Mystischer Tod
Raimund von Capua, Legenda Maior 213 –216
Was soll ich noch mehr sagen? Was verweile ich länger bei diesem Gedanken? Die Kraft jener Liebe war so groß, dass das Herz der Jungfrau von oben bis unten entzweibrach, das heißt von einem Ende bis zum anderen. So zersprangen ihre Lebensadern, und sie hauchte durch die übermächtige Liebe zu Gott ihr Leben aus; keine andere, natürliche Ursache konnte das bewirken. Du wunderst dich, lieber Leser? Du sollst wissen, dass es dafür viele Zeugen gab und gibt, Männer und Frauen, die anwesend waren, als sie das Leben aushauchte. Sie haben es mir zuerst berichtet, und ihre Namen werden unten genannt werden.
Ich selbst war zunächst im Zweifel. Ich ging zu ihr und fragte sie unmissverständlich, was sie selbst darüber denke, und bat sie inständig, mir darüber die volle Wahrheit zu sagen. Sie brach in lautes Schluchzen aus und zögerte lange, mir eine Antwort zu geben. Nach einer Weile endlich sagte sie: „Vater, habt Ihr kein Mitleid mit einer Seele, die aus dem finsteren Kerker befreit war, das strahlendste Licht gesehen hat und dann wieder in die gewohnte Finsternis eingeschlossen wurde? Ich bin jene Unselige, die das erleiden musste! So hat es aber die göttliche Vorsehung wegen meiner Vergehen gewollt.“
Als ich das hörte, wurde mein Wunsch noch größer, aus ihrem Mund den wahren Ablauf dieser so wunderbaren Begebenheit zu erfahren. Aus diesem Grund fragte ich aufs Neue: „Ist denn deine Seele, ehrwürdige Mutter, wirklich vom Leib getrennt gewesen?“ Sie erwiderte: „Das Feuer der göttlichen Liebe und der Sehnsucht, mit dem eins zu werden, den ich liebte, war so groß, dass selbst ein Herz aus Stein oder Eisen gespalten oder geöffnet worden wäre. Nichts Geschaffenes, glaube ich, hätte so stark sein können, dass es mein Herz gegen einen solchen Sturm der Liebe unversehrt hätte bewahren können. Nehmt also als sicher an, dass das Herz dieses schwachen Leibes durch die reine, unwiderstehliche Macht der Liebe von oben bis unten gespalten und völlig geöffnet wurde. Noch jetzt glaube ich die Wundmale jenes Risses am Körper zu spüren. Daran könnt Ihr klar erkennen, dass die Seele völlig vom Leib getrennt war. Ich habe die Geheimnisse Gottes gesehen, die keinem irdischen Pilger kundgetan werden können, denn weder ist das Gedächtnis stark genug, noch können menschliche Worte ausreichen, so große Dinge gebührend aufzuzeigen; was immer ich sagen würde, es wäre alles Lehm statt Gold. Das jedoch ist mir geblieben: Immer wenn ich darüber reden höre, werde ich bei dem Gedanken, wie tief mein Abstieg von jenem erhabensten zu diesem verächtlichsten Stand war, so heftig erschüttert, dass ich nur mit Tränen und Schluchzen meinen Schmerz ausdrücken kann.“
214. Als ich das gehört hatte, wollte ich im Einzelnen den Ablauf der Ereignisse erfahren. Ich sagte daher: „Meine Mutter, du hast mir doch bisher so manch andere deiner Geheimnisse enthüllt, ich bitte dich inständig, verheimliche auch dieses Geheimnis nicht vor mir, sondern berichte mir gütig den Verlauf dieses so wunderbaren Geschehens.“ Darauf erwiderte sie: „Nachdem mich der Herr in jenen Tagen mit zahlreichen geistigen und leiblichen Visionen getröstet hatte, fiel ich, bezwungen von reiner Liebe zu ihm, ermattet auf mein Lager; hier flehte ich ihn unaufhörlich an, er möge mich von diesem sterblichen Leib befreien, damit ich mich vollständig mit ihm vereinen könne. Wenn mir auch diese Bitte jetzt nicht erfüllt wurde, so erwirkte ich schließlich doch, dass er mir, soweit es für mich möglich ist, Anteil an seinem Leiden gab.“
Dann erzählte sie mir über das Leiden des Erlösers, worüber ich oben genauer berichtet habe. Schließlich fügte sie noch hinzu: „Aus dieser Erfahrung mit seinem Leiden erkannte ich klarer und vollständiger, wie sehr mich mein Schöpfer geliebt hat. So wuchs auch meine Liebe, und ich wurde so schwach, dass meine Seele nichts anderes mehr verlangte, als den Leib zu verlassen. Was brauche ich noch mehr zu sagen? Er, der das Feuer in mein Herz gesenkt hatte, entfachte es von Tag zu Tag mehr; das Herz meines Leibes ermattete, und die Liebe war stark wie der Tod. Mein Herz brach, wie gesagt, und trennte sich von diesem Leib, aber leider nur für allzu kurze Zeit!“ Ich fragte: „Wie lange, meine Mutter, war deine Seele fern vom Leib?“ Sie erwiderte: „Die Frauen, die bei meinem Tod anwesend waren, sagen, dass vier Stunden vergingen zwischen dem Aushauchen der Seele und meiner Wiederbelebung, und es sei eine große Zahl von Nachbarinnen herbeigeströmt, um meine Mutter und die anderen Angehörigen zu trösten. Meine Seele aber dachte nicht an eine Zeit, denn sie glaubte, in die Ewigkeit eingegangen zu sein.“
