Niccolo Toldo
Caterina berichtet in einem Brief von einer Vision, die ihr bei der Enthauptung des Niccolo Toldo zuteil wurde. Tommaso Caffarini, der nach eigenen Angaben ebenfalls anwesend war, bezeugt: „Mit ihren heiligen Händen empfing sie das Haupt. Dabei blickte sie mit ihren Augen unverwandt zum Himmel empor und verweilte lange Zeit in dieser Stellung. Und jeder wunderte sich darüber.“ Und er schließt diesen Bericht mit der Bemerkung: „Wir besitzen einen wunderbaren Brief über dieses Ereignis“ (Tommaso Caffarini, Legenda Minor, II, 7).
In diesem Brief 273 beschreibt Caterina, was sie am Himmel sah:
Da wurde der Gottmensch sichtbar, strahlend wie das Licht der Sonne. Er stand mit geöffneter Seitenwunde da und nahm das Blut – in dem ein Funken heiliger Sehnsucht glühte (die die Gnade in seiner Seele entzündet und bewahrt hatte) – zu seinem Blut und barg es im Feuer seiner göttlichen Liebe. Und nachdem er sein Blut und seine Sehnsucht aufgenommen hatte, empfing er auch seine Seele und nahm sie hinein in seine geöffnete Seitenwunde, in die Schatzkammer seiner Barmherzigkeit. Dadurch offenbarte die göttliche Wahrheit, dass sie ihn nur aus Gnade und Erbarmen aufgenommen hatte und nicht um irgendeines anderen Werkes willen.
O wie unsagbar süss war es, die Güte Gottes zu betrachten! Mit welcher Zärtlichkeit und Liebe erwartete sie jene Seele, als sie vom Leib getrennt wurde – indem sich ihr das Auge seines Erbarmens zuwandte – und dann in die Seitenwunde einzog, gebadet im eigenen Blute, das durch das Blut des Gottessohnes aufgewertet worden war.
So also wurde er von Gott in Empfang genommen (denn seine Allmacht ist groß genug, das zu tun), und der Sohn, die Weisheit, das fleischgewordene Wort, beschenkte diese Seele und ließ sie teilhaben an der gekreuzigten Liebe, mit der er seinen schmerzlichen und schmachvollen Tod aus Gehorsam gegen den Vater zum Nutzen der Menschennatur und des Menschengeschlechtes ertragen hatte. Und die Hände des Heiligen Geistes schlossen ihn dort ein. Er aber vollbrachte einen so zarten Akt der Liebe, dass er dadurch tausend Herzen mit sich fortreißen
könnte (wobei ich mich darüber gar nicht wundere, da er bereits die göttliche Süßigkeit verkostete): Er wandte sich um wie eine Braut, wenn sie an der Schwelle ihres Bräutigams angekommen ist, genauso drehte er sein Haupt und blickte zurück, um die zu grüßen, die ihn begleitet hatte, und ihr dadurch ein Zeichen des Dankes zu geben.
Als man seinen Leichnam weggeschafft hatte, ruhte meine Seele in Frieden und Ruhe und in solchem Duft des Blutes, dass ich mich nicht entschließen konnte, das Blut abzuwaschen, das von ihm auf mich gespritzt war.18 Ach, ich Arme, Unglückliche! Ich will weiter nichts mehr sagen. Ich blieb auf der Erde zurück und konnte ihn nur tief beneiden.
(Caterina von Siena, Brief 273 an Raimund von Capua, Juni 1375)
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