Verbreitung
Die Legenda Maior und ihre Verbreitung
im deutschen Sprachraum
Raimund von Capua wurde 1 ½ Wochen nach Caterinas Tod zum Generalprior des Urban-treuen Flügels des Dominikanerordens gewählt. Fünf Jahre später begann er auf Bitten und Drängen der ehemaligen Schüler und Anhänger Caterinas mit der Abfassung der Legenda, einer Darstellung über das Leben und die Tugenden seines ehemaligen Beichtkindes aus Siena. 10 Jahre lang mit mehreren Unterbrechungen arbeitete er an diesem Werk, 1395 war es endlich fertig. Nun aber musste der Text die Leser erreichen und verbreitet werden. In einer Zeit, da man die Bücher noch per Handschrift vervielfältigen musste, war dies ein mühevolles Unterfangen, das er nun vor allem zwei ehemaligen Schülern Caterinas überließ. Tommaso Caffarini hatte im Dominikanerkloster in Venedig eine eigene Schreibstube eingerichtet und sich mit Eifer dieser Aufgabe gewidmet, und auch Stefano Maconi, inzwischen Prior in mehreren Kartausen und sogar Generalprior geworden, bemühte sich, sobald er ein Exemplar erhalten hatte, mit Hilfe seines Ordens um eine effiziente Weiterverbreitung. Insgesamt 53 Handschriften der Legenda Maior sind heute noch erhalten, Raimunds Original, das zuletzt im Besitz seines ehemaliger Sekretärs Niccolò da Nocera in Apulien war, ist allerdings nicht dabei. In die wohl zeitlichste Nähe zu diesem Original ist eine heute im Generalarchiv des Predigerordens aufbewahrte Handschrift aus dem Jahre 1396-98.
Eine der frühesten Abschriften (aus dem Jahre 1398) und zugleich eine erste Prachthandschrift ist der Codex 470 im Besitz der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien.
Diese wertvolle Handschrift war vermutlich ein Geschenk von Stefano Maconi an Andreas Plank, den Kanzler und Ratgeber des frommen Herzogs Albrecht V. von Österreich zum Dank für dessen Einsatz einer observanten Reform und einer baldigen Heiligsprechung Caterinas. Andreas Plank schenkte schließlich den Codex dem von ihm gestifteten Augustiner-Chorherrenstift St. Dorothea in Wien, das sich sehr bald zu einem der vornehmsten und reichsten Klöster der Stadt entwickelte und in dem Plank auch vorwiegend wohnte.
Eine weitere frühe Handschrift der Legenda Maior aus dem Jahre 1404, die auch bei den Kartäusern entstanden ist, befindet sich heute im Besitz der Stiftsbibliothek Melk in Niederösterreich (Cod. 283).
Das Bemerkenswerte an dieser Handschrift sind die Anmerkungen bzw. Einfügungen durch Stefano Maconi, der sich als enger Vertrauter und Schüler Caterinas an einige Details noch genauer erinnert und sie auf diese Weise bestätigt hat.
Im ersten Fall (siehe Bild darunter) handelt es sich um eine Stelle aus der Legenda Maior (321). Raimund berichtet hier, wie nach dem Ende der hl. Messe und beim Ablegen seiner Gewänder der Prior der Kartause von Belriguardo in die Sakristei kam, um ihn um einen Gesprächstermin bei Caterina zu bitten. Maconi präzisiert mit dieser Anmerkung (durch seinen Schreiber), dass es sich dabei um Fra Cristoforo gehandelt habe, der dann Generalprior in Seitz war und dessen Nachfolger in Seitz nun er, Stefano Maconi, geworden sei. (Cristoforo von Florenz war 1391–1398 Generalprior in Seitz, wo er am 29. August starb. Ihm folgte bis 1410 Stefano Maconi).
Die zweite Anmerkung auf folio 94v mit Datum vom 23. Februar 1404 bestätigt, dass der Codex zur Zeit als Stefano Maconi Prior in Seitz war, hier von Iohannes de Sancto Ypolito bzw. Iohannes Goppold geschrieben wurde.
