Das Zeugnis des Stefano Maconi

Kartause von Pavia, hier starb Stefano Maconi 1424 (Foto Mayr)

 

Stefano Maconi, um 1347 in Siena geboren und seit 1376 Schüler der heiligen Caterina, wurde einer ihrer ständigen Sekretäre.1 Er begleitete sie nach Avignon und nach Florenz und folgte ihr 1379 auch nach Rom, wo er beim Sterben seiner geliebten „Mutter“ dabei war. Caterinas Wunsch entsprechend wurde er Kartäuser, trat am 19. März 1381 in Pontignano bei Siena ein und übernahm bereits eineinhalb Jahre später das Amt des Priors (1382–1389). Nach weiteren Jahren als Prior in der Kartause Garegnano bei Mailand (1389–1398), von wo aus Stefano auch mit der von Gian Galeazzo Viscon­ti gestifteten Gründung der Kartause von Pavia (1396) betraut wurde, wählten ihn die Mitbrüder 1398 zum Generalprior der römischen Obödienz, ein Amt, das er bis 1410 inne hatte. Danach leitete er erneut als Prior die Kartause Pontignano; zugleich war er auch Vikar des neuen Generalpriors Johannes Griffenberg mit allen Vollmachten für die italienischen Häuser (1410–1413). Nach einjährigem Priorat in Pontignano wurde er 1411 Prior in Pavia und behielt dieses Amt bis 1421. Hier starb er am 7. August 1424 nach einem heiligmäßigen Leben im Alter von 77 Jahren.

Auf Anfrage des mit ihm seit seinen Jugendjahren befreundeten Fra Tommaso da Siena (Brief vom 1. August 1411) begann Stefano Maconi mit der Abfassung seiner Zeugenaussage zugunsten Caterinas. Sie wurde in Pavia am 26. Oktober 1411 fertiggestellt und mit dem Siegel der Kartause – deren Prior er gewesen war – versehen und mit der Unterschrift zweier Notare gegengezeichnet. Nachdem sie mit ungewissem Datum von Maconi nach Venedig geschickt worden war, übergab sie Tommaso Caffarini am 20. Juni 1412 dem Generalvikar des Bischofs von Castello, Domenico d´Ascoli. 

1 Vgl. Caffarinis Darstellung über Stefano Maconi in Supplementum III, 6, 14.
2 Vgl. Giovanni Leoncini, Un Certosino del tardo medievo: Don Stefano Maconi, Analecta Cartusiana 63, Salzburg 1991, 54–107.

 

Im Namen unseres Herrn Jesus Christus und der seligsten Jungfrau Maria!

Nach dem Wort im Evangelium „zündet niemand ein Licht an und stülpt ein Gefäß darüber, sondern man stellt es auf den Leuchter, damit es allen im Haus leuchtet“ (Matt 5,15); daher ist es würdig und geziemend, dass denen Ehre zuteil wird, denen in rühmenswerter Weise die persönlichen Verdienste ihrer Tugenden zugute kommen. 257/258 Der Prophet sagt ja: „Frohlockt, ihr Gerechten, im Herrn! Den Rechtschaffenen geziemt Lobgesang“ (Ps 31,1). Darum sei allen und jedem Einzelnen, die künftig in dieses Schreiben Einsicht nehmen werden, mitgeteilt und kundgetan: Der fromme und ehrwürdige Vater, Herr Stefano von Siena, durch Gottes Gnade Prior des Klosters des Kartäuserordens S. Maria della Grazia bei Pavia, beantwortet hiermit einen Brief, dessen unten genauer Erwähnung getan wird, so gut dies in allem geschehen kann nach Recht, Ausmaß, gehöriger Ordnung und angemessenem Ausdruck. Damit ferner dem unten Aufgezeichneten ganzer und voller Glaube geschenkt werde, bekräftigt er durch seinen Eid, dass das unten Geschriebene in Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart wahr ist. In Anwesenheit der unten aufgezählten Notare und Zeugen hat er versichert und bezeugt und versichert und bezeugt auch jetzt, dass alles wahr ist, was von ihm als Antwort auf den besagten Brief über das Leben der seligen Jungfrau Caterina von Siena unten ohne Falsch, in gehöriger Weise, nach Recht und Gesetz geschrieben ist. Der Inhalt der Aufzeichnung ist im Einzelnen folgender:

Den ehrwürdigen, gottesfürchtigen und mit aufrichtigem Herzen von ihm geschätzten Bruder Tommaso d‘ Antonio da Siena aus dem Predigerorden, gegenwärtig im Kloster SS. Giovanni e Paolo in Venedig, grüßt in dem, der das wahre Heil aller ist, Bruder Stefano aus Siena, der wenn auch unwürdige Prior des Kartäuserklosters S. Maria della Grazia bei Pavia. Euren Brief habe ich mit großer Freude empfangen und mit Aufmerksamkeit gelesen. Ihr ersucht und bittet mich darin dringend, Euch, dem Hochgeschätzten, eine der Wahrheit entsprechende Auskunft – auch als Dokument für die Öffentlichkeit – über die Handlungen, den Charakter, die Tugenden und Lehren der durch ihre Frömmigkeit weithin bekannten heiligen Jungfrau Caterina von Siena geben zu wollen; ich durfte ja, wie Ihr bemerkt, einst, als sie noch auf Erden wandelte, in ihrer Gemeinschaft leben. Ihr bittet um diese Auskunft insbesondere anlässlich einer gewissen Klage, die sich in Venedig im bischöflichen Palast erhoben hatte; es ging um die Feier eines Festtages und um das Gedenken an diese Jungfrau, denn viele wollten nicht glauben, dass sie die Tugenden, die wahrheitsgemäß über sie verbreitet werden, auch wirklich besessen habe.

Um die Wahrheit zu gestehen, war mir und meiner ganzen Sippe die Jungfrau mit ihrer ganzen Familie von Angesicht völlig unbekannt, obwohl wir alle aus derselben Stadt Siena stammten. So war es bis etwa 1376, und auch damals hatte ich nicht den Wunsch, sie kennen zu lernen, denn ich war verstrickt in den Wirren meines damaligen Lebens. Aber die ewige Güte, 258/259 die keines Menschen Untergang will, hatte beschlossen, meine Seele durch diese Jungfrau dem Höllenrachen zu entreißen. In jener Zeit also geschah es, dass wir schuldlos in eine Fehde mit Leuten hineingerieten, die viel mächtiger waren als wir. Und obwohl sehr viele angesehene Bürger lange Zeit darin verwickelt waren und ein Ende herbeisehnten, konnten sie doch nicht die kleinste Hoffnung auf einen guten Willen oder auf Frieden von Seiten unserer Gegner haben.

