbar danach dem Codex beigefügt wurden oder erst zwei Jahre später mit den anderen. Jedenfalls waren bis Juli 1416 noch weitere neun Aussagen, eine Erklärung und ein Brief dazugekommen, und so machte sich Viviano wieder ans Werk, fügte dem ersten Manuskript eine gewisse Anzahl Blätter hinzu, übertrug darauf eigenhändig die neuen Zeugenaussagen und setzte am Ende wieder sein persönliches Zeichen.[16] Damit waren alle Aussagen in einem einzigen Codex vereint und der Weg frei, das Original-Manuskript mittels Kopien auch andernorts bekannt zu machen. „Der Prozess, der im Jahre des Herrn 1416 zu Ende geführt wurde“ schrieb dann Tommaso das Siena in seinem Supplement, „ist dokumentiert in einem Band ..., der durch den Notar der Kurie, Francesco Viviano angelegt und im Auftrag des Bischofs von Castello, Herrn Francesco Bembo, in dessen Kanzlei aufbewahrt und hinterlegt worden ist. Von diesem Band, also vom Original, wurden schon viele Abschriften gemacht, die ich überall hin verbreitet habe.“[17]
Wie viele Abschriften es waren, die Tommaso anfertigen und von Viviano notariell beglaubigen ließ,[18] und wohin er sie überall verbreitet hat, ist nicht bekannt. Nur vier von diesen Kopien sind uns erhalten.[19] Drei weitere sind verschollen, unter anderem jene, die er seinem Ordensgeneral Leonardo Dati und dem Bischof von Laibach, Tommaso Paruta, nach Konstanz geschickt hat, wo die beiden am Konzil teilnahmen.[20]
Unbekannt ist auch, wie und vor allem wann das Original-Manuskript[21] von Castello nach Siena kam. Ende des 17. Jahrhunderts war es aber bereits im Archiv von San Domenico, denn zu der Zeit verwendete es Don Pietro Masotti, der Prior der Kartause von Pontigniano, um davon eine Kopie anzufertigen, die sich die Grande Chartreuse erbeten hatte. Zur selben Zeit wurde es auch von Girolamo Gigli konsultiert, der es sowohl in seiner Ausgabe der Werke der heiligen Caterina von Siena als auch in seinem caterinianischen Vokabular zitiert. Am 29. April 1706 hat P. Arrigo Savini, der Prior von San Domenico, in seinem Bemühen einen „so wertvollen und bedeutsamen handgeschriebenen Codex“ sicher aufzubewahren, das Manuskript mit Zustimmung seiner Mitbrüder und im Auftrag des Stadtoberhauptes von Siena dem unter Verschluss gehaltenen caterinianischen Reliquiar im Konvent beigegeben. Auf diese Weise kam der Codex 1785 nicht mit den anderen Handschriften des Klosters in die Stadtbibliothek, sondern blieb geborgen im Schutz des Klosters. Und auch verborgen. Denn im Laufe des 19. Jahrhunderts nahmen nur zwei Gelehrte davon Notiz (Capecellatro und de Flavigni); die Inventarliste vom 31. Dezember 1908 über die beweglichen Gegenstände aus Stadteigentum, die sich in S. Domenico befinden, erwähnt zwar das Manuskript unter der Nr. 137 mit dem Vermerk: „Holzkassette aus dem 15. Jahrhundert, in der sich ein kleiner in Holz gebundener Codex befindet mit den Akten zur Heiligsprechung der heiligen Caterina“–, von den späteren Forschern aber wurde das Manuskript entweder übersehen (Fawtier), oder als verlorengegangen erklärt (Taurisano, Rosmini).
M.-H. Laurent, der 1942 den Text erstmals veröffentlichte, schreibt dagegen in seiner Einleitung, dass er das Original-Manuskript im März 1938 mit Genehmigung der kirchlichen und zivilen Autoritäten Sienas beliebig untersuchen und fotografieren konnte.