215. Ich fragte: „Was hast du, meine Mutter, während dieser Zeit gesehen? Und warum ist deine Seele wieder zum Leib zurückgekehrt? Ich beschwöre dich, verheimliche mir nichts.“ Sie entgegnete: „Ihr sollt wissen, mein Vater, dass meine Seele alles gesehen und erkannt hat, was es in der anderen, uns unsichtbaren Welt gibt, etwa die Herrlichkeit der Heiligen und die Strafen der Sünder. Doch, wie ich sagte, das Gedächtnis fasst es jetzt nicht, und die Worte sind zu schwach, alles auszudrücken. Soviel es mir aber möglich ist, werde ich es Euch sagen. Nehmt es also als sicher an, dass meine Seele das Wesen der Gottheit gesehen hat. Das ist auch der Grund, warum mir der Aufenthalt in diesem Kerker des Leibes so schwer fällt; und ich würde vor Trauer vergehen, wenn mich nicht die Liebe zu ihm und zum Nächsten festhielte. Um dieser Liebe willen hat er mich wieder in den Leib zurückgesandt. Mein größter Trost aber ist, wenn ich etwas Schlimmes erleide, weil ich weiß, dass ich durch dieses Leiden eine vollkommenere Schau Gottes haben werde. Deshalb sind mir die Drangsale nicht nur nicht drückend, sondern meinem Herzen sogar erfreulich, wie Ihr und andere, die ihr mit mir Umgang habt, täglich erkennen könnt.”
„Ich habe auch die Strafen der Verdammten gesehen und die Leiden derer, die im Fegefeuer sind. Sie können mit keinem Wort ausreichend geschildert werden, und wenn die unseligen Menschen auch nur die geringste jener Qualen sehen könnten, würden sie lieber zehn leibliche Tode wählen, wenn es möglich wäre, als auch nur die kleinste Qual für einen Tag erleiden. Insbesondere habe ich die Strafen derjenigen gesehen, die in der Ehe gesündigt haben, indem sie nicht die versprochene Treue hielten, sondern ihren leiblichen Begierden nachgingen.“
Als ich sie fragte, warum gerade diese Sünde, die doch nicht schwerer ist als andere Sünden, so hart bestraft werde, antwortete sie: „Weil ihnen diese Sünde nicht so bedeutsam erscheint und sie daher auch keine großen Gewissensbisse haben, wie das bei anderen Sünden der Fall ist, wird sie auch öfter und vielfältiger begangen.” Und sie fügte hinzu: „Diese Schuld, selbst wenn sie klein ist, ist besonders gefährlich, weil der, der sie auf sich lädt, sich nicht darum kümmert, sie durch Buße zu tilgen.“
216. Danach fuhr sie weiter fort: „Als meine Seele dies alles erblickte, sagte der ewige Bräutigam, den ich nun ganz zu besitzen glaubte, zu mir: ‚Siehst du, welcher Herrlichkeit diejenigen beraubt werden, die Mich beleidigen, und wie groß die Strafe ist, die sie erleiden? Kehre also zurück und halte ihnen ihren Irrtum und auch die Gefahr und ihre Strafe vor Augen!‘ Und da meine Seele vor dieser Rückkehr den größten Schauder empfand, fügte der Herr hinzu: ‚Das Heil vieler Seelen verlangt deine Rückkehr. Du wirst aber nicht mehr ein Leben führen wie bisher, noch wird dir künftig deine kleine Zelle als Wohnort dienen, vielmehr wirst du zum Heil der Seelen sogar deine Heimatstadt verlassen müssen. Ich aber werde immer mit dir sein, Ich werde dich führen und zurückführen. Du wirst die Ehre Meines Namens und die heilbringenden Lehren vor die Kleinen und die Großen bringen, vor Laien, Kleriker und Ordensleute, denn Ich werde dir eine Stimme und eine Weisheit geben, der niemand widerstehen kann. Ich werde dich auch zu den Päpsten führen, zu den Lenkern der Kirche und des christlichen Volkes, denn Ich will auf Meine gewohnte Art und Weise durch das Schwache den Stolz der Starken zuschanden machen.‘ Als er so oder mit ähnlichen Worten zu meinem Geist oder Verstand sprach, fand sich meine Seele auf eine mir unfassbare Weise plötzlich wieder in den Leib zurückversetzt. Sobald meine Seele dies begriff, wurde sie von einem so unerträglichem Schmerz erfüllt, dass ich drei Tage und drei Nächte unausgesetzt und fortwährend weinen musste. Auch jetzt ist mir unmöglich, dieses Weinen zu unterdrücken, sobald ich mich daran erinnere.”