Damals stand die besagte Jungfrau gleichsam in der ganzen Toscana in großem Ansehen; ihre Tugenden wurden von überaus vielen Leuten aufs höchste gepriesen und ihr Wirken galt als ganz wunderbar. Mir kam daher der Gedanke, dass wir zweifellos den Frieden erlangen würden, wenn ich mich in dieser Angelegenheit an sie wenden würde, denn sie hatte schon viele Streitigkeiten dieser Art geschlichtet. Ich beriet mich mit einem vornehmen Mann, der lange Zeit in Feindschaft gelebt, dann aber Frieden geschlossen hatte, und der mit der heiligen Jungfrau freundschaftlich verkehrte. Sobald dieser mein Anliegen erfahren hatte, antwortete er sogleich: „Sei überzeugt, dass du in dieser Stadt keinen anderen Menschen finden wirst, der für die Vermittlung eines solchen Friedens geeigneter wäre als sie.“ Und er fügte hinzu: „Verschieb es nicht länger, ich werde dich begleiten.“ Wir machten uns also auf, sie zu besuchen. Sie empfing mich nicht wie eine schüchterne Jungfrau, wie ich erwartet hatte, sondern mit ganz herzlicher Zuneigung, als würde ssie einen aus der Fremde heimkehrenden Bruder liebevoll empfangen. Darüber war ich verwundert, und ich achtete auf die heiligen Worte, mit denen sie mich zum Sündenbekenntnis und zu einem tugendhaften Leben nicht nur ermunterte, sondern geradezu drängte. Ich sagte mir: Das ist der Finger Gottes! Als sie den Grund meines Besuches gehört hatte, sagte sie mir ohne Zögern: „Geh, mein geliebter Sohn, und vertrau auf den Herrn. Ich werde sehr gern die Mühe auf mich nehmen, bis ihr den besten Frieden erreichen werdet. Überlass die entsprechende Entscheidung über diese Angelegenheit ganz und gar mir!“ Und der folgende Ausgang rechtfertigte diese Worte, denn durch ihre Vermittlung gewannen wir hierauf auf wunderbare Weise den Frieden, sogar wider den Willen unserer Gegner. Um nicht zu weit abzuschweifen, will ich das übergehen.

In meinem Bestreben, einen solchen Frieden zu erlangen, besuchte ich sie inzwischen wiederholt, und mit jedem Tag spürte ich durch ihre überzeugenden Worte und ihr vollkommenes Beispiel, wie mein innerer Mensch, vom Gewissen getrieben, sich zum Besseren entfaltete. 259/260

Sie bat mich ab und zu, für sie einige Briefe zu schreiben, die ihr jungfräulicher Mund auf wunderbare Weise diktierte. Ich übernahm die Aufgabe sehr gern, denn ich fühlte mit jedem Tag, wie das Herz in mir in bisher nie gespürtem Verlangen nach dem Himmlischen entbrannte, wie ich die Welt und alle ihre Freuden gering achtete. Mein bisheriges Leben missfiel mir so sehr, dass ich mich selbst kaum ertragen konnte. Ich spürte in mir einen eigentümlichen und so großen Wandel, dass ich es auch nach außen hin nicht verbergen konnte, so dass fast die ganze Stadt darüber erstaunt war. Je mehr ich das Leben, die Beispiele, die Sitten und Worte der erwähnten heiligen Jungfrau beachtete, desto mehr empfand ich in mir das Wachsen der göttlichen Liebe und die Geringschätzung der Welt.

Nach angemessener Zeit aber sagte die genannte heilige Jungfrau in einem vertraulichen Gespräch zu mir: „Du sollst wissen, mein geliebter Sohn, dass bald ein größeres Verlangen, das du hast, erfüllt werden wird.“ Ich war, als ich dies vernahm, einigermaßen erstaunt, denn ich konnte nichts finden, was ich auf der Welt haben wollte, ja, ich verschmähte eher alles, was sie mir bieten könnte. Daher sprach ich: „Sagt mir, teuerste Mutter, was meint Ihr mit dem größeren Verlangen, das ich haben soll?“ Sie antwortete: „Forsche in deinem Herzen nach!“ Ich erwiderte ihr: „Geliebte Mutter, ich kann wahrhaftig in mir kein größeres Verlangen finden, als in einem fort in Eurer Nähe zu sein.“ Sie antwortete sofort: „So wird es sein!“ Ich aber konnte keine Möglichkeit finden, wie dies auf ehrenhafte und angemessene Weise geschehen könnte; so verschieden waren die Lebensumstände und mein und ihr Stand. Er aber, dem nichts unmöglich ist, fügte es, dass ihr Weg sie nach Avignon zu Papst Gregor XI. führte, und so wurde ich trotz meiner Unwürdigkeit als Begleiter in diese so heilige Gemeinschaft aufgenommen. Leichten Herzens verließ ich Vater und Mutter, meine Brüder, meine Schwester und die anderen Verwandten, denn ich schätzte mich glücklich in der Nähe der Jungfrau.

Später kehrte der höchste Pontifex nach Rom zurück (Die heilige Jungfrau hatte ihn einzig auf göttliche Weisung, wie es für mich eindeutig feststeht, in diesem Entschluss gestärkt). Im Interesse der Kirche schickte sie dann der Papst nach Florenz, das sich zu dieser Zeit gegen die Kirche empört hatte. Gott wirkte dort durch sie viele wunderbare Dinge, wie es hinlänglich in ihrer Legende aufgezeichnet ist. Auch dort 260/261 durfte ich mit ihr sein. Schließlich war ich auch in Rom bei ihr, wo sie nach vielen und geradezu unerträglichen Leiden, die sie zur Ehre Gottes beharrlich auf sich nahm und mit größter Heiterkeit ertrug, in meiner Gegenwart den letzten Tag ihres glückseligen Lebenslaufes vollendete. Ich legte selbst mit Hand an, um sie nach Minerva, das heißt zur Kirche des Predigerordens zu tragen; dort sollte sie bestattet oder richtiger gesagt in einem Zypressensarg und einem ehrenvollen Grab beigesetzt werden.

