Generalkapitel in Florenz (1374)
Wurde Caterina vorgeladen?
Am 21. Mai im Jahre 1374 fand in Florenz im Konvent von S. Maria Novella bereits zum fünften Mal das Generalkapitel der Dominikaner statt. Obwohl die Akten dieser Versammlung verlorengegangen sind, geht eine weit verbreitete Annahme davon aus, dass Caterina zu diesem Generalkapitel zitiert wurde, um ihre Lehre und Lebensweise einer Prüfung zu unterziehen. Gestützt wird diese Vermutung von den sogenannten „Miracoli“, den Wunderberichten eines anonymen zeitgenössischen Autors, sowie von einigen Bemerkungen in Texten, die 400 Jahre später Mönche dieses Klosters verfasst haben.[1] Dass sich Caterina um diese Zeit in Florenz aufhielt und dabei auch mit Raimund Kontakt aufnahm, ist unbestritten. Für eine Vorladung vor das Generalkapitel gibt es jedoch keinen historischen Beleg. Wenn man aus den Anfangsworten der „Miracoli“ eine Vorladung Caterinas zum Generalkapitel herauslesen möchte, so ist dies (aufgrund der fehlenden Interpunktion im Text) eine Spekulation, aber kein Beweis. Caterina kam nicht „auf Anordnung des Ordensmeisters“ nach Florenz (Drane, u.a.), sondern sie kam zu der Zeit nach Florenz, als hier „auf Anordnung des Ordensmeisters das Kapitel stattfand“ (Taurisano, Mumbauer). Darüber hinaus gibt es noch weitere gewichtige Argumente, die einer derartigen Vorladung widersprechen. So hatte etwa Papst Gregor XI. bereits vor dem Generalkapitel einen Gesandten zu Caterina nach Siena geschickt mit der Bitte um ihr Gebet,[2] was gewiss nicht bei einer Person erfolgt wäre, die ihre Lebensweise und Rechtgläubigkeit erst unter Beweis stellen musste. Dafür wäre zudem das Generalkapitel auch nicht zuständig gewesen. Eine solche Prüfung (von Gregor geduldet, aber nicht angeordnet, da er von Caterinas Lauterkeit überzeugt war) erfolgte erst zwei Jahre später während ihres Aufenthaltes in Avignon durch drei angesehene Prälaten (vgl. das Zeugnis des Stefano Maconi im Prozess von Castello, 396–398).
Bereits 1970, im Jahr von Caterinas Ernennung zur Kirchenlehrerin, hatte P. Timoteo M. Centi OP zu diesem Thema eine klärende Studie verfasst unter dem Titel: „Un processo inventato di sana pianta – Ein ganz und gar erfundener Prozess“ (in: „Rassegna di Ascetica e Mistica“ 1970, 325–342).
Hier im Folgenden eine Zusammenfassung seiner Untersuchungen:
Der Autor zitiert unter anderem P. Chiminelli, der behauptet, der Papst hätte den General beauftragt, beim Generalkapitel in Florenz Caterinas Leben und Lehren zu überprüfen. Aber diese Theorie sei eine Erfindung des 18. Jahrhunderts. Denn die biographischen Quellen sagen darüber nichts, obwohl sie doch auf den Triumph Caterinas bedacht waren und eine Rehabilitierung Caterinas auf dem Kapitel für ihre Darstellung von Vorteil gewesen wäre. Außerdem habe der Dominikanerorden gegenüber den Terziaren nie eine klare Autorität ausgeübt, es war nie klar, wie und wer sich um sie kümmern soll. Für eine Überprüfung ihrer Lehren wäre außerdem die Inquisition zuständig gewesen und nicht das Generalkapitel. Zudem war ein Generalkapitel in Klausur und nicht öffentlich.
Die einzige Quelle, die ihre Anwesenheit bekundet, sind die „Miracoli“, wo es heißt „dass sie in Florenz war auf Anordnung des Ordensmeisters ...“ Aber daraus dürfe man keine Schlüsse ziehen, da es auch eine andere Lesart dieser Stelle gäbe: „Es kam nach Florenz im Monat Mai des Jahres 1374, als dort auf Befehl des Ordensmeisters das Kapitel der Predigerbrüder war, eine in das Gewand des hl. Dominikus gekleidete Nonne namens Caterina, Tochter des Jakob von Siena, im Alter von 27 Jahren ...“
Wie es zu dieser „Legende“, sie wäre zum Kapitel zitiert worden, kam? Dafür seien drei Dominikaner aus Florenz verantwortlich, die in Siena waren: Domenico Sandrini u.a., die versucht hätten, ihren Florentiner Konvent S. Maria Novella mit „Caterina“ zu „schmücken“.