Ähnliche Einfügungen gab es auch aus dominikanischer Perspektive durch Tommaso Caffarini, der seine Ergänzungen in einem eigenen Band, dem Supplementum, veröffentlichte.
Grundsätzlich waren sowohl Tommaso Caffarini als auch Stefano Maconi zunächst bemüht, den eigenen Ordenshäusern (also den Konventen der Dominikaner und Kartäuser) eine Abschrift der Legenda Maior zukommen zu lassen, so dass sie von dort aus wieder weiterverbreitet werden konnte. Caffarini spricht von Kopien, die nach Katalonien, Sizilien und Aragonien verschickt wurden und ebenso an die Könige von England, Ungarn und Apulien (vgl. Prozess, S. 108).
Erste deutsche Übersetzungen und Kürzungen
Zweimal hatte man versucht den Gesamttext der Legenda Maior ins Deutsche zu übertragen, aber offenbar mit wenig Erfolg. Der erste Versuch war eine noch vor 1415 entstandene rheinfränkische Übersetzung, die sich im Besitz der Bibliothek des Priesterseminars in Trier befindet; und der zweite Versuch ist eine südbairische Übersetzung, die 1467 im Dominikanerkloster in Bozen entstand und heute als Cod. 205 in der Innsbrucker Universitäts-und Landesbibliothek aufbewahrt wird.
Roter Text: „Von der Nachlässigkeit der ursprünglichen Lieb, die doch Gott verhenget von Mehrung wegen der Gnad und von ir getroffen Gedult di sy hett und vil widerwertigkayt in yrem eigen Haus von irem preutigam wegen Jesu Christi. Das viert Kapitel.
Schwarzer Text (Übersetzung in der Gegenwartssprache: „Nach diesen ersten Jahren, in denen sich Caterinas Tugend so bewundernswert zu entfalten begann, wollte der allmächtige Gott die Rebe, die er jüngst in den Weinbergen von En-Gedi gepflanzt hatte, weiter emporführen …“
Ein „Geistlicher Rosengarten“
Ein weitaus größerer Erfolg war jenen „volkstümlichen“ Übertragungen beschieden, die den Text in vereinfachter Form dem Verständnis der Leserschaft anzupassen versuchten. Besonders bekannt wurde die bald nach Raimunds Tod 1399 im Nürnberger Dominikanerkloster entstandene Übersetzung mit dem Titel: Ein „Geistlicher Rosengarten“. Raimunds Text der Legenda wurde dabei zerlegt, ausgewählt und neu angeordnet und hatte im 15. Jahrhundert auf diese Weise einen bedeutenden Einfluss auf die Reform der Frauenklöster im deutschsprachigen Raum. Und zwar nicht nur im dominikanischen Milieu, sondern darüber hinaus auch unter den Laien und anderen Ordensgemeinschaften.
Das Benediktinerstift Altenburg (NÖ) besitzt einen „Geistlichen Rosengarten“ in bair-österr. Schreibsprache, der um 1470 entstanden ist.
Zum Bild oberhalb, rote Schrift, Inc. fol. 1a: „Das puech heist ein geistlicher Rosengart und ist von sand Katerina … die da gewesen ist ein himmlischer Mensch und ein irdischer Engel. Das hat gemacht und geschriben der erwürdige General des Predigerordens Bruder Raimund der tod ist und liegt begraben zu Nürnberg in der Predigerkloster.“
Der Text endet mit fol. 88b: „Die puech … ist volentet worden … in dem LXX iar von Swester Barbara, die zeit schulmeisterin.“
Nach dem Inc. fol. 1a beginnt der Text mit einer achtzeiligen grün-roten Initiale: „Es war ein man in der Statt Senensi in dem land Chusie der hies Jakobus, der was ein grechter man …“
2011 veröffentlichte Thomas Brakmann eine ausführliche Studie, in der er den Gesamttext des „Geistlichen Rosengartens“ und seinen Einfluss auf die Ordensreform und die Laienfrömmigkeit im 15. Jahrhundert ausführlich zur Darstellung bringt.