Werner Schmid[22]
Mai 2011, 600 Jahre nach Beginn des castellanischen Prozesses
[1] Seit 1091 wurden die Bischöfe von Venedig Bischöfe von Castello genannt, nach dem Stadtviertel, in dem sich ihr Palais befand. Von 1401–1416 war Francesco Bembo Bischof von Castello. 1451 wurde Venedig ein eigenständiges Patriarchat, der Bischofssitz blieb in der Kathedrale S. Pietro di Castello, aber die Bischöfe von Castello hießen nun offiziell Bischöfe von Venedig. Im Jahre 1808 wurde schließlich ihr Sitz von S. Pietro di Castello nach San Marco verlegt. Unter den bisher 45 Patriarchen von Venedig gab es zwei Heilige: Lorenzo Giustiniani und Giuseppe Sarto (Papst Pius X.).
[2] Tommaso Caffarini bezeugt mehrfach, wie bereits unter dem Pontifikat von Bonifaz IX. (vgl. Supplement III, 6, 15) und dann unter Gregor XII., während seines Aufenthaltes in Siena, Bemühungen um eine Kanonisation Caterinas im Gange waren (vgl. Supplement III, 6, 11). Raimund von Capua ging am Ende seiner Caterina-Biographie, die er 1395 vollendete, davon aus, „dass man mit größter Sicherheit und in allernächster Zeit mit ihrer Kanonisation rechnen darf“ (Legenda Maior, 428).
[3] Supplementum III, 6, 15.
[4] Heute existiert nur mehr das Kloster SS. Giovanni e Paolo.
[5] Im Konvent in Rom war es der Generalmagister des Predigerordens selbst (Raimund von Capua), der eine „alljährliche Feier des Gedächtnisses der Jungfrau anordnete“ (vgl. Supplementum III, 6, 2); und in Siena geht ihre Verehrung auf Tommaso dalla Fonte zurück, der nach der feierlichen Übertragung ihres Hauptes von Rom nach Siena als Prior von San Domenico mehrere Bilder von Caterina malen ließ und mit Zustimmung des Generaloberen von da an ihr Jahres-Gedächtnis festlich zu begehen begann, „wie es für Heilige, die noch nicht kanonisiert sind erlaubt, erbaulich und üblich ist“ (vgl. Supplementum III, 6, 1).
[6] Das im Osten bereits seit Anfang des 7. Jahrhunderts nachweisbare Fest der Kreuzauffindung, verbunden mit dem Ritus der Kreuzerhöhung, wurde im Westen in einer Verdoppelung übernommen: als Kreuzauffindung am 3. Mai und als Kreuzerhöhung am 14. September.
[7] Ihre Namen werden genannt im Einleitungsprotokoll.
[8] Gregor IX. hatte die Entscheidungen Alexanders III. und Innozenz III. in die kirchliche Gesetzessammlung aufgenommen (vgl. Decretales, III, 45, 1–2).
[9] Vgl. Supplementum, III, 6, 16
[10] Eine Reform des kirchlichen Lebens und der religiösen Gemeinschaften war in Italien bereits seit langem drängend empfunden worden. Bei den Dominikanern wurde die Reformbewegung ausgelöst von der heiligen Caterina von Siena. Raimund von Capua war als Generalprior des Predigerordens ganz im Geist seines großen Beichtkindes darum bemüht gewesen, in jeder Provinz mehrere Reformklöster zu schaffen, was hier in Venedig durch das Wirken des Dominikaners und späteren Kardinals Giovanni Dominici (Gründer der Klöster S. Domenico di Castello und Corpus Christi) und dem Einsatz Caffarinis für den caterianischen Kult in besonderer Weise gelungen war.
[11] Vgl. Legenda Minor, Grottanelli 184
[12] Der ganze Epilog der Legenda ist darauf angelegt, auf die für eine Kanonisation notwendigen Werke, und hier vor allem auf Caterinas Werke der Geduld, hinzuweisen. Er, Raimund, habe die Legenda nur „deshalb diktiert und geschrieben, damit die Heiligkeit dieser Jungfrau der heiligen katholischen Kirche und ihren Lenkern kundgetan werde.“ (Vgl. Legenda Maior 396–397).
