Spirituelle Vorbereitung
Caterinas Biografie kann man in zwei Abschnitte unterteilen: in die ersten 27 Jahre ihres Lebens, die eine Art spiritueller Vorbereitung waren, und in die restlichen fünfeinhalb Jahre bis zu ihrem Tod, in denen sich all das ereignete, was ihren Ruhm bis heute begründet.
In beiden Lebensabschnitten spielten ihre jeweiligen Seelenführer – zunächst Tommaso dalla Fonte und dann ab 1374 Raimund von Capua – eine wichtige Rolle, deren Aufzeichnungen[1] es zu verdanken ist, dass wir heute über Caterinas Wirken und über ihre mystischen Erfahrungen aus jener Zeit in so reichem Maße Kenntnis haben.
Caterina wurde 1347, ein Jahr vor der großen Pest, als 24. Kind zusammen mit ihrer Zwillingsschwester Nanna in Siena im Haus der Familie Benincasa geboren. Der Name Benincasa, den man mit „gut situiert“ übersetzen könnte, deutet auf einen gewissen Wohlstand hin, der durch die eigene väterliche Färberei begründet wurde. Bereits sehr früh entwickelte sich in dem lebhaft plaudernden Kind eine religiöse Neigung, die sich besonders darin äußerte, dass sie das Leben der Wüstenväter nachahmen wollte.
Im Alter von 6 Jahren hatte sie ein entscheidendes Erlebnis, das ihr weiteres Leben prägen sollte: Über dem Dach der Dominikanerkirche sah sie Christus auf einem Thron, angetan mit päpstlichen Gewändern und der Tiara auf dem Haupt. Um ihn herum standen einige Apostel, und Christus lächelte ihr zu und segnete sie. Die Folgen dieses Erlebnisses waren bedeutsam: Caterina weihte vor einem Bildnis Mariens Gott ihre Jungfräulichkeit, verweigerte dann beharrlich den elterlichen Plan einer künftigen Heirat und trat schließlich mit siebzehn Jahren bei den Mantellatinnen ein (so nannte man damals die Frauen, zumeist Witwen, die als „Schwestern von der Buße des hl. Dominikus“ regelmäßig in San Domenico zusammenkamen). Die Schwestern dieser Laiengemeinschaft widmeten sich dem Gebet und verschiedenen Werken der Nächstenliebe. Sie trugen einen Habit, hatten eine Priorin, standen unter der Leitung eines Dominikaners, lebten aber ansonsten privat oder zu Hause bei ihren Familien.
Caterina, als jüngstes Mitglied, wollte eine wahre „Schwester von der Buße“ werden. Nach dem Vorbild der Reclusen (Einsiedlerinnen), von denen es damals in und um Siena herum über 200 gab[2], lebte sie fortan mehrere Jahre völlig zurückgezogen in ihrer kleinen Kammer des Elternhauses. Ein späterer Schüler von ihr, der junge Dominikaner Bartolomeo Dominici, der sie damals in Begleitung ihres Beichtvaters Tommaso dalla Fonte gelegentlich besuchte, bezeugt später im Heiligsprechungsprozess: „Sie hielt sich in ihrer kleinen Kammer des Elternhauses auf; die Tür und das Fenster waren immer geschlossen, vor dem Christusbild und dem Bild Mariens und anderer Heiliger, die es dort gab, brannte Tag und Nacht eine Lampe. In der Kammer war eine Pritsche aus Brettern, auf denen sie immer in ihren Kleidern schlief. ... Sie trug ein raues Hemd an ihrem Leib, hatte eine eiserne Kette um ihren Leib geschlungen und geißelte sich viele Jahre lang dreimal am Tag mit eisernen Ruten“ (Prozess S. 423).
In dieser Zeit der Buße und des Gebetes und auch schwerer Prüfungen war Christus selbst ihr einziger Lehrmeister (Vgl. Legenda Maior 84). Von ihm wurde sie über jene grundlegenden und tiefen Wahrheiten unterrichtet, die sie später anderen weitergeben sollte. Beendet wurden diese intensiven Jahre der Gottesbegegnung durch die Gnade der „Mystischen Hochzeit“: Caterina bekam von Christus im Beisein seiner heiligsten Mutter einen unsichtbaren Ring als Zeichen der Vermählung im Glauben. Zugleich erhielt sie den Auftrag, ihre einsame Lebensweise zu beenden und fortan unter Menschen zu wirken. „Denn“, so sprach Christus zu ihr, „Ich will dich durch die Nächstenliebe noch fester an mich binden“ (Legenda Maior 121). Später sollte sie dann in ihren Briefen immer wieder darauf zurückkommen, dass die Liebe zu Gott sich in der Liebe zum Nächsten erweisen muss.[3]
Danach folgten Jahre caritativer Tätigkeit in Siena: Caterina half Notleidenden, betreute Kranke in den Spitälern und stiftete Frieden unter verfeindeten Familien. Es gab ungewöhnliche Bekehrungen, sie versöhnte Sünder wieder mit Gott und sie scheute nicht davor zurück, den Verurteilten bei ihrer Hinrichtung beizustehen.[4] Sie sah die unsagbare Schönheit der geretteten Seelen, sie nahm den Duft des Blutes wahr, aber auch den Gestank der Sünde, und sie war bereit, für das Heil der Menschen zu sterben. Immer weniger Nahrung nahm sie zu sich, zugleich wuchs in ihr die Sehnsucht nach der hl. Kommunion, wobei sie anschließend oft stundenlang – ihrer äußeren Sinne beraubt – in Ekstase verharrte.