Gedruckte Ausgaben
Während zu Beginn des Buchdrucks unter den ersten internationalen Druckerzeugnissen sowohl Caterinas Schriften als auch ihre Vita, die Legenda Maior, zu finden waren, wurde der „Geistliche Rosengarten“ verhältnismäßig spät, nämlich erst 1515 (im Geburtsjahr
der hl. Teresa von Àvila und des hl. Philipp Neri), in Augsburg von Hans Otmar gedruckt
und offenbar nur ein einziges Mal aufgelegt.
Die Interessen der Leser hatten sich allmählich verändert.
Erst mit dem Aufkommen der Gegenreformation Anfang des 17. Jahrhunderts wurde die Legenda Maior unter kontroverstheologischen Gesichtspunkten wiederentdeckt.
Der Reformtheologe Ambrosius Catharinus OP (geb. 1484 in Siena) hatte im 16. Jahrhundert die Legenda Maior erneut ins Italienische übersetzt (eine erste Übertragung wurde bereits 1399 durch Neri Pagliaresi begonnen). Diese zweite italienische Übersetzung diente Hans Gassner zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges als Vorlage für eine Übersetzung ins Deutsche, die 1618/19 in Augsburg gedruckt und aufgelegt wurde unter dem Titel:
„Höchst wunderbarliches Leben und allerseligstes absterben, sowohl grosse Wunderwerk als auch gar herzliche, fürtreffliche, aller Christlichste, von Himmel geflossene Lehr, der heiligen, sonderbaren, auserwählten, geliebten Seraphischen vermählten Braut Jesu Christi, Katharinae von Siena, der dritten Regel des heiligen Dominici, Anfangs durch ihren Beichtvater Beatum Raymundum, de Capua, gewesten Generalem Sacri Ordini Praedicatorum. dess auch die anderen hinieden stehenden Authores bestettigt inn Latein beschriben, und durch F. Ambrosium Catharinum in die Welsch: An ietzo aber durch Hansien Gassner trewlich inn unser Teutsche Sprach gebracht und verfertigt. Augspurg. Mit Röm. Kays. May. Freyheit 1619.“
Der Übersetzer Hans Gassner hatte in einer Widmungsvorrede den Text der Gattin Kaiser Ferdinands II., Eleonora von Gonzaga, zugeeignet (seine erste Gemahlin, Anna von Bayern, war bereits 1616 gestorben) und die Legenda Maior damit in den Dienst der imperialen Politik des Hauses Habsburg gestellt.
1665, nach Ende des Dreißigjährigen Krieges, wurde die Übersetzung erneut aufgelegt. Achtzig Jahre später erschien eine Druckausgabe von Johann Paul Krauß in Brünn, und 1841 eine Bearbeitung von Friedrich Pösl in Passau (allerdings nur als Teilübersetzung).
In den folgenden Jahrzehnten waren es dann verschiedene Biographien, die das Leben Caterinas nachzuzeichnen versuchten und auch als deutschsprachige Übersetzungen erschienen (Hase, Drane, Capecelatro, Emil Chavin von Malan, Leonrod).
Erst 1965, als das Zweite Vatikanische Konzil zu Ende ging, erschien Raimunds Legenda nach über 190 Jahren erstmals wieder in einer neuen deutschen Übersetzung von Adrian Schenker OP in der Reihe „Heilige der ungeteilten Christenheit“. Durch die Vorgabe des Verlags musste der Text allerdings auf etwa ein Drittel gekürzt werden. Dies vor allem sowie auch die zahlreichen eigenmächtigen Umstellungen und Paraphrasierungen des Textes durch den Herausgeber trüben den Wert und die Brauchbarkeit dieser ansonsten sprachlich gelungenen Übersetzung.
Als Grundlage für die Übersetzung diente die bis dahin einzig verfügbare gedruckte lateinische Ausgabe der Bollandisten aus dem Jahre 1675.
50 Jahre lang blieb die fragmentierte Schenker-Übersetzung für deutschsprachige Leser der einzige Zugang zu Raimunds Vita. 2004 erschien dann eine erste vollständige Übersetzung
in 2 Bänden (Text und Kommentar) durch Jörg Jungmayr.
Jungmayrs Übersetzung basiert auf einer frühen Handschrift, die heute
in der Stadtbibliothek Nürnberg unter der Bezeichnung Cent. IV, 75 aufbewahrt wird.