„Aber das ist nicht verwunderlich, mein Vater; viel erstaunlicher ist es, dass mein Herz nicht jeden Tag aufs Neue bricht, wenn ich den unvergleichlichen Glanz dieser Herrlichkeit bedenke, den ich damals besaß und der jetzt, ach, so weit weg ist von mir. Dies alles aber ist mir geschehen, um des Heils der Nächsten willen. Keiner soll sich also wundern, wenn ich jene Männer und Frauen besonders liebe; sie zu ermahnen und vom Schlechten zum Guten zu bekehren hat mir der Allerhöchste anvertraut, und ich habe sie um einen nicht geringen Preis erkauft. Ihretwegen bin ich vom Herrn verbannt und auf noch ungewisse Zeit von seiner Herrlichkeit ausgeschlossen worden. Sie sind darum, wie der heilige Paulus sagt, mein Ruhm, meine Krone und meine Freude. Dies sage ich euch, um eurem Herzen das Leid zu nehmen, das einige empfinden, wenn sie murrend erkennen, dass ich zur Schwester aller geworden bin.“
Raimund benennt anschließend (Legenda Maior 217–219) auch die Zeugen:
einige Frauen und Mitschwestern, die Dominikaner Tommaso dalla Fonte, Tommaso Caffarini und Bartolomeo Montucci und ein Laienbruder: Diese vier Brüder, die alle jetzt noch am Leben sind, standen voll Schmerz der heiligen Jungfrau bei ihrem Hinscheiden zur Seite … Außer den oben bereits genannten Brüdern war bei Caterinas Hinscheiden auch eine Mitschwester und Tochter im Herrn namens Alessa anwesend. Fast alle Frauen der Nachbarschaft haben die Jungfrau auf dem Sterbebett gesehen, besonders eine Schar von Bekannten beiderlei Geschlechtes, die bei solchen Anlässen zusammenzuströmen pflegen, und keiner von ihnen konnte einen Zweifel haben, dass sie unabänderlich aus diesem Leben geschieden sei.
Diese vier Stunden dauernde todesähnliche Erfahrung, die ihr im Sommer 1370 zuteil wurde (in der Literatur gewöhnlich als „mystischer Tod” bezeichnet), bildet einen Höhepunkt in Caterinas geistlichem Leben. Ähnliches widerfuhr ihr in den Monaten vor ihrem Sterben in Rom. In ihrem letzten Brief an Raimund vom 15. Februar 1380 berichtet Caterina mit eigenen Worten über jene mystischen Phänomene, die sich während der gesamten Dauer ihres Lebens auf vielfältige Weise zugetragen haben. Dabei beschreibt sie auch die Art und Weise, wie sich ihre Seele vom Leibe trennte, wobei es ihr vorkam, als ob ihr Körper einem anderen gehört hätte: „Jetzt war es allerdings auf eine andere Art, als es damals geschah” (Brief 373). Dass die Berichte über die drei großen mystischen Ereignisse im Leben Caterinas: 1368 Mystische Hochzeit, 1370 Mystischer Tod, 1375 (1. April) Empfang der Stigmen in der Darstellung von Raimund und Caffarini chronologisch nicht geordnet sind, mindert nicht die Wahrhaftigkeit der Bezeugung jener Tatsachen.