Sandrini sagt, Caterina sei als Kind in Siena von Fra Angelo Adimari geistlich geführt worden. Adimari wäre der einzige gewesen, der sie dann in Florenz verteidigt hätte, als sie zum Kapitel zitiert wurde. Auch P. Borgigniani berichtet, sie musste sich verteidigen und Adimari wäre ihr Hauptverteidiger gewesen. Auch behauptet er, Caterina sei 1376 in Florenz gewesen, wo ihr wieder Adimari beigestanden wäre.
Warum Raimund in seiner Legenda darüber nichts erwähnt habe? Damit der „Prozess“ nicht der geplanten Heiligsprechung im Wege stehen würde? Aber das Kapitel hätte sie ohnedies positiv bewertet. Das wäre also kein Grund für das Verschweigen vonseiten Raimunds.
Centis Conclusio in 5 Punkten:
1. Keine Quelle erwähnt eine Vorladung.
2. Caterina war vielleicht aus familiären Gründen in Florenz, oder eher aus religiösen Gründen z.B. ihr Interesse für den Kreuzzug (bereits seit 1372 bei Caterina vorhanden)
3. Sie wollte sich der Seelenführung Raimunds vergewissern. Er habe sie indirekt durch Tommaso dalla Fonte kennengelernt. Raimund ist von 1373 an in Florenz. Bei seiner Reise von Rom nach Florenz sei er vielleicht über Siena gekommen und hätte dabei Caterina kennengelernt. Jörgensen meint, das erste Zusammentreffen zwischen Raimund und Caterina sei in Santa Maria Novella gewesen. Taurisano widerspricht und sagt nein, erst in Siena 1374.
Centi: Es war schon vor 1374, weil in Siena die Pest war. Raimund habe beim Generalkapitel den Auftrag erhalten, ihr Seelenführer zu werden.
4. Um das Dokument des Ordensgenerals zu bekommen, dass Raimund ihr Seelenführer werde, sei Caterina nach Florenz gereist.
5. Raimund muss wohl am Kapitel dabei gewesen sein.
Abschließend heißt es in dem Centi-Artikel:
„Als Prior des römischen Minerva-Klosters während des kurzen Aufenthalts von Papst Urban V. und seinem Hof in Rom, als Studienleiter im Kloster von Siena und ehemaliger Lektor in S. M. Novella, war Raimund als Theologe und Schriftsteller hoch angesehen. Es ist bekannt, dass die Provinz, die die Ehre hatte, das Generalkapitel auszurichten, darauf bedacht war, ihre gelehrtesten und repräsentativsten Brüder im Kapitelsaal zu versammeln. Wenn Katharina in diesem Forum einen Verteidiger nötig gehabt hätte, wie der Artikel des florentinischen Annalisten des 18. Jahrhunderts meint, so wäre es nicht nötig gewesen, auf Fra Michele Pilastri, Fra Francesco oder Fra Angelo Adimari zurückzugreifen, da Fra Raimondo mit größerer Autorität und Kompetenz selbst eingegriffen hätte.
Wir meinen daher, dass es an der Zeit ist, eine Episode wie den berühmtberüchtigten Prozess in S. M. Novella endgültig aus der Biografie der Heiligen zu streichen: die Seriosität und das Prestige der Catarina-Studien verlangen eine derartige Korrektur.
Timothy M. Centi, O. P.”
[1] Vgl. Jörg Jungmayr, Die Legenda Maior (Vita Catharinae Senensis) des Raimund von Capua, Berlin 2004, Band 2: Kommentar, S. 768–771. Hier werden auch die entsprechenden Textstellen zitiert. Der Autor teilt die verbreitete Ansicht und meint zudem, das Generalkapitel hätte Raimund eine Art Kontrollfunktion gegenüber Caterina zugesprochen.
[2] Vgl. Brief 127 an Bartolomeo Dominici und Tommaso Caffarini (Fastenzeit 1374). Darin schreibt Caterina: “Noch etwas möchte ich Euch sagen. Der Papst hat einen seiner Vertreter hierher gesandt – und zwar jenen, der einmal der geistliche Vater jener Gräfin war, die in Rom gestorben ist und der aus Liebe zur Tugend auf sein Bischofsamt verzichtet hat. Er kam zu mir im Namen des Heiligen Vaters mit dem Auftrag, besondere Gebete für ihn (den Papst) und für die heilige Kirche zu verrichten. Als Zeichen dafür überbrachte er mir den heiligen Ablass. Freut Euch also und jubelt, denn der Heilige Vater hat begonnen, sein Augenmerk auf die Ehre Gottes zu richten und auf das Wohl der heiligen Kirche.“ Dieser Vertreter des Papstes war der ehemalige Bischof von Jaen, Alfonso da Vadaterra, der zuletzt in Rom Beichtvater und geistlicher Begleiter der heiligen Birgitta war, und der nun von Papst Gregor XI. zu Caterina nach Siena gesandt wurde. Ein erstes Anzeichen dafür, dass der Papst in Caterina eine mögliche Weiterführung jener Weisheit sah, die er in Birgitta geschätzt hatte.