Als sie kurz vor ihrem Hinscheiden war, gab sie einigen von uns Anweisungen, was sie nach ihrem Heimgang tun sollten. Später richtete sie ihre Augen auf mich, wies auch mit dem Finger auf mich und sagte: „Dir aber gebiete ich in der Kraft des heiligen Gehorsams im Namen Gottes: Tritt unverzüglich in den Orden der Kartäuser ein, denn Gott selbst hat dich zu diesem Orden berufen und auserwählt.“ Als sie uns rings um sie weinen sah, sprach sie: „Meine geliebten Kinder, ihr müsst keineswegs weinen, sondern eher im Herrn frohlocken und einen Festtag feiern, denn heute verlasse ich diesen Kerker und gehe zu dem so innig geliebten Bräutigam meiner Seele. Euch aber verspreche ich, und daran dürft ihr nicht im Geringsten zweifeln, dass ich euch ab jetzt unvergleichlich mehr beistehen werde, als ich euch je helfen konnte, solange ich in diesem Kerker eingeschlossen war.“ Und wie sie es mit Mund und Wort versprochen hatte, so erfüllte sie es vollkommen durch ihr Wirken, und es vergeht kein Tag, an dem sie ihre Zusicherung nicht erfüllen würde.

Um dies durch ein Beispiel offensichtlich zu machen, will ich zur Ehre Gottes und der Jungfrau selbst ein Ereignis anführen, auch wenn sich in mir etwas sträubt, darüber zu reden. Als mir nämlich Caterina die Weisung gab, im Gehorsam gegen Gott in den Kartäuserorden einzutreten, hatte ich gar nicht das Verlangen, in diesen oder auch einen anderen Orden einzutreten; als sie aber in die himmlischen Wohnungen eingegangen war, entbrannte in meinem Herzen ein so großes Verlangen, den Befehl auszuführen, dass es mir keine Ruhe gelassen hätte, selbst wenn die ganze Welt beabsichtigt hätte, mich davon abzubringen; die folgenden Ereignisse beweisen es. Wie viel und was sie an ihrem wenn auch unnützen und unwürdigen Sohn schon gewirkt hat und weiter wirken wird, ist jetzt nicht Gegenstand meines Berichtes. Eines allerdings will ich nicht ungesagt übergehen: Nach Gott und der heiligsten Jungfrau Maria fühle ich mich der besagten heiligen Jungfrau mehr verpflichtet als irgendeinem anderen Geschöpf der Welt, und wenn in mir etwas Gutes sein sollte, schreibe ich es nach Gott ganz ihr zu. 261/262

Das oben Geschriebene lässt erkennen, dass ich manche Jahre hindurch, mehr als viele andere, eine sehr enge Beziehung zu ihr gehabt habe. Ich habe ihre Briefe geschrieben und vertrauliche Angelegenheiten aufgezeichnet, ebenso einen Teil ihres Buches, wie ich es von den Lippen der Jungfrau vernahm. Sie liebte mich über meine Verdienste hinaus mit den tiefsten Gefühlen einer Mutter, so dass viele ihrer Kinder darüber ungehalten und gleichsam eifersüchtig waren. Ich aber beachtete aufmerksam und mit großer Gewissenhaftigkeit ihre Worte, ihre Sitten und ihre Handlungen im Allgemeinen und im Einzelnen. Mit wenigen Worten – und damit will ich vieles zusammenfassen – gebe ich mit bestem Gewissen vor Gott und der ganzen kämpfenden Kirche über sie das Zeugnis und verbürge mich für die Wahrheit: Wenn ich mich auch als Sünder erkannte, hatte ich doch in den zurückliegenden sechzig oder mehr Jahren Umgang mit vielen und sehr angesehenen Dienern Gottes; niemals aber habe ich im Ablauf von so langen Zeiten irgendeinen Diener Gottes gesehen oder auch gehört, der in jeder Tugend so vollkommen und unvergleichlich gewesen wäre. Mit Recht wurde sie daher von allen als Abbild der Tugenden und als leuchtendstes Beispiel der Diener Gottes gehalten.

Obwohl ich so lange in ihrer Nähe lebte, kann ich mich doch nicht erinnern, aus dem Mund der Jungfrau jemals ein unnützes Wort gehört zu haben; unsere Worte dagegen konnten niemals so unpassend sein, ohne dass sie sogleich irgendeinen geistlichen Nutzen damit verbunden hätte. Immer und mit nie versiegender Glut sprach sie von Gott oder von Dingen, die zu Gott führen, und sie hätte, glaube ich, niemals geschlafen oder gegessen, wenn sie unermüdliche Zuhörer gehabt hätte, wie wir täglich mit ihr erfahren konnten. Musste sie aber einmal von Ereignissen dieser Welt oder von Dingen hören, die zum Heil unnütz sind, fiel sie sogleich in Ekstase, und ihr Leib verharrte so ohne jede sinnliche Empfindung, als wäre sie im Gebet versunken. Auf solche Weise wurde sie täglich entrückt, wie wir es selbst hundert- oder tausendmal gesehen haben. Sehr oft blieben ihre Glieder starr und unbeugsam, so dass man eher ihre Knochen hätte brechen können, als dass man in der Lage gewesen wäre, ihre Glieder zu beugen. Um ganz deutlich zu machen, was alles geschehen konnte, wenn sie in diesem Zustand war, und damit niemand glaube, sie habe eine Entrückung nur vorgespielt, will ich von einem Ereignis erzählen, das sich in unserer Gegenwart zugetragen hat.

Als wir in Avignon waren, ließ uns Papst Gregor ein glänzendes Haus mit einer wunderschön geschmückten Kapelle zuweisen. Die Schwester des Herrn Papstes, eine sehr fromme Frau, fasste zu der oben genannten Jungfrau eine große Zuneigung und Ehrerbietung, nachdem sie einmal ein Gespräch mit ihr geführt hatte. Darum sagte sie unter anderem heimlich zu Magister Raimund, dem Beichtvater Katharinas, sie möchte sehr gern dabei sein, wenn 262/263 die heilige Jungfrau die Kommunion empfange. Dieser versprach ihr, er würde ihr am kommenden Sonntag Kunde geben. An diesem Tag betrat die heilige Jungfrau ohne Sandalen und nur in Socken zur Stunde der Terz die Kapelle. Wie gewöhnlich wurde sie in ihrer Sehnsucht und in Erwartung der Kommunion in Ekstase entrückt. Magister Raimund ließ mich rufen und sagte: „Geh zu dem Palast, in dem die ehrenwerte Schwester des Papstes wohnt, und berichte ihr, dass Caterina an diesem Morgen kommunizieren würde.“ Die besagte Herrin hörte gerade die Messe, aber sobald ich die sehr große Halle betrat, erblickte sie mich. Da sie wusste, dass ich zu Caterinas Familie gehörte, kam sie gleich persönlich auf mich zu und sagte: „Mein Sohn, was suchst du?“ Ich meldete, was mir aufgetragen worden war. Sie aber hatte es plötzlich sehr eilig und kam mit einem achtbaren Gefolge von Frauen und Männern zu unserem Haus. Neben anderen nahm sie auch die Gattin eines Neffen des Papstes mit (Der Neffe hieß Herr Raimund da Turena). Diese Frau war noch sehr jung, dachte nur an nichtiges Treiben und nicht im Geringsten an Gott. Die Schwester des Papstes verhielt sich sehr ehrerbietig, jene Unselige aber dachte, wie ich glaube, dass die Jungfrau sich nur verstelle. Darum neigte sie nach der Messe in gespielter Ehrerbietung ihr Antlitz über die Füße der Jungfrau und stach mehrmals mit einer spitzen Nadel in die Füße. Caterina aber stand unbeweglich, wie sie auch gestanden wäre, selbst wenn man ihr die Füße abgeschnitten hätte. Nachdem sich aber alle entfernt hatten und die Jungfrau wieder zu Sinnen gekommen war, spürte sie auf einmal einen so heftigen Schmerz im Fuß, dass sie kaum gehen konnte. Ihre Mitschwestern aber schauten nach, wo sie den Schmerz spürte, und sahen das gestockte Blut an den Stichen; so erkannten sie mit ganzer Klarheit die Bosheit und Gottlosigkeit jener Unseligen. Ich glaube, dieses eine Beispiel aus vielen, das ich zu unserem Thema anführen wollte, kann für einen gläubigen Menschen ausreichen.

