Erste Christusvision
Raimund von Capua, Legenda Maior 29–31
29. Als Caterina etwa sechs Jahre alt war, sollte sie eines Tages mit ihrem ein wenig älteren Bruder Stefano zum Haus ihrer Schwester Bonaventura gehen, … Als sie den Auftrag ausgeführt hatten und vom Haus der Schwester über einen absteigenden Weg, der in der Umgangssprache Vallepiatta heißt, wieder zu ihrem Elternhaus zurückkehren wollten, hob das heilige Mädchen ihre Augen und gewahrte auf der gegenüberliegenden Talseite über dem Giebel der Kirche der Predigerbrüder in der Luft ein wunderschönes, mit königlicher Pracht geschmücktes Brautgemach (1). In ihm sah sie den Erlöser der Welt, den Herrn Jesus Christus, auf einem Herrscherthron, angetan mit bischöflichen Gewändern und der Tiara, der Königs -und Papstkrone, auf dem Haupt. Mit ihm waren die Apostelfürsten Petrus und Paulus und der heilige Evangelist Johannes. Bei diesem Anblick blieb das Mädchen staunend stehen. Den Blick auf ihn geheftet und ohne dass ihr Auge geblendet wurde, erschaute sie voll Liebe ihren Herrn und Erlöser. Dieser aber, der sich deswegen so wunderbar zeigte, um voll Erbarmen ihre Liebe auf sich zu lenken, richtete die Augen seiner Majestät auf sie, lächelte ihr in inniger Liebe zu und streckte seine Rechte über sie aus. Und voll Huld schenkte er ihr mit dem Zeichen des heilbringenden Kreuzes, wie es Bischöfe tun, die Gabe seines immerwährenden Segens.
30. Die damit verbundene Gnade bewirkte, dass sie sogleich ihrer Sinne entrückt und in den umgewandelt wurde, den sie in ihrer Liebe erblickte. Sie vergaß nicht nur den Weg, sondern gleichsam sich selbst ganz und gar; und obwohl es eine öffentliche Gasse war, auf der mehrfach Menschen und Tiere vorüberzogen, verharrte das von Natur aus scheue Kind unbewegt, Kopf und Augen nach oben gerichtet, wobei sie gewiss während der ganzen Dauer der Vision so verblieben wäre, hätte sie nicht ihr Bruder gedrängt und gezogen …
31. Von dieser Stunde an aber begann das kleine Mädchen durch Reife und wunderbare Einsicht in die Tugenden und Sitten gleichsam erwachsen zu werden …
(1) Der von Raimund verwendete lat. Ausdruck „Thalamus” (Brautgemach) ist wohl auf dem Hintergrund des bräutlichen Verhältnisses zwischen Christus und seiner Kirche zu sehen. Diese Rolle übernimmt, wie aus der Vision deutlich wird (Christus in päpstlichen Gewändern), in gewisser Weise auch der Stellvertreter Christi, der Papst. In ihrem letzten Brief (vgl. Brief 371 an Urban VI.) berichtet Caterina von einer Vision, in der Christus zu ihr sprach: „Schaue auf Mich und bewundere den Bräutigam dieser Braut, den Papst, und sieh seine heilige und unermesslich gute Absicht. Und so wie die Braut eine ist, so ist auch nur ein Bräutigam” (d.h. in der Kirche kann es nur einen Papst geben). Von der Kirche als „Braut” des Papstes spricht Caterina auch noch in Brief 252, 209, 346, 306, 351 und 364 (alle an Urban VI. adressiert).
Raimund von Capua, Legenda Maior 398a
398a. Sie war erst sechs Jahre alt, als sie über der Kirche der Predigerbrüder mit ihren leiblichen Augen den Herrn sah. In einem wunderschönen Brautgemach saß er auf einem Thron, angetan mit bischöflichen Gewändern und mit einer Tiara gekrönt; ihm zur Seite waren Petrus und Paulus und der Evangelist Johannes. Christus blickte sie mit gütigen Augen an und segnete sie mit seiner königlichen Rechten. Dabei erfüllte er ihre Seele mit einer so vollkommenen Gottesliebe, dass sie ihr kindliches Wesen ablegte und sich in diesem so zarten Alter der Buße und dem Gebet weihte und so weit ging, dass sie im folgenden Jahr im Alter von sieben Jahren (nach reiflicher Überlegung und langem Gebet) vor der heiligen Jungfrau, das heißt vor ihrem Bild, das Gelübde immerwährender Jungfräulichkeit ablegte. Darüber wurde bereits im zweiten und dritten Kapitel des ersten Teiles ausführlich gesprochen.
Darstellung in den Miracoli
Eines Tages, als sie im Alter von sieben Jahren war, rief sie die Mutter und sagte zu ihr: „Katharina, gehe zu deiner verheirateten Schwester und nimm den Bruder mit“, dieser war ein wenig älter als sie, und die Mutter gab ihr einen Auftrag mit. Nun war ein Teil des Weges ganz ohne Häuser, und als sie auf diesem ungewohnten Wege zurückkehrte und der Bruder ein Stück voraus war, da sah sie plötzlich, wie sie so ging und die Augen gegen Himmel erhob, in der Luft nicht weit über der Erde eine Halle von einiger Größe voller Glanz, in welchem sie Christus zu sehen glaubte, gekleidet in ein ganz weißes Gewand in der Weise und Form eines Bischofs im Ornat, mit dem Hirtenstab in der Hand; und er lächelte, als er das Mädchen anschaute. Und es ging von ihm ein Strahl aus wie von der Sonne, der sich auf sie richtete; und hinter Christus mehrere Männer in Weiß, alles Heilige, unter denen sie den hl. Petrus und den hl. Paulus und den hl. Johannes zu erblicken glaubte, wie sie diese in den Kirchen gemalt gesehen hatte.
Und wie das Mädchen gespannt diese wunderbare Erscheinung betrachtete, wandte sich der Bruder um … und fing an, ihr zuzurufen, sie möge vorangehen … Da drehte sie sich um und sagte ganz verstört: „Geh, denn ich will nicht kommen“, und als sie das gesagt hatte und sich wieder zurückwandte, um den Glanz jener Erscheinung wiederzusehen, war alles verschwunden.
(Miracoli della Beata Caterina, 1374 verfasst von einem anonymen Jünger der hl. Caterina. Vgl. Misciatelli Piero, Le lettere di Santa Caterina da Siena Vol VI., Appendice 154–155; Johannes Mumbauer, Aus dem Liliengarten der hl. Katharina von Siena, Freiburg 1923, 3–4.)
Darstellung im Supplementum I, 1, 2 (Berichte des Tommaso dalla Fonte – Miracula)
Als sich die Jungfrau ihrem sechsten Lebensjahr näherte und einmal mit ihrem kleinen Bruder zum Haus ihrer Schwester ging, sah sie in der Luft einen wunderschönen Platz, auf dem sich drei Personen befanden: Christus, Johannes und Paulus. Die zwei Letztgenannten sah sie im Kleid der Schar der Heiligen, Christus aber im bischöflichen Gewand. Und sie sah eine große Helligkeit, und während sie ihre Aufmerksamkeit darauf richtete, wurde sie von ihrem Bruder angeredet, sie aber empfand große Freude beim Anschauen. Und damals gab ihr der Erlöser seinen Segen, sie aber empfing ihn mit großer Ehrfurcht. Während ihre Aufmerksamkeit diesen Dingen galt, antwortete sie ihrem Bruder nicht. …