Dieser Codex Cent. IV, 75 entstand zwischen 1405-1407 in der Schreibstube des Tommaso Caffarini in Venedig und wurde von dem dort tätigen deutschen Schreiber Georgius Alemannus eigens für das Kloster in Nürnberg angefertigt.
Fast zeitgleich mit Jörg Jungmayrs Übertragung entstand eine zweite deutsche Übersetzung auf der Textgrundlage der Acta Sanctorum. Während die zweisprachige Jungmayr-Ausgabe in Einleitung und Kommentar eine Fülle an wissenschaftlichen Details und Quellen anführt und sich durch Volumen und Bindung (offenbar nur für Bibliotheken gedacht) als wenig „lesefreundlich“ erweist, hat die zweite vollständige Veröffentlichung der Legenda, die 2006 im Rahmen der deutschen Caterina-Gesamtedition unter dem Titel „33 Jahre für Christus - Raimund von Capua, das Leben der hl. Caterina von Siena" erschien und von Josef Schwarzbauer übersetzt wurde, eine breite und allgemein interessierte Leserschaft vor Augen.
Caterinas Erhebung zur Kirchenlehrerin und Patronin Europas hat dem Interesse an Ihrer Person und ihren Schriften einen entscheidenden Auftrieb gegeben. Papst Johannes Paul II. bemerkte dazu: „Das Leben der heiligen Caterina hat sich für ihr Vaterland und die Kirche deshalb so wunderbar wirksam und fruchtbar erwiesen, weil sie dem Antrieb des Heiligen Geistes gegenüber fügsam war und vom Lehramt der Kirche geführt wurde. Dieses Beispiel möge in sehr vielen Seelen eine lebendige Bewunderung hervorrufen und auch die Sehnsucht erwecken, sie in ihren heroischen Tugenden nachzuahmen“ (Aus dem Vorwort).
2013 hat Silvia Nocentini die erste umfassende kritische Edition vorgelegt, die auf ihrem Studium der dreiundfünfzig erhaltenen Handschriften der Legenda maior beruht. Damit wird die bisherige Standardausgabe des Bollandisten Daniel Papebroch (in Acta Sanctorum April, Bd. 3 [1675]: 853-959), der den Text der editio princeps (Köln, 1553) mit einem einzigen ihm zugänglichen Manuskript zusammenstellte, nach 400 Jahren abgelöst.
Der Covertext auf der Rückseite fasst Raimunds Werk mit folgenden Worten zusammen:
„Die Legenda maior ist die erste Hagiographie über Katharina von Siena und ein Text von grundlegender Bedeutung für das Studium der mittelalterlichen und modernen Spiritualität.
Sie wurde im Laufe von zehn Jahren, von 1385 bis 1395, von ihrem letzten Beichtvater Raimondo da Capua verfasst, der einen hagiografischen Kanon schuf, in dem die irdische Geschichte der Heiligen durch ein theologisches Konzept bereichert wird, das sich an der starken Spiritualität Katharinas nährt, an der Mystik orientiert und von der gelehrten dominikanischen Tradition geprägt ist.
Dem großen Dominikaner Raimondo gelingt es, eine lebendige Erzählung zu verfassen und den Leser, auch den modernen Leser, in das dichte Geflecht der Ereignisse einzubeziehen. Die Absicht des Autors war es, die Heiligsprechung Katharinas zu erreichen, aber sowohl er als auch die Förderer des Kultes, der Dominikaner Thomas d'Antonio von Siena (Caffarini) und der Kartäusermönch Stefano Maconi, gingen weit über diese Zielsetzung hinaus, indem sie mit dem Katharina-Modell auch die nachfolgende Generation unterstützten, die im Schatten der Observanz aufgewachsen war. Die Eindringlichkeit des Textes und seine lange Entstehungszeit haben ihm den Beinamen Prolixa oder Major eingebracht, was zeigt, wie schwierig es für Katharinas Beichtvater, aber auch für ihre Schüler und Sekretäre war, die göttliche Erfahrung, die die Heilige aus Siena und damit auch sie selbst gemacht hatten, mit den für die Hagiographie ihrer Zeit angemessenen Mitteln darzustellen.”