Raimund von Capua
Die heilige Caterina von Siena starb am 29. April 1380 in Rom im Alter von 33 Jahren. Fünf Jahre später begann ihr ehemaliger Seelenführer und Berater, der Dominikaner Raimund von Capua, mit der Niederschrift ihrer Biographie.
Raimund wurde um 1330 in Capua geboren und entstammt der altadeligen Familie De Vineis (delle Vigne), die berühmt war durch ihre Rechtsgelehrten, vor allem aber durch Pier delle Vigne, den Kanzler Kaiser Friedrichs II. (Pier delle Vigne wurde des Verrats beschuldigt und nahm sich daraufhin das Leben. Dante hat ihn in seinem 7. Kreis der Hölle verewigt, wo er, an einem Baumstumpf gefesselt, seine Erlebnisse erzählt (Inferno, canto XIII, 58–75).
Raimunds Vater war Jurist und Berater des Königs, und so wurde auch sein Sohn für die Advokaten-Laufbahn bestimmt. Er studierte zunächst kanonisches Recht in Bologna, trat aber dann zwischen 1345 und 1348 in Orvieto bei den Dominikanern ein. Nach weiteren Jahren des Studiums – seine Priesterweihe war um 1355 – wurde er Lektor in Rom und Bologna und ab 1363 Rektor bei den Dominikanerinnen von Sant´Agnese in Montepulciano. Aufgrund seiner besonderen Neigung für Hagiographie und Mystik begann er in dieser Zeit mit der Lebensbeschreibung der Gründerin (vgl. U. Boscaglia, Hg., B. Raimondo da Capua O.P., Sant´Agnese da Montepulciano, Siena 1983) und vollendete dieses Werk drei Jahre später, am 20. April 1363, zusammen mit einem Kommentar zum Magnificat. Nach diesem fast vierjährigen Aufenthalt bei den Schwestern wurde er 1367 nach Rom berufen und Prior des Dominikanerklosters Santa Maria sopra Minerva – ein Amt, das er dort elf Jahre später noch einmal ausüben sollte. Es folgen Jahre vielfältiger Lehr- und Predigttätigkeit, bis wir ihn schließlich im Konvent von Santa Maria Novella in Florenz wieder antreffen.
Hier wurde zu Pfingsten 1374 jenes bekannte Generalkapitel seines Ordens abgehalten, das sich erstmals auch mit Caterina von Siena beschäftigte. Ihre Anwesenheit in Florenz zu dieser Zeit ist durch ein Dokument klar bezeugt. Eine Vorladung oder gar Prüfung ihrer Rechtgläubigkeit, wie vielfach behauptet wird, lässt sich nicht nachweisen, ebensowenig ob Raimund selbst auf dem Kapitel dabei gewesen ist. Die Protokolle dieses Generalkapitels sind verschollen. Es ist aber nicht anzunehmen, dass Caterina vor das Generalkapitel „zitiert” wurde, wenn man bedenkt, dass sie mit Gregor XI. bereits brieflich in Verbindung stand (vgl. ihre diesbezügliche Bemerkung in Brief 127) und der Papst Bischof Alfonso da Vadaterra zu ihr sandte mit der Bitte um ihr Gebet und ihr dafür als Zeichen seines Wohlwollens einen Ablass gewährte.
Entscheidend war jedenfalls jene glückliche Verfügung des Generalmagisters Élias de Toulouse, wodurch Raimund beauftragt wurde, sich in besonderer Weise um die Dominikanerterziarin Caterina von Siena zu kümmern und sie und ihre Gefährtinnen – nicht als Aufpasser, sondern zu ihrem persönlichen Schutz –, zum größeren Nutzen des Ordens und zum Wohl der Christenheit zu leiten. Es existiert noch ein von Papst Gregor XI. unterzeichnetes Schriftstück, mit Datum vom 17. August 1376, das an Raimund adressiert ist und – wenn auch erst zwei Jahre später – den Beschluss des Generalkapitels von Florenz aufgreift und bestätigt. Darin heißt es, Raimund solle die Führung Caterinas übernehmen und ebenso der Mitschwestern, „die Du [Raimondo] und Caterina (!) zur Ehre des genannten Ordens auswählen sollt” (vgl. Dokumente XIV). Damit wurde sie von den Verdächtigungen und Widerständen aus ihrer Umgebung befreit, sodass sie die Möglichkeit bekam, ihre großzügigen und wohltätigen Aktivitäten weiter auszudehnen.
Dass Raimund zudem Caterinas Beichtvater werden sollte, schien ihrer eigenen Wahl zu entsprechen. Caffarini berichtet uns in seinem Supplementum, dass die Gottesmutter ihr einen Hinweis gegeben habe (vgl. Supplementum III, 6, 1: „Als der erste Beichtvater sah, dass der ihm anvertraute Schatz für seine Kräfte zu groß war, überließ er ihn, wie der Herr es wollte und die Gottesmutter es besonders bewirkte, einem anderen, durch Wissenschaft und Lebensführung angesehenen Beichtvater. Es war Bruder Raimund von Capua, ebenfalls aus dem Predigerorden, den auch die Gottesmutter der Jungfrau verheißen hatte, als sie ihr einige Zeit davor erschienen war.“)
Raimund und Caterina
Wann und bei welcher Gelegenheit die erste Begegnung zwischen der damals 27-jährigen Caterina und dem etwa 44-jährigen Dominikaner stattfand, lässt sich nicht mehr feststellen. Wir wissen nur, dass Raimund aufgrund seiner Ernennung zum Studienleiter von San Domenico im August 1374 in Siena war. Die Stadt erlebte wieder ein furchtbares Pestjahr, und Raimund, der bisher ein relativ ruhiges Leben als Professor und Prediger geführt hatte, fühlte sich plötzlich gefordert. Er sah das Leid, die unfassbare Not und das Elend der Menschen, und er sah auch, wie jene junge Terziarin, deren Beichtvater er werden sollte, ohne Rücksicht auf ihre eigene Gesundheit die Pestkranken pflegte und sich um sie sorgte. Durch dieses heroische Beispiel angetrieben, überwand er seine inneren Hemmungen und Widerstände: „Ich war gezwungen“, schreibt er, „mich der Gefahr für mein Leben auszusetzen ..., und da die Jungfrau (Caterina) mich dazu bewog, nahm ich mir vor, so viele, als ich nur konnte, zu stärken und zu trösten“ (Legenda Maior 254).
Caterina war für Raimund gewiss keine Unbekannte gewesen. Er hatte schon damals bei den Schwestern in Montepulciano durch den Besuch seiner Mitbrüder und vor allem durch Frau Tommaso dalla Fonte von ihr gehört (Legenda Maior 282). Dennoch stand er ihr jetzt als ihr neuer Beichtvater zunächst misstrauisch gegenüber. Wörtlich schreibt er: „Du sollst wissen, lieber Leser, dass ich am Anfang, nachdem ich manch Ruhmvolles über sie gehört hatte und mit ihr vertraut zu werden begann, eher ungläubig war ... Ich suchte alle Mittel und Wege, um zu entdecken, ob ihre Handlungen von Gott waren oder nicht, ob sie wahr oder vorgetäuscht waren“ (Legenda Maior 87). Diese skeptische Einstellung Raimunds gegenüber Caterina wurde aber mehr und mehr überwunden (Legenda Maior 87–89). Als er dann selbst die Pest bekam und Caterina seinem kranken Leib die volle Gesundheit erflehte, heilte sie dadurch seine Seele vom Rest des noch vorhandenen Misstrauens.
Nach und nach lernte Raimund Caterina immer besser kennen und verstehen. Sie erzählte ihm ihr Leben und vertraute ihm ihre persönlichen Geheimnisse an. Er bewunderte ihr Streben nach Vollkommenheit, nahm sie gegenüber Kritikern in Schutz, verstand ihre Sehnsucht nach der Eucharistie und gab ihr die Erlaubnis zur täglichen heiligen Kommunion. Er erkannte ihre außergewöhnliche Persönlichkeit, die nicht mit dem gewöhnlichen Maß zu messen war. So missbrauchte er auch nicht ihren Gehorsam, sondern ließ ihr die Freiheit zu ihren asketischen Übungen, indem er versuchte, die Gründe zu verstehen. Er war umsichtig, wo sie zu streng sein wollte, aber er demütigte nicht die Glut ihrer Liebe. Zu sehr waren beide eines Sinnes, wenn auch in unterschiedlichem Maße, da er sich, wie Raimund bekannte, „ihrem Geist weit unterlegen” wusste (Legenda Maior 62).
Als juristisch gebildeter und thomistisch geschulter Theologe war Raimund dennoch ihr unentbehrlicher Ratgeber und Begleiter in diesen letzten sechs Jahren vor ihrem Tod, die zu den fruchtbarsten und ruhmvollsten ihres Lebens gehörten. Durch ihn erhielt sie Kenntnis von den komplizierten Zusammenhängen des kirchlichen und politischen Lebens, und es war wohl auch seinen Beziehungen und diplomatischen Kontakten zu verdanken, dass sich Caterinas Wirkungskreis so vergrößern konnte, wie dies zur Erfüllung ihrer Sendung notwendig war. Ihr Bemühen für den Frieden, für die Rückkehr des Papstes nach Rom, für den Kreuzzug und die Erneuerung der Kirche trägt im Hintergrund immer auch die Handschrift Raimunds. Wie groß aber dieser Einfluss tatsächlich war, den die weise und kluge Mitarbeit des Beichtvaters auf die einzigartige Tätigkeit der Heiligen ausgeübt hat, wird man wohl niemals feststellen können. Eher schon jenen, den Caterina bei Raimund bewirkte. Denn obwohl er ihr geistlicher Leiter und Vorgesetzter war, wusste er sich doch zugleich auch als der von ihr Geführte und nannte sie so wie ihre anderen Jünger ebenfalls „Mutter“.
Für Caterina schien dies selbstverständlich zu sein. Im sicheren Bewusstsein ihrer Sendung und Aufgabe war Raimund zwar der verehrte Priester und Führer ihrer Seele, ihr „liebster und teuerster Vater“, aber immer auch (obwohl er um siebzehn Jahre älter war) ihr „lieber Sohn in Jesus Christus“, der ihr „von der lieben Mutter Maria anvertraut wurde“ (Brief 211, 226, 373). Deshalb mahnte sie ihn zur treuen Einhaltung des Chorgebetes (Brief 104), zur täglichen Feier der heiligen Messe (Brief 373), zu einem stets vorbildlichen priesterlichen Lebenswandel (Brief 373), zur Strenge gegen sich selbst und zum Mitleid gegenüber der Kirche (Brief 373), zur regelmäßigen Beichte: „wenn Ihr untreu geworden seid, dann tauft Euch erneut im Blute“ (Brief 102), zum mutigen Kampf gegen Versuchungen (Brief 211 und 267), zur Geduld, die das Mark der Liebe ist (Brief 104), und immer wieder zum seelsorglichen Eifer: „Achtet darauf, dass ihr keine Mühen scheut“ (Brief 100), sondern „strengt Euch an für die Kirche, denn sie braucht es jetzt mehr denn je“ (Brief 373). Und wenn er – aufgrund seiner etwas ängstlichen Natur – zu diplomatisch und vorsichtig agieren wollte, dann drängte sie ihn mutig vorwärts: Fürchtet Euch nicht! „Ihr seid ein Mann, wenn ihr versprecht, für die Ehre Gottes zu arbeiten und dulden zu wollen. Seid mir aber kein Weib, wenn es dann gilt, dies auch in die Tat umzusetzen“ (Brief 244).
Raimund besaß die Größe, sich das alles sagen zu lassen. Wenn man die sechzehn uns erhaltenen Briefe, die Caterina an ihn gerichtet hat, liest, weiß man am Ende nicht, was man hier mehr bewundern soll: die spirituelle Glut und den Freimut, mit dem Caterina ihrem Seelenführer schrieb, oder die Demut, mit der er alles angenommen hat. Sie tadelte ihn, weil er in ihren Augen zu ängstlich war und die Bereitschaft zum Martyrium vermissen ließ: „Ihr wart noch ein Milchkind und kein Mann, ihr wart nicht würdig, auf dem Schlachtfeld zu stehen“ (Brief 344), und eröffnet ihm zugleich – wie niemand anderem sonst – die letzten Tiefen ihrer Seele: „Ihr wisst“ schreibt sie, „dass ich Euch gewogen bin und Euch unschätzbar liebe um Eures Heiles willen ... Wenn ich Euch Eure Fehler gezeigt habe, so freut Euch dabei und dankt dem gütigen Gott, der für Euch bestimmt hat, dass jemand an Euch arbeitet und über Euch wacht vor Gottes Angesicht“ (Brief 344). Es war eine Herzensfreundschaft, wie sie nur zwischen besonders edlen Charakteren bestehen kann und wie wir sie etwa zwischen Franziskus und Klara, zwischen dem seligen Heinrich Seuse (†1366) und Elsbeth Stagel von Töss,6 zwischen der seligen Margareta Ebner (†1351) und Heinrich von Nördlingen,7 oder zwischen dem heiligen Franz von Sales und der heiligen Johanna Franziska von Chantal beobachten können.