Wenn wir von ihrem Zustand der Entrückung sprechen, dürfen wir eine besonders wunderbare Erscheinung nicht übergehen, sondern müssen davon mit gebührender Ehrfurcht berichten. Vor allem wenn ihr Geist sich erhabenen Dingen hingab und sich mit größerer Inbrunst im Gebet versenkte oder mit stärkerem Drang nach oben gerichtet war, überwand sie sogar die Erdenschwere des Leibes, und so wurde sie oftmals von vielen Menschen gesehen, wie sie sich im Gebet von der Erde löste und frei in der Luft schwebte. Einer dieser Zeugen bin auch ich, und ich war darüber aufs höchste verwundert. Wie es aber dazu kommen konnte, wird klar in dem Buch geschrieben, das die heilige Jungfrau 263/264 selbst verfasste und an dessen Niederschrift auch ich Anteil hatte, als sie es auf ganz wunderbare Weise Wort für Wort diktierte.

Zu diesem Gegenstand muss man besonders anmerken, dass die göttliche Majestät dieser getreuesten Braut eine so große Wertschätzung und eine solche Vertraulichkeit gewährt hatte, dass sie oft mit ihr redete, wenn sie im Gebet versunken war, und sprach: „Ich will es so.“ Und wenn der Herr auf diese Weise mit seiner Braut redete, schien es notwendig zu sein, dass dies sogleich seine Bestätigung finde, damit wir vielen ein Zeugnis geben können, für dessen Wahrheit wir bürgen.

Über ein Ereignis aber, das ich an mir selbst erfahren habe, werde ich nicht schweigen können. Als wir aus Avignon zurückkehrten, wohnten wir in Genua mehr als einen Monat lang im Haus einer edlen und verehrungswürdigen Frau, die Frau Orietta Scotta hieß. Hier erkrankte fast unsere ganze Gruppe. Jene Dame aber sorgte sich aufopfernd um alle und brachte täglich zwei tüchtige Ärzte ins Haus. Zusammen mit ihnen bemüh-te ich mich sehr und wollte jedem einzelnen Kranken den nötigen Dienst erweisen, bis mir von allen im Haus gleichsam prophezeit wurde, dass ich auch erkranken würde. Und wirklich, innerhalb weniger Tage erfasste auch mich die Krankheit. Ich war ans Bett gefesselt, sehr hohes Fieber ergriff mich, verbunden mit heftigen Kopfschmerzen und quälendem Erbrechen. Als die heilige Jungfrau davon erfuhr, kam sie mit den Beichtvätern und ihren Mitschwestern persönlich zu mir und fragte mich, was mich denn so quäle. Ich freute mich über ihre liebevolle Anteilnahme und sagte beruhigend: „Es gibt Leute, die sagen, dass ich krank sei; was es ist, weiß ich nicht.“ Sie wurde von mütterlicher Liebe ergriffen, berührte mit ihrer jungfräulichen Hand meine Stirn, schüttelte ein wenig den Kopf und sagte: „Hört, was dieser Sohn sagt: ‚Einige meinen, dass ich krank sei; was es ist, weiß ich nicht‘, während er doch von heftigstem Fieber erfasst ist!“ Und sie fügte hinzu: „Ich erlaube nicht, dass deine Krankheit den gleichen Verlauf nimmt, wie es bei den anderen Kranken geschieht, sondern ich befehle dir in der Kraft des heiligen Gehorsams, nicht länger an dieser Krankheit zu leiden, denn ich will unbedingt, dass du gesund bist und den anderen wie bisher beistehst.“ Nach diesen Worten begann sie, wie es ihre Gewohnheit war, über Gott zu sprechen. Und es ist wunderbar, darüber zu reden, noch viel wunderbarer aber ist, was geschah: Während sie noch redete, wurde ich völlig fieberfrei! Ich unterbrach ihre Worte und rief: „Ich bin geheilt!“ Alle Anwesenden waren voll Staunen; ich aber verbrachte danach noch viele Jahre in völliger Gesundheit. 264/265

Auf die gleiche Weise, nämlich durch einen machtvollen Befehl, heilte die erwähnte Jungfrau den ehrwürdigen Herrn Giovanni, der die Gelübde als Mönch abgelegt hat und jetzt in der Zelle Vallombrosa lebt. Eines Tages erkrankte er lebensgefährlich in der Abtei Pissignani nahe bei Siena. Der Befehl aber, den ich gehört habe, erging aus dem Mund der Jungfrau in Abwesenheit des besagten Herrn Giovanni, nämlich in Gegenwart zweier Jünger des betreffenden Mönches, die dieser zu der Jungfrau gesandt hatte. Caterina forderte ihn durch diese zwei auf, nicht länger krank zu sein, sondern unverzüglich zu ihr zu kommen. Jener kam dem Auftrag ohne Zögern nach. Über dieses so staunenswerte Ereignis schrieb er selbst später einen wunderschönen, in glänzendem Stil verfassten Brief, damit ein solches Wunder nicht in Vergessenheit gerate. Ich habe den Brief voll Ehrfurcht in unserer Zelle aufbewahrt.

Damals berichtete er mir darüber mit großem Ernst mündlich noch ausführlicher als in der schriftlichen Aufzeichnung, er pries vor aller Welt die Jungfrau, die ihn mehr auf Befehl als durch Gebet aus Todesschmerz gerettet hätte, und forderte alle Zuhörer zur Verehrung der Jungfrau auf. Voll Staunen lobte er den Allmächtigen, der seiner Braut eine so außergewöhnliche und große Macht verliehen hatte.

