Das „Meisterwerk ihrer Tätigkeit“

Marco Benefial, 1684-1764 (Foto Alamy)

 

Das Ende der abendländischen Einheit

Das Mittelalter war gekennzeichnet von der Idee der Einheit von geistlicher und weltlicher Herrschaft: Wie Seele und Leib, so sind auch Kreuz und Krone aufeinander bezogen; ein und derselbe Mensch ist Bürger dieser Welt und zugleich Kind Gottes. Christus allein ist der Herr der Christenheit, und seinem Repräsentanten auf Erden, dem Papst, kommt deshalb eine besondere Stellung zu. Die Erhabenheit des Geistlichen über das Leibliche war im Verhältnis von kirchlichem Leitungsamt und weltlicher Gewalt lange unbestritten. Zu Schwierigkeiten kam es aber, als die heikle Beziehung zwischen sacerdotium und regnum staatsrechtlich im Sinne des Lehenswesens und seiner Unter- und Überordnung ausgedeutet wurde. Der daraus entstehende Konflikt mit dem Imperium, das seinerseits die Krone als Quelle des Rechts betrachtete, dauerte zwei Jahrhunderte und endete zunächst nach dem Ende der staufischen Macht mit einem vermeintlichen Sieg des Papsttums.

In Wahrheit war dies aber der Anfang vom Ende der abendländischen Einheit. Denn in dem Maße, als das grundsätzlich der gesamten Christenheit dienende universale Kaisertum geschwächt und allmählich bedeutungslos wurde, fühlten sich die lokalen Regenten in ihrer Macht gestärkt. Den aufstrebenden Nationalstaaten gegenüber konnte der Papst zur Wahrung seiner Herrschaft fast zwei Jahrhunderte lang nichts entgegensetzen, ja letztlich nicht einmal seine Souveränität im „eigenen“ Kirchenstaat sicherstellen. Sichtbarstes Zeichen dafür war das vom französischen König Philipp IV. in Auftrag gegebene Attentat auf den Papst, bei dem er Bonifaz VIII. in dem italienischen Städtchen Anagni handstreichartig gefangen nehmen ließ. Damit war das päpstliche regnum zwar nicht juridisch, aber praktisch beendet. Aus der bisherigen Freiheit der Kirche wurde eine politische Abhängigkeit von Frankreich, und zwar so sehr, dass die folgenden Päpste ihre Residenz von Rom nach Avignon verlegten. Siebzig Jahre dauerte dieses „Exil“, das sich für die Kirche ungemein schädlich auswirken sollte und letztlich hauptverantwortlich war für die Entstehung des großen abendländischen Schismas.

 

Avignon und die Rückkehr nach Rom

Während der siebzig Jahre ihres Exils in Avignon waren alle sieben Päpste dieser Zeit Franzosen und ebenso der Großteil des Kardinalskollegiums. Da der „Kirchenstaat“ mit seinen Einkünften in Italien praktisch verlorengegangen war, versuchten sie die wirtschaftliche Einbuße durch den Ausbau eines umfangreichen Gebührensystems wieder auszugleichen. Sie wussten freilich auch, dass ein Papst auf „Untermiete“, der nicht Herr in seinem eigenen Haus ist, auf Dauer seinem geistlichen Auftrag nicht gerecht werden kann,[1] und dass der Verlust der weltlichen Herrschaft nur zu neuen Abhängigkeiten führt. Daher war der Gedanke an eine Rückführung nach Italien nie ganz erloschen. Einen ersten ernstlichen Versuch nach über sechzig Jahren in Avignon unternahm Papst Urban V. Er konnte dies wagen, nachdem der von seinem Vorgänger nach Italien entsandte spanische Kardinal Gil Albornoz den Kirchenstaat für den Papst wieder zurückerobert und neugeordnet hatte.[2]

Kaiser Karl IV. von Prag, 1365 von einem Legaten des Papstes im Rom zum Kaiser ge­krönt, war zwar 1367 eigens nach Avignon gekommen, um Urban zu diesem wichtigen Schritt zu ermutigen; er zog auch fünf Monate später gemeinsam mit ihm in Rom ein. Doch diesem äußeren Bild der Einheit von Kaiser und Papst fehlte die wirkliche unterstützende Kraft („Römischer Kaiser“ war nur mehr ein gehaltloser Titel). Der Kaiser war nicht in der Lage, als „defensor ecclesiae“ die in Italien gegen das Papsttum agierenden Kräfte zu mäßigen. Nachdem Karls Gattin zur Kaiserin gekrönt worden war, verließ er bald darauf die Ewige Stadt. Urban selbst konnte sich – durch den Tod Albornoz´ seiner wichtigsten Stütze beraubt – in Rom allein nicht behaupten und kehrte drei Jahre später wieder nach Avignon zurück, wo er kurz darauf starb (wie es ihm die heilige Birgitta von Schweden vorausgesagt hatte).