Auf diese Weise war Caterina allmählich über ihre Heimatstadt Siena hinaus bekannt geworden. Den einen galt sie als Heilige, anderen dagegen war sie ein Ärgernis. Sogar im eigenen Orden regte sich Unmut, man verweigerte ihr die hl. Kommunion, es gab Neid und Eifersucht bis hin zu Ablehnung und Hass. In diesen Widerständen aber vertiefte sich zugleich auch ihre Nähe zu Christus. Die Ekstasen nahmen zu. Ihr Inneres wurde dabei so sehr zu Gott hingezogen, dass oftmals auch der Leib miterhoben wurde und über dem Boden schwebte. Eines Tages, so bezeugt Caterina, habe ihr Christus sogar ihr Herz aus der Brust genommen und ihr dann später sein eigenes eingesetzt. Das paulinische Wort: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20), war bei ihr nun erfahrene Wirklichkeit geworden. Caterina war damals etwa 23 Jahre alt.
Den Höhepunkt dieser intensiven Erlebnisse bildete schließlich ein etwa vier Stunden dauernder todesähnlicher Zustand. Die Personen, die bei ihr waren, hielten sie für gestorben und trafen bereits erste Vorbereitungen für ihr Begräbnis. Später erzählte Caterina, dass sich ihre Seele außerhalb ihres Leibes befunden hätte. Dabei hatte sie die Leiden der Passion, das Wesen der Gottheit, die Seligkeit der Heiligen im Himmel, die Qualen der Verdammten und auch die Not derer, die im Fegefeuer sind, gesehen. Nach dieser geheimnisvollen Todeserfahrung erhielt sie von Christus jenen Sendungsauftrag, der für ihr weiteres Leben bestimmend wurde: Sie solle die Ehre seines Namens und seiner heilbringenden Lehren „vor die Kleinen und Großen“ bringen, „vor Laien, Kleriker und Ordensleute“ und dazu werde ihr „eine Stimme und eine Weisheit“ gegeben, der „niemand widerstehen kann“. Ja, Christus werde sie sogar „zu den Päpsten, zu den Lenkern der Kirche und des christlichen Volkes führen“, um auf seine gewohnte (göttliche) Art und Weise „durch das Schwache den Stolz der Starken zuschanden zu machen“ (vgl. Legenda Maior 213–218).
Ohne ihr eigenes Zutun hatte sich in Siena im Laufe der Zeit auch eine Gruppe von Personen um Caterina gebildet, die ihr treu ergeben waren, sie kindlich liebten und verehrten und die sie selbst als ihre geistliche „Familie“ bezeichnete (vgl. etwa Brief 89, 121, 126, 154, 192, 220 u.a.). Zu dieser Familie gehörten einzelne ihrer Mitschwestern und adelige Damen, aber auch Söhne aus den verschiedensten Adelshäusern der Stadt, Männer von großer Bildung, Politiker, Mönche, Künstler und Advokaten. Die Mitglieder dieser geistlichen Familie suchten in erster Linie ihre persönliche Nähe, ihre Reinheit und Heiligkeit. Sie wollten ihr zuhören, wenn sie zu ihnen über die Erfahrung der Gnade und das Übermaß der Liebe Gottes sprach.