Wenn auch das ganze Leben der genannten Jungfrau, sowohl nach innen wie nach außen, unerhört, wie ich sagen möchte, und ganz wunderbar war, so bemerkten doch manche ganz besonders hervorragende Diener Gottes eines an ihr, was an einem Pilger auf dieser Welt höchst erstaunlich und ungewöhnlich ist: Was immer sie tat, sprach oder hörte, stets war ihr heiliger Sinn untrennbar in Gott versunken und unverkennbar mit ihm vereint. Und weil der Mund aus der Fülle des Herzens spricht, sprach sie immerzu nur über Gott oder über Dinge, die zu ihm führen. In der Tat, Gott suchte sie immer; sie fand ihn und hielt ihn fest mit ganzem Herzen und in der Einheit der Liebe. Ich erinnere mich an so manche Bemerkung: Wenn sie Blumen auf einer Wiese sah, machte sie uns mit heiliger Freude darauf aufmerksam und sagte: „Seht ihr nicht, wie alles Gott ehrt und laut preist? Diese roten Blumen weisen uns offensichtlich auf die glühendroten Wunden Jesu Christi hin.“ Wenn sie das Gewimmel von Ameisen sah, sagte sie: „Diese sind genauso wie ich aus dem heiligen Willen Gottes hervorgegangen. Gott hat das gleiche Wirken gezeigt, als er die Engel schuf und diese Ameisen und die blühenden Bäume hervorbrachte.“ In ihrer Nähe waren wir alle tatsächlich stets getröstet, was uns auch bedrücken mochte, und so beglückt, dass wir, wie ich sagen möchte, in einem fort ohne irdische Speise geblieben wären, um sie zu hören, selbst dann, wenn uns andere Sorgen beunruhigten oder eine Krankheit uns bedrückte.

Sogar Übeltäter, die den Strick oder das Beil erwarteten, schienen bei ihrem Besuch im Kerker 265/266 für diese Zeit zu vergessen, welche Strafen und Foltern sie erwarteten.

Vor ihrem Anblick wichen, wie es schien, auf wunderbare Weise ganz und gar die Versuchungen des Teufels, wie die Nebel schwinden, sobald die Sonne in ihrer Kraft aufleuchtet. Wie ich mich erinnere, bin ich oftmals mit dem Vorsatz zu ihr gegangen, ihr dies und das über meinen Zustand zu erzählen, und dann musste ich ihr sagen, dass ich es vergessen hätte. Ich pflegte sie dann zu fragen, wie es denn mit mir stehe, denn ohne Zweifel konnte sie mein Anliegen besser darstellen und mir in meinen Nöten beistehen, als ich es verstanden hätte, etwas zu erklären oder zu erbitten. Nun könnte sich jemand über ein Gespräch dieser Art und Weise wundern; alle aber sollen wissen, dass diese heiligste Jungfrau den Zustand der Seelen so erkannte, wie wir etwa den Zustand der Mienen erkennen. Sie machte uns das durch Beispiele wiederholt ganz deutlich. Darum konnten wir vor ihr auf keine Weise etwas verbergen, vielmehr offenbarte sie uns, was wir als unsere Geheimnisse angesehen hatten. Deshalb sagte ich einmal zu ihr: „Wahrhaftig, Mutter, in Eurer Nähe zu sein ist gefährlicher als über das Meer zu wandeln, denn Ihr seht alles, was in uns verborgen ist.“ Sie selbst erklärte mir einmal im Geheimen: „Wisse, mein lieber Sohn, über die Herzen, und ganz besonders über die Herzen derer, für die ich mehr als über andere Sorge tragen will, kann kein Makel und keine Wolke irgendeines Mangels so schnell kommen, dass ich es nicht sogleich sehen würde, denn es ist der Herr, der es mir zeigt.“ Ich möchte noch anschaulicher zum Ausdruck bringen, das sich dies wirklich so verhielt. Für mich steht ganz eindeutig fest, dass sie – auch in meiner Anwesenheit – mit ihren überzeugenden Ermahnungen viele Tausende von Menschen beiderlei Geschlechtes dazu brachte, ihre Sünden zu bekennen, denn es gab nicht einen, der ihr widerstehen konnte. Wegen dieser so reichen Ernte, die sie auf solche Weise einbrachte, gewährte ihr daher Papst Gregor XI. das Vorrecht, immer drei Beichtväter mit großer Absolutionsgewalt um sich zu haben. Manchmal aber kamen irgendwelche Sünder zu ihr, die so fest in den Banden des Teufels verstrickt waren, dass sie sich ihr hartnäckig widersetzten und zu ihr sagten: „Wirklich, Herrin, wenn Ihr mir sagtet, ich soll nach Rom oder zur Wallfahrtsstätte des heiligen Jakobus gehen, würde ich es ohne Zaudern tun; 266/267 was aber die Beichte betrifft, verschont mich bitte damit, denn ich kann nicht!“ Wenn sie ihn schließlich auf andere Weise nicht gewinnen konnte, nahm sie ihn beiseite und sprach zu ihm: „Wenn ich dir den Grund sage, weshalb du dich zu beichten weigerst, wirst du dann deine Sünden bekennen?“ Jener war darüber ganz erstaunt und fühlte sich überrumpelt; darum versprach er, es zu tun. Sie sagte: „Mein geliebter Bruder, den Augen der Menschen können wir bisweilen entgehen, den Augen Gottes aber niemals. Eine bestimmte Sünde, die du zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort begangen hast, ist der Grund, weshalb jetzt der Teufel auf solche Weise deinen Sinn verwirrt, dass er dir nicht erlaubt, deine Sünden zu bekennen.“ Als aber jener sich so durchschaut sah, fiel er ihr zerknirscht zu Füßen, bat mit einem Strom von Tränen um Vergebung und legte unverzüglich eine Beichte ab.

Es ist für mich ganz gewiss, dass dies oft und bei vielen so geschehen ist. Einer von ihnen, der in ganz Italien sehr berüchtigt war, sagte zu mir: „Gott allein und ich wussten das, was diese Jungfrau mir gesagt hat.“ Auf solche Weise entriss sie mit ihrem klaren Blick die Seelen der Sünder den Händen des Teufels. Damit soll vorläufig, was den inneren Menschen betrifft, genug über das wunderreiche Leben Katharinas gesagt sein.

Auch in Hinblick auf den äußeren Menschen war ihr Leben wundersam. Wie in ihrer Legende zu lesen ist, hielt sie einmal ihren jungfräulichen Leib lange Zeit ohne jede irdische Nahrung aufrecht; sie verzichtete auch auf jeden Tropfen Wasser, was ich für unmöglich halten würde, wenn ich es nicht mit eigenen Augen in Rom gesehen hätte. Das Einzige, was sie zu sich nahm, war das ehrwürdigste Sakrament. Ihre gewöhnliche Lebensweise aber, die sie lange Zeit einhielt, war, wie ich es viele Jahre lang gesehen habe, folgende: Fleisch und Wein, Süßspeisen oder Eier verschmähte sie fast ganz; ihre Mitschwestern bereiteten ihr im Allgemeinen rohe Kräuter zu, die wir Salat nennen, wenn man sie bekommen konnte, oder manchmal ein Kohlgericht mit Öl; vom Aal aß sie nur Kopf und Schwanz, Käse nahm sie nur zu sich, wenn er schon überreif war. Von solcher Art war alles, wovon sie sich nährte. Sie aß aber diese Speisen nicht wirklich, sondern kaute sie nur, bald mit, bald ohne Brot, nahm dazu irgendeine Flüssigkeit und spuckte dann alles, soweit es feste Nahrung war, wieder aus und trank reichlich reines Wasser. Dies tat sie in der Zeit, in der ihre Mitschwestern beim gemeinsamen Essen bei Tisch waren; dann aber stand sie auf und sagte: „Gehen wir, um dieser elenden Sünderin Gerechtigkeit widerfahren zu lassen“; sie steckte ein Zweiglein in die Speiseröhre, bis sie auf demselben 267/268 Weg jenen Saft und das getrunkene Wasser gewaltsam wieder nach außen erbrach. Manchmal tat sie sich dabei solche Gewalt an, dass aus ihrem Mund unverkennbar auch Blut kam.

Widerlegt wird also damit die Meinung mancher Ungläubigen, die völlig zu Unrecht die Jungfrau verleumden, indem sie sagen: „Mag schon sein, dass sie vor aller Augen mit anderen nicht isst; später aber isst sie gewiss im Geheimen.“ Die schlichte Wahrheit, die wir – und es waren nicht wenige! – gesehen haben, ist die: Sooft sie ihrem Magen ein wenig Saft oder Wasser zuführte, oder auch eine feste Speise, und wenn sie klein wie eine Haselnuss war, wurde ihr Körper schwach und war zu nichts mehr fähig. Manchmal kamen gelehrte Menschen gerade in der Zeit zu ihr, in der sie Gerechtigkeit an sich üben sollte (um ihre eigenen Worte zu gebrauchen, das heißt, in der sie jede Flüssigkeit im Magen wieder erbrechen musste); um sich ihnen sogleich widmen zu können, musste sie diesen Vorgang verschieben. Das hatte zur Folge, dass sie plötzlich ohnmächtig wurde und wie tot erschien, bis sie jene Entleerung des Magens vollzogen hatte. Das haben wir, wie ich sagen möchte, unzählige Male gesehen. Da ich mir darüber oft meine Gedanken machte, sagte ich einmal keck zu ihr: „Meine teuerste Mutter, ich sehe, dass Ihr die Labung dessen, was Ihr zu Euch nehmt, so kurze Zeit im Magen behaltet, dass die Natur davon nicht die kleinste Stärkung erhalten kann, insbesondere da Ihr es sofort wieder mit so viel Schwierigkeit, Qual und Pein erbrecht; wäre es da nicht besser, wenn Ihr Euch völlig der Nahrungsaufnahme enthieltet?“ Sie antwortete mir in ihrer großen Klugheit: „Mein geliebter Sohn, mehrere Überlegungen veranlassen mich, Nahrung zu mir zu nehmen. Eine davon ist, dass ich den Herrn gebeten habe, mich in diesem Leben für die Sünde der Gaumenlust zu bestrafen; daher nehme ich mit Freude diese Züchtigung an, die mir von Gott zuteil wird. Ferner versuche ich, sehr vielen Genüge zu leisten, die offensichtlich an mir Anstoß nahmen, wenn ich nicht aß; sie sagten nämlich, dass der Teufel mich täuschte, und darum esse ich, wie es mir möglich ist. Ein guter Gesichtspunkt kann auch sein, dass durch diese körperliche Qual der Geist sich einigermaßen auf die leiblichen Kräfte besinnt; ein anderer, dass der Leib gefühllos bliebe, wenn der Geist so für sich allein in Anspruch genommen wäre.“ Als ich das hörte, schwieg ich, denn ich konnte ihr dazu nichts erwidern.

Neben dieser Gabe hatte aber die heilige Jungfrau eine so tiefe Weisheit, die sich von oben in ihre Seele ergossen hatte, dass alle, die sie hörten, in Erstaunen versetzt wurden. Sie erklärte und deutete die ganze heilige Schrift so klar, dass sich alle, mochten sie noch so gelehrt sein, darüber aufs höchste verwunderten. Als ganz erstaunlich musste man erkennen, dass das menschliche Wissen in ihrer Gegenwart so dahinschwand, wie Schnee oder Eis vor den Strahlen der glühenden Sonne zu schmelzen pflegt. 268/269

Sehr beeindruckend und von bewunderungswürdiger Ausdrucksweise waren die vielen Reden, die sie in Gegenwart des früheren Papstes Gregor XI. und später vor Papst Urban VI. und den Herren Kardinälen hielt. Einhellig sagten sie voll Bewun-derung und Staunen: „Noch nie hat ein Mensch so geredet, und ohne Zweifel spricht aus ihr nicht eine Frau, sondern der Heilige Geist; das wird mit jedem Wort klar.“

Von einem Ereignis, das ich persönlich erlebt habe, will ich kurz berichten, weil es auf unser Thema Bezug hat. Als Papst Gregor XI. in Avignon der heiligen Jungfrau oft Audienz gewährte und ihr große Ehrerbietung zuteil werden ließ, redeten ihn drei angesehene Prälaten an – mögen sie selbst sehen, in welcher Gesinnung sie es taten – und sprachen: „Heiliger Vater, ist diese Caterina von Siena wirklich von solcher Heilig-keit, wie man sagt?“ Der Papst antwortete: „Wir glauben wirklich, dass sie eine heilige Jungfrau ist.“ Sie erwiderten: „Wir wollen sie aufsuchen, wenn es Euer Heiligkeit gefällt.“ Jener entgegnete: „Wir glauben, dass ihr große Erbauung finden werdet.“

Sie kamen also gleich nach der Non – es war Sommer – zu unserem Haus. Sie klopften ans Tor, und als ich zu ihnen eilte, sagten sie: „Sag Caterina, dass wir mit ihr reden wollen.“ Die heilige Jungfrau kam, als sie dies vernommen hatte, zu ihnen herab; zugleich mit ihr kamen ihr Beichtvater Magister Giovanni und einige andere Ordensleute. Sie ließen sie in einem offenen Raum in der Mitte Platz nehmen und begannen gleich mit großer Überheblichkeit. Sie reizten sie mit kränkenden Worten und sagten: „Wir kommen von Seiten unseres Herrn Papstes und möchten hören, ob du die Abgesandte der Florentiner bist, wie das Gerücht sagt. Haben sie denn, wenn es wahr ist, keinen anderen einflussreichen Mann, den sie in einer so wichtigen Angelegenheit zu einem so großen Herrn schicken können? Wenn sie dich aber nicht gesandt haben, wundern wir uns sehr, wie du dir herausnehmen kannst, über einen so bedeutenden Gegenstand mit unserem Herrn Papst zu reden; du bist doch nichts als ein bedeutungsloses, armseliges Weib!“ Caterina verharrte wie eine unerschütterliche Säule und gab ehrerbietige und ganz überzeugende Antworten, bis jene schließlich sehr verwundert waren. Nachdem ihnen Caterina über dieses Thema erschöpfende Auskunft gegeben hatte, legten sie ihr sehr gewichtige und sehr viele Fragen vor, die sich vor allem auf ihre Entrückungen und ihre einzigartige Lebensweise bezogen: Wenn der Apostel sagt, dass der Engel Satans sich als Engel des Lichtes tarnt (2Kor 11,14), wie erkenne sie, ob sie nicht vom Teufel getäuscht werde? Noch vieles andere sagten sie und brachten sie vor, und so zog sich das Gespräch bis in die Nacht hin. Einmal wollte Magister Giovanni für sie antworten, und obwohl er 269/270 Magister der heiligen Theologie war, waren ihm doch jene Prälaten so überlegen, dass sie ihn mit wenigen Worten zum Verstummen brachten. Sie sagten: „Ihr müsstet Euch schämen, in unserer Gegenwart solches zu sagen. Lasst sie antworten, sie überzeugt uns viel mehr als Ihr!“ Unter jenen drei Personen war ein Erzbischof aus dem Orden der Minderen Brüder, der in seinem Verhalten einen pharisäischen Hochmut an den Tag legte und sich offensichtlich mit den Worten der heiligen Jungfrau nicht zufrieden gab. Die zwei anderen erhoben sich schließlich gegen ihn und sagten: „Was erwartet Ihr noch mehr von dieser Jungfrau? Ohne Zweifel hat sie über diese Gegenstände klarer gesprochen, als wir es jemals von einem der Gelehrten finden konnten, und sie hat in gehöriger Weise gar viele Zeichen des wahren Glaubens zu erkennen gegeben.“ So kam es unter ihnen zu einer Spaltung; schließlich aber gingen sie in gleicher Weise beruhigt wie getröstet weg und berichteten dem Herrn Papst, dass sie niemals eine so demütige und so erleuchtete Seele gefunden hätten. Am folgenden Tag kam unser Magister Francesco von Siena, der damals Leibarzt des Papstes war, zu mir und sagte: „Kennst du jene Prälaten, die gestern in unser Haus gekommen sind?“ Als ich es verneinte, sagte er: „So wisse: Wenn das Wissen jener drei auf eine Waagschale gelegt würde und auf die andere das Wissen aller, die in der römischen Kurie sind, würde das Wissen jener drei ein klares Übergewicht haben. Und ich kann dir sagen: Wenn sie nicht gefunden hätten, dass Caterina ein festes Fundament hat, dann wäre die schlimme Reise, die sie auf sich genommen hat, vergeblich gewesen.“        

Wer könnte schließlich von den inneren Tugenden dieser holden Jungfrau, die er immer wieder erfahren hat, in gebührender Weise erzählen? Etwa von ihrer tiefsten Demut oder ihrer unbesiegbaren Geduld, die sie dadurch bekundete, dass sie in ihrer Miene niemals eine Erregung zeigte oder auch nur ein Wort der Ungeduld oder des Zornes verlauten ließ? Wer könnte ihre glühendste Liebe zum Ausdruck bringen, mit der sie, als sie im Haus des Vaters lebte, nicht nur die irdischen Güter, sondern unermüdlich auch sich selbst zur Ehre Gottes und zum Trost der Nächsten einsetzte? Im Zusammenhang damit wirkte Gott viele Wunder; 270/271 einmal vermehrte er den Wein im Fass, einmal das Brot im Korb; einmal schenkte sie einem Armen ihre Tunika, die ihr später der Erlöser auf seinem Rücken zeigte, geschmückt mit Perlen (Diese Tat ist in Rom an ihrem Grab dargestellt). Ein anderes Mal ging sie mit ihren Beichtvätern und Mitschwestern zu einem bestimmten Ort, und es begegnete ihr ein – wie es sich herausstellte – recht zudringlicher Bettler. Er bat sie um ein Almosen, sie aber sagte: „Mein lieber Bruder, ich habe wirklich kein Geld.“ Er erwiderte: „Ihr könnt mir ja den Mantel geben, den Ihr habt.“ Sie sagte: „Das ist wahr“, und schenkte ihm diesen auf der Stelle. Die Beichtväter, die ihr folgten, konnten den Mantel nur mit Mühe und um viel Geld von dem Armen zurückkaufen. Als sie von ihnen zur Rede gestellt wurde, warum sie bereit gewesen wäre, ohne ihr Ordenskleid zu gehen, sagte sie: „Ich will eher, dass man mich ohne Habit als ohne Liebe finde.“ Sie wussten darauf keine Antwort und bewunderten ihre Vollkommenheit.