Der entscheidende Versuch, die Kurie nach Rom zurückzuverlegen, gelang dann aber fünf Jahre später[3] seinem Nachfolger Gregor XI., wobei der Papst einem doppeltem Hindernis gegenüberstand, für dessen Überwindung er in Caterina von Siena eine entscheidende Helferin finden sollte: Das eine waren die Widerstände seitens der Kardinäle und des französischen Königs, die das Papsttum in Frankreich zurückhalten wollten; und das andere entstand durch die Ereignisse in Italien. Hier hatte Florenz, das sich durch die Aktivitäten des Heiligen Stuhles bedroht fühlte und seine eigenen Vormachtspläne in Italien gefährdet sah, zum Widerstand gegen das französische Papsttum aufgerufen. Die Ablehnung der als fremd empfundenen und oftmals überheblich und korrupt agierenden französischen Legaten tat nur ein weiteres dazu. Binnen kurzer Zeit schlossen sich eine Reihe mittelitalienischer Städte, der „Kirchenstaat“ (mit Ausnahme von Rom) und Mailand in einer Art von nationaler Bewegung zu einem Bündnis zusammen. Der 1375 ausgebrochene Krieg der „Otto Santi“ (der „acht Heiligen“, wie der achtköpfige Kriegsrat von Florenz ironisch genannt wurde), dauerte über drei Jahre und wurde nach den Friedensverhandlungen von Sarzana schließlich im Juli 1378 unter Gregors Nachfolger Urban VI. mit der Unterzeichnung in Tivoli beendet.

Während Gregor überzeugt war, dass die Rückkehr des Papsttums von geordneten Verhältnissen in Italien abhängig sei und  die Päpste ihre Rechte (in Ermangelung eigener Soldaten) nur mit bezahlten Truppen (Söldnern) geltend machen konnten, das heißt also auch das „weltliche Schwert“ führen mussten, verwies Caterina zuallererst auf die geistige Macht: „Kommt nicht mit dem Schwert, sondern nur mit dem Kreuz, denn der Schatz der Kirche sind nicht die Städte aus Stein, sondern die Seelen der Menschen!“[4] Ursprünglich kam Caterina im Auftrag von Florenz als Vermittlerin nach Avignon. Nachdem aber die Verhandlungen mit den Florentiner Gesandten gescheitert waren, wandte sie sich der Ermutigung des Papstes zu, gegen alle Widerstände hindurch an seiner geplanten Rückkehr nach Rom festzuhalten. Gerade dies aber wurde die eigentliche Sendung ihres Aufenthaltes in Avignon und letzten Endes ihr größter Erfolg.

Durch die Entwicklung in Italien war aber nicht nur die Rückkehr des Papstes gefährdet, sondern auch der von ihr so leidenschaftlich geforderte Kreuzzug. Als Caterina den Großteil des Jahres 1375 in Pisa verbrachte und an diesem internationalen Handelsstützpunkt auch mit den Berichten über die fortschreitende Expansion des Islam am Balkan und den Hilferufen aus dem Osten konfrontiert wurde, begann sie von hier aus mit einem intensiven Briefapostolat und warb für das Zustandekommen eines neuen Kreuzzuges. Die französischen Päpste standen dem Kreuzzugsgedanken immer positiv gegenüber, und so erkannte Gregor XI., längst auf Caterina aufmerksam geworden, in ihr eine Verbündete, bat um ihr Gebet und unterstütze sie seinerseits bei ihren Bemühungen mit großzügigen Vergünstigungen. Diese glühende Begeisterung für die „Heilige Überfahrt“, wie Caterina den Kreuzzug gerne nannte, und ihre Vorstellung, dass ein solches Unternehmen nicht nur den Ungläubigen die Gnade der Erlösung bringen, sondern zugleich auch die christlichen Kräfte im Abendland einigen und die italienischen Stadtrepubliken von ihrer antipäpstlichen Linie ablenken würde, behielt sie grundsätzlich bei bis zum Ende ihres Lebens, wenngleich sie dann durch den Ausbruch des Schismas erkennen musste, dass unter den gegebenen Umständen an eine Verwirklichung wohl nicht mehr zu denken war.[5] Die letzten eineinhalb Jahre ihres Lebens verbrachtet Caterina in Rom in der Nähe des Papstes, um ihn im Kampf gegen jene Kräfte zu unterstützen, die das Papsttum erneut nach Frankreich verlegen wollten und dafür sogar ein Schisma in Kauf nahmen.

 

Caterinas Verdienst und Bedeutung

Caterina konnte die Spaltung zwar nicht verhindern und auch eine Reform erschien ferner denn je, dennoch hat sie vieles erreicht: Denn was dem Kaiser nicht gelungen war, das Papsttum aus der französischen Einflusssphäre zu lösen und wieder mit Rom zu verbinden, geschah nun durch Caterina. Ein Erfolg, den Papst Paul VI. als „Meisterwerk ihrer Tätigkeit“ bezeichnete, wofür ihr die Kirche gleichsam eine „immerwährende Dankbarkeit“ schulde.[6] Als Kaiser Karl IV. zwei Jahre später in Prag starb, zog Caterina (von Urban VI. eingeