Bedeutung
Die Legenda Maior des Raimund von Capua
Die sogenannte Legenda Maior ist der wichtigste, vollständigste und gültigste Bericht über Leben und Wirken der heiligen Caterina von Siena. Er wurde bald nach ihrem Tod in den Jahren 1385–1395 von ihrem Beichtvater, dem späteren Generalmagister der Dominikaner, Raimund von Capua, verfasst und dann vor allem von den beiden Schülern Caterinas, dem Dominikaner Tommaso Caffarini und dem Kartäuser Stefano Maconi mit leidenschaftlichem Eifer in ganz Europa verbreitet.[1] Ziel dieser Bemühungen war es, mit der Förderung und Verbreitung ihres Kultes[2] zugleich auch die innerkirchliche Reformbewegung nachhaltig zu unterstützen.[3] Dabei wurde (wie aus der Existenz der Handschriften in den verschiedensten Klöstern ersichtlich wird) Caterina vor allem dort gelesen und bereitwillig aufgenommen, wo man um einen echten Geist der Erneuerung bemüht war.
Als 1450 die Buchdruckerkunst aufkam, waren Caterinas Werke und Raimunds Legenda Maior bereits so bekannt und allseits verbreitet, dass sie zu den ersten und beliebtesten Druckerzeugnissen gehörten. Heute gibt es längst Übersetzungen in alle großen Weltsprachen. Was lange Zeit noch fehlte, war eine vollständige deutsche Ausgabe.[4] Diese Lücke wurde inzwischen im Jahr 2006 mit der Veröffentlichung der von Josef Schwarzbauer besorgten Übersetzung geschlossen. Dass dies fast zeitgleich durch Jörg Jungmayr geschehen ist (2004), zeigt das wieder aufkommende Interesse an diesem Werk.[5]
Die Heiligen sind nicht Erinnerungen an eine vergangene Geschichte, sondern authentische Zeugen für die stets wirksame Gnade Gottes. Wenn Caterina bereits einmal die innerkirchliche Reform nachhaltig unterstützt hat, so könnte das Kennenlernen ihrer Werke und ihres beispielhaften Lebens auch ein Impuls für die Gegenwart sein. Die Ernennung Caterinas zur Kirchenlehrerin und ihre Erhebung zur Patronin Europas durch das oberste Lehramt der Kirche weisen in diese Richtung. Papst Johannes Paul II. schrieb diesbezüglich: „Das Leben der heiligen Caterina hat sich für ihr Vaterland und die Kirche deshalb so wunderbar wirksam und fruchtbar erwiesen, weil sie dem Antrieb des Heiligen Geistes gegenüber fügsam war und vom Lehramt der Kirche geführt wurde. Dieses Beispiel möge in sehr vielen Seelen eine lebendige Bewunderung hervorrufen und auch die Sehnsucht erwecken, sie in ihren heroischen Tugenden nachzuahmen.”[6]
[1] Während sich Caffarini mit Hilfe seines Ordens von Venedig aus fast vierzig Jahre lang um die Verbreitung ihrer Schriften bemühte, mobilisierte Stefano Maconi (als Prior von Mailand und dann als Generalprior in Seitz) die Kartäuser, wobei er „den Ruf des heiligmäßigen Lebens und der Lehre der Jungfrau nach Kräften kundtat” und Raimunds Legenda „überall in seinem Orden verbreiten ließ und für ihre Vervielfältigung sorgte.” (Suppl. III, 6, 14–15).
[2] Caterinas Heiligsprechung erfolgte durch Papst Pius II. im Jahre 1461.
[3] Andreas Plank, der Erzieher und Kanzler Herzog Albrechts V. von Österreich, schenkte dem im Jahre 1414 als Reformkloster neu gegründeten Augustiner-Chorherrenstift St. Dorothea in Wien einen Prachtcodex der Legenda Maior, der sich heute in der Wiener Nationalbibliothek befindet (Cod. 470. 260 Bll.). An diesem Beispiel wird sichtbar, welche Bedeutung die landesherrliche Kirchenpolitik einem Text wie dem der Legenda Maior bei der Durchführung der Klosterreform beimaß (vgl. JJ. I, Einleitung, l).
[4] Die in der Reihe „Heilige der ungeteilten Christenheit” von Walter Nigg und Wilhelm Schamoni herausgegebene Übersetzung von Adrian Schenker OP (Düsseldorf 1965) ist nur eine mit zahlreichen Paraphrasen durchsetzte Teilübersetzung.
[5] Jörg Jungmayr, Die Legenda Maior (Vita Catharinae Senensis) des Raimund von Capua. Edition nach der Nürnberger Handschrift Cent. IV, 75, Übersetzung und Kommentar (zweisprachige Ausgabe). 2 Bde. Berlin 2004.
[6] Johannes Paul II., Amantissima Providentia, Apostol. Schreiben vom 29. April 1980 zum 600. Jahrestag des Heimgangs der hl. Caterina von Siena, in: AAS LXXII (1980) 569–581.