Bei diesen Begegnungen hat Caterina auch ihrerseits vieles erfahren und aufgenommen und von ihren Schülern gelernt, unter denen mehrere hervorragende Theologen waren. Dennoch war sie die allseits anerkannte Autorität. Sie nannten sie „Mutter“ und sahen es als Ehre an, ihr dienen zu dürfen. Auffallend war, wie natürlich und ungezwungen sich Caterina im Umgang mit den jungen Männern in ihrer geistlichen Familie zu bewegen verstand. Sie schätzte den Mut und die Tapferkeit, die sie gerne als männliche Tugenden hervorhob, und sie empfand ihren Schülern gegenüber eine mütterliche Verantwortung für deren ewiges Heil. Um Neri, ihren sensiblen Schreiber und Sekretär bemühte sie sich; auch um Francesco, einen stadtbekannten Schürzenjäger, der immer wieder versagte und am Ende dann Benediktiner und sogar Abt wurde. Sehr mütterlich sorgte sie sich um den jungen Novizen Simon, der sie schüchtern verehrte, den sie sogar in ihre Arme nahm und ihm bisweilen ausrichten ließ: „Sagt Bruder Simon, dass ich ihn mit dem Seil der Liebe fest an mein Herz binden werde, so wie es die Mutter mit ihrem Kind macht“(Brief 208). Eine besondere Zuneigung schenkte sie ihrem gleichaltrigen Sekretär Stefano Maconi; und schließlich auch einer Person, die 1374 in ihr Leben trat und von da an mitbestimmend werden sollte für ihren weiteren Weg: ihr neuer Beichtvater und späterer Biograph Raimund von Capua. Dieser angesehene Ordensmann, den sie von der Gottesmutter erbeten hatte (wie sie selbst in mehreren Briefen bestätigte, 211, 226, 373), war ihr auf dem Generalkapitel der Dominikaner als geistlicher Leiter gegeben worden,[5] um sie dem Unverständnis und den Launen ihrer bisherigen Vorgesetzten zu entziehen. Raimund war um siebzehn Jahre älter als Caterina und ihr ebenbürtiges Gegenüber. Nachdem er sich von der Echtheit ihres außergewöhnlichen Lebens überzeugen konnte (Vgl. Legenda Maior 87–91), wurde er nicht nur ihr entschiedener Verteidiger, ihr Beichtvater und väterlicher Freund, sondern auch ihr geistlicher Sohn und Schüler. Durch ihn eröffnete sich nun das weite Feld ihrer kommenden Aktivitäten im Dienst der Kirche.
W.S.
Anmerkungen:
[1] Die Hefte mit den Aufzeichnungen des Tommaso dalla Fonte gingen leider verloren. Ihr Inhalt wurde aber von Tommaso Caffarini großteils in den beiden ersten Kapiteln seines Supplementum wiedergegeben. Raimund von Capua hat seine Erinnerungen an Caterina zusammengefasst in der Legenda Maior.
[2] Vgl. Allison Clark Thurber: Female Urban Reclusion in Siena at the Time of Catherine of Siena, in: A Companion to Catherine of Siena, ed. By C. Muessig, G. Ferzoco, B.M. Kienzle, Boston 2012, 47.
[3] Vgl. etwa Br. 337 an die Signoria von Florenz: „Da wir dem Allerhöchsten nichts Gutes tun können, hat er uns den Nächsten zur Seite gestellt, damit wir es an ihm tun; an ihm sollen wir unsere Liebe beweisen.“ Br. 254 an Pietro di Iacomo Tolomei: „So also sollen wir Gott lieben durch unseren Nächsten, und auf diese Weise erzeigen wir ihm unsere Liebe.“ Oder Gebet 12: „Ewige Güte, Du willst, dass ich in Dich blicke und erkenne, dass Du mich liebst – und zwar unverdient –, damit ich mit derselben Liebe alle vernunftbegabten Geschöpfe liebe.“
[4] Berühmt ist hier Br. 273 an Raimund von Capua, in dem Caterina ausführlich über die Hinrichtung des Noccolò di Toldo berichtet und wie sie ihm dabei im Kerker und am Richtplatz helfend und tröstend zur Seite stand.
[5] Für die verbreitete Annahme, man hätte Caterina zum Generalkapitel der Dominikaner zitiert, um ihre Lehre und Lebensweise zu prüfen, gibt es keinen historischen Beleg (nur die Behauptung einer Schrift aus dem 18. Jahrhundert), da die Protokolle des Generalkapitels verschollen sind. Sicher ist nur, dass sich Caterina zu der Zeit in Florenz aufhielt. Wenn man aus den Anfangsworten der „Miracoli“ (den Wunderberichten eines anonymen Autors) eine Vorladung Caterinas zum Generalkapitel herauslesen möchte, so ist dies (aufgrund der fehlenden Interpunktion) eine Spekulation, aber kein Beweis. Caterina kam nicht „auf Anordnung des Ordensmeisters“ nach Florenz (Drane, u.a.), sondern sie kam zu der Zeit nach Florenz, als hier „auf Anordnung des Ordensmeisters das Kapitel stattfand“ (Taurisano, Mumbauer); vgl. dazu auch Timoteo M. Centi OP, Un processo inventato di sana pianta, in: Rassegna di Ascetica e Mistica, S. Caterina da Siena, 21 (1970), 4, 325–342.