Caterina vermisste Raimunds Abwesenheit immer wieder schmerzlich. Sie hatte Tränen in den Augen, als sie in Ostia am Ufer stand und sein Schiff abfahren sah (Legenda Maior 336). Aber dennoch war es eine Beziehung, die nur in der gemeinsamen Liebe zu Jesus Christus ihren tragenden Grund besaß: „Löst Euch von jeglicher Anhänglichkeit an die Geschöpfe“, mahnte sie ihn, „ich selbst sei dabei die erste“ (Brief 102).
Caterina hatte Raimunds Leben und seine Tätigkeiten mitgeprägt und mitbestimmt: Er begleitete sie auf ihren Reisen nach Florenz, Pisa, Lucca, auf die Insel Gorgona, er zog ihr voraus nach Avignon, war dort bei Papst Gregor XI. ihr Dolmetscher und half ihr beratend und ermutigend bei ihren großen Friedensbemühungen und bei der Rückführung des Papsttums nach Rom. Nach Gregors Tod und dem Ausbruch des Schismas wurde Caterina nach Rom berufen, um hier mit Raimund für die Anerkennung des neuen römischen Pontifex zu kämpfen. Als Raimunds Versuch, zum französischen König Karl V. zu gelangen, um ihn für Papst Urban VI. zu gewinnen, scheiterte, wurde er angewiesen, in Genua zu bleiben und dort den Kreuzzug gegen die Schismatiker zu predigen. Während dieser Zeit wurde Raimund Provinzial der Lombardischen Ordensprovinz (1379) und ein Jahr später auf dem Generalkapitel in Bologna mit der Gesamtleitung des Ordens römischer Obödienz betraut, während sein Amtsvorgänger, Élias de Toulouse, in Lausanne das Amt des Generalmagisters der französischen Obödienz übernahm.
Raimund konnte zwar beim Sterben Caterinas am 29. April 1380 in Rom nicht anwesend sein (gerade an diesem Tag war er von Genua aus zum Generalkapitel nach Bologna aufgebrochen, das dort am 12. Mai begann), aber von nun an sollte er neunzehn Jahre lang – ganz im Geist seines verehrten und geliebten Beichtkindes – als 23. Generalmagister den Dominikanerorden leiten und sich um die Erneuerung bemühen, deren Richtlinien ihm Caterina in den Jahren seines Beisammenseins mit ihr aufgezeigt hatte und für die er selbst sein Werk „De reformatione religiosa“ verfasste. Ab 1388 unterstellte er die Reformkonvente dem Generaloberen und stärkte dadurch die Observanz besonders in Italien, in Böhmen, Ungarn und Deutschland. (Das 1388 in Wien abgehaltene Generalkapitel, das durch den Caterina-Schüler Bartolomeo Dominici in Vertretung Raimunds geleitet wurde, beschloss auf Antrag Konrads von Preußen, mit der Reform des Ordens zu beginnen. Ein Jahr später, 9 Jahre nach Caterinas Tod, entstand durch Konrad der erste Reformkonvent in Colmar. In Italien begann Giovanni Dominici mit der Reform in Venedig unter Mithilfe der Caterina-Schüler Tommaso Caffarini, Bartolomeo Dominici, Matteo di Tolomei, Simone da Cortona u.a.).
Raimund förderte auch die Bildung von dominikanischen Laiengemeinschaften und erreichte für den Orden die Einführung des Festes „Maria Heimsuchung“. In diesen Jahren (1385) begann er auch auf Drängen seiner Mitbrüder, die zum Jüngerkreis Caterinas zählten (besonders Fra Tommaso Caffarini), mit der Abfassung der Legenda Maior. Nach zehn Jahren vollendete er 1395 das Werk, in dem er alle eigenen Erinnerungen, Notizen und Aufzeichnungen über Caterina nach sorgfältiger Prüfung und bestem Wissen und Gewissen verarbeitet hat. Mehrmals war ihm von Papst Urban VI., dessen volles Vertrauen er besaß, und von Papst Bonifatius IX. die Bischofs- bzw. Kardinalswürde angeboten worden. Er lehnte in Demut ab, um ganz Ordensmann zu bleiben. Raimund starb im Verlaufe einer seiner vielen Visitationsreisen am 5. Oktober 1399 in Nürnberg im Alter von neunundsechzig Jahren. Der Leib dieses Ordenspriesters, der als Seliger verehrt wird (Papst Leo XIII. hat am 15. Mai 1899 den Kult bestätigt), ist in der Kirche San Domenico in Neapel beigesetzt.