Weil mir aber eine gewisse körperliche Schwäche dazu rät, und weil auch die laufenden Geschäfte mich beanspruchen, will ich nun meinen kunstlosen Bericht beenden. Aus dem so reichen Material könnten ja viele Bücher geschrieben werden. Ich ermahne die gottesfürchtigen Menschen, die ihre Freude daran haben, von den sichtbaren, nachahmenswerten, heilsamen und beispielhaften Tugenden dieser holden Jungfrau zu hören, aber auch von der, wie ich sagen möchte, nie gehörten Vertraulichkeit, die sie, solange sie im sterblichen Leib weilte, stets mit unserem Herrn Jesus Christus und der seligsten Jungfrau Maria, in gleicher Weise auch mit anderen Heiligen genießen durfte, nicht im Schlaf oder Traum, sondern auch körperlich und im Wachen: Lest die Lebensbeschreibung und Legende der Jungfrau, die von dem ehrwürdigsten Vater Magister Raimund von Capua, Professor der Heiligen Schrift, geschrieben und herausgegeben wurde; er war lange Zeit ihr Beichtvater und ist nach ihrem seligsten Hinscheiden zum Magister generalis seines Ordens, nämlich des Ordens der Predigerbrüder, gewählt worden. Hier wird der Leser viele nützliche und zugleich wunderschöne Dinge finden. Und mögen auch manche nörgelnde Leser, denen jede fruchtbringende Ehrfurcht fremd ist, sagen, dass er sehr weitschweifig geschrieben hat, 271/272 so müssen sich doch alle darüber ganz im Klaren sein, dass er im Vergleich zu den wirklichen Geschehnissen ihre Lebensbeschreibung, wie sie auch sein mag, sehr gekürzt hat, und was er geschrieben hat, hat er, wie ich felsenfest glaube, durch die Eingebung des Heiligen Geistes geschrieben. Dieses Wort sage ich hier unbedenklich, denn ich habe, wenn auch unverdient, lange Umgang mit ihm gehabt; so kenne ich sein nachahmenswertes Leben und die wirksamen Gaben, das Geschenk der Keuschheit, des auch in seiner äußeren Erscheinung sichtbaren Adels, seines großen Wissens und anderer Tugenden, mit denen er von unserem Herrn und Gott ausgestattet worden war. Über eines aber kann ich am Ende nicht schweigen: Er war ein inniger Verehrer der seligsten Jungfrau Maria. Das wird auch allen offensichtlich, die mit Aufmerksamkeit jene wunderschöne und fromme Abhandlung lesen, die er über das „Magnificat“ geschrieben hat. Und weil er, wie mir der fromme Glaube sagt, in das ewige Leben eingegangen ist, will ich eine Tatsache, die bisher unbekannt war, jetzt kundtun. Ich weiß genau: Schon viele Jahre zuvor, ehe er noch die oben genannte Jungfrau kannte oder sie ihn, erschien die seligste Jungfrau Maria leiblich der heiligen Jungfrau Caterina und verhieß ihr, sie würde ihr einen tiefgläubigen und frommen Mann zu ihrem Vater und Beichtvater geben, der ihr noch viel größeren Trost geben würde, als sie ihn bisher von ihren anderen Beichtvätern erlangt hätte. Und so geschah es denn auch.   

Diese wenigen Erinnerungen als Zeugnis für das Leben der heiligen Jungfrau Caterina von Siena will ich also nun Euer Ehren schicken, wie ihr mich eindringlich gebeten habt. Ich habe sie in schlichtem Stil aufgeschrieben und trotz meiner vielen Beschäftigungen mit ganz aufrichtigem Herzen diktiert. Und weil bei mir in Eurem Brief ein Wort besondere Beachtung fand, nämlich die Bitte, Euer Ehren einen wahrheitsgetreuen Bericht zu übermitteln, kann ich dieses Wort nicht unbeachtet übergehen. Keiner, vor allem kein Verständiger, soll zu der Meinung kommen, und die Aufrichtigkeit, die Ruhe und Reinheit meines Gewissens verbieten mir, dass ich wissentlich und gegen mein Gewissen in meinen Worten, welcher Art sie auch sind, etwas einfügen wollte, was der reinen Wahrheit widerspricht. Ich weiß ja, dass ein Mund, der lügt, die Seele tötet, und weder hat es Gott nötig, von uns Lügen zu hören, noch darf Böses geschehen, damit daraus etwas Gutes hervorgeht. Seid also ganz und gar versichert, dass ich mit dem oben Niedergeschriebenen die reine Wahrheit gesagt habe oder geglaubt habe, die Wahrheit aufzuschreiben. Für diese Wahrheit lege ich nicht nur, 272/273 wie Ihr gebeten habt, einen Eid ab, sondern erkläre mich bereit, in welcher gewünschten Form auch immer aufs feierlichste zu schwören. Ja noch mehr: Ich bin zur Ehre Gottes und zur Erbauung, zum Trost und Heil der Nächsten bereit, zur Bekräftigung dieser Wahrheit, wie ich sagen möchte, meine Hand ins Feuer zu legen, wie derjenige weiß, dem nichts verborgen ist. Ihm sei Lob, Ehre und Ruhm in alle Ewigkeit. Amen.

 

Zur Beglaubigung all dessen und zum Zeugnis habe ich den vorliegenden Brief schreiben und registrieren lassen, ich habe ihn durch Anbringung des Siegels des vorgenannten Kartäuserklosters verifizieren und von den unten angeführten Notaren unterschreiben lassen.

Wir, die unten genannten Notare, waren zusammen mit den unten genannten Zeugen bei jedem der oben angeführten Verfahren anwesend, als es, wie vorausgeschickt, geschehen ist, und damit dem Gesagten überall voller Glaube geschenkt werde, haben wir es hier mit dem Zeichen unserer Notariatskanzlei unterschrieben, wie unten ersichtlich ist. Gegeben und geschehen in Pavia am 26. Oktober im Jahre 1411 nach Christi Geburt, in der vierten Indiktion, im Haus des vorgenannten, an der Porta Marenga in der Pfarre S. Felice gelegenen Klosters. Anwesend waren: Herr Pietro da Resti, mit Gottes Gnaden Abt des Klosters zum heiligen Grab, bekannt unter dem Namen S. Lafranchi, Herr Lorenzo di Speculo, Rektor von S. Gabrieli in Pavia, der Presbyter Antonio da Flasci, Rektor von S. Christina in Pavia, der Presbyter Guglielmo di S. Maurizio, Kapellan von S. Trinitate, Herr Filippino da Strata, Mönch unseres Kartäuserklosters, die Brüder Giovanni und Beltramo, Konversen des oben genannten Klosters, der Eremit Bruder Guglielmo de la Plebe und noch viele andere Zeugen.

Ich, Manphynus de Sclasunatis, Sohn des verstorbenen Herrn Nycolle, amtlicher und mit kaiserlicher Bewilligung befugter Notar von Pavia, war bei jedem einzelnen der oben angeführten Verfahren anwesend, als es, wie vorausgeschickt, öffentlich kundgetan wurde. Zur Beglaubigung des oben Aufgezeichneten und öffentlich Bezeugten setze ich hier, wie oben ausgesagt, meine Unterschrift und füge zur stärkeren  Beglaubigung des oben Gesagten das übliche Siegel meiner Notariatskanzlei an.

Ich, Augustinus de Pozollo, Sohn des Ser Symon, amtlicher und mit kaiserlicher Bewilligung befugter Notar von Pavia, war bei jedem einzelnen der oben angeführten Verfahren anwesend, als es, wie vorausgeschickt, öffentlich kundgetan wurde. Zur Beglaubigung des oben Aufgezeichneten und öffentlich Bezeugten setze ich hier, wie oben ausgesagt, meine Unterschrift und füge zur stärkeren Beglaubigung des oben Gesagten das übliche Siegel meiner Notariatskanzlei an.

 

 

 

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