[13] So etwa im Brief der Sieneser Gesandten an die Signoria vom 27. Juni 1375 (Dokumenti XII, S. 34); ähnlich im Brief von Giovanni dalle Celle an die fromme Nonna Domitilla: „Du wirst mir vielleicht sagen, Caterina, la Santa, predige, über das Meer zu gehen ... Caterina ist durch jahrelanges Gebet und Stille zur Heiligkeit gelangt. Wenn Du ihr an Heiligkeit gleichkommst, dann magst Du gehen“ (A. Biscioni, Lettere di Santi et Beati Fiorentini, Florenz, 1736, 57–63).
[14] Von diesen ist uns nur ein einziges Original, nämlich jenes von Stefano Maconi, erhalten geblieben.
[15] Fra Antonio della Rocca bemerkt in seinem zwischen 1415–1416 abgegebenen Zeugnis, dass er „einen großen Band mit Zeugenaussagen gesehen habe, die in der bischöflichen Kurie öffentlich hinterlegt wurden“; ebenso bestätigt dies Fra Angelo Salvetti und auch Tommaso Caffarini in der Legenda Minor (vgl. Grottanelli, S. 184).
[16] Dies war vor dem 10. August 1416, wie aus einer an diesem Tag gefertigten Erklärung des Bischofs Bembo zu entnehmen ist.
[17] Vgl. Supplementum III, 6, 15–16. Tommaso hatte sich allerdings schon seit 1313/14 darum bemüht, die im ersten Teilband zusammengefassten 12 Aussagen teils einzeln oder in ihrer Gesamtheit zu vervielfältigen und in Umlauf zu setzen.
[18] Vgl. die Bemerkung von Francesco Viviano am Schluss der letzten Bezeugung (Giovanni Michele), er habe bereits einige Kopien beglaubigt, wobei noch weitere folgen werden.
[19] 1) M = Milano (Pinacoteca Brera): Cod. AE. X. 35; zuerst im Konvent S. Domenico di Castello, 1421/22 von Tommaso Caffarini an Stefano Maconi übergeben (Kartause Pavia), von dort 1782 nach Mailand. 2) V = Venedig (Biblioteca di S. Marco): Cod. Lat IX. 14; gefertigt für die Bibliothek im Konvent SS. Giovanni e Paolo. 3) S = Siena (Biblioteca Comunale): Cod. T. I. 3, wie Viviano in seiner Beglaubigung mitteilt, war der Schreiber des Codex ein gewisser Georg aus Deuschland (vgl. hier S. 132, Anm. 165); 4) C = Rom (Casanatense): Cod. 2668 (fu XX. V. 10).
Zu diesen Codices des 15. Jahrhunderts kann man noch zwei spätere Kopien hinzufügen, deren eine im 17. Jahrhundert und deren andere zu Beginn des folgenden Jahrhunderts ausgeführt worden waren.
[20] Vgl. Supplementum III, 6, 16.
[21] Das Original Manuskript (D): Siena, Basilica di S. Domenico, ist ein Codex aus Leinenblättern von 218 nummerierten Folien und 9 nicht nummerierte Folien (290 x 270 mm) ganzseitig mit 30 bis 33 Linien beschrieben. Verschieden filigrane Verzierungen. Keine Miniatur, keine Rubrik. Notarielle kursiv Schreibweise. Ein Holzumschlag mit zwei Messingschnallen.
Die Aussagen befinden sich auf den Folien 3 – 216. Auf der Folie 217 befindet sich die Erklärung des Bischofs von Castello, Francesco Bembo sowie des Dogen von Venedig Tommaso Mocenigo, wo sie bestätigen, dass Francesco di Viviano, ein „Notar mit gutem Ruf ist, dessen Unternehmungen und öffentlichen Schriften das volle Vertrauen geschenkt wird“ (10. August und 4. November 1416).
Auf der Folie 217 befindet sich auch das Dokument vom 11. November 1420, welches erklärt, dass die Kopie der vorgehenden Briefe, dem Original entspricht; und Folie 218 enthält das Dokument vom 10. Januar 1460, das uns wissen lässt, dass das vorliegende Manuskript (D) während der Untersuchung verwendet wurde, die Pius II. im Hinblick auf die Heiligsprechung Caterinas vorangetrieben hatte.
[22] Die Einführung ist in weiten Teilen eine Zusammenfassung der Einleitung von M.-H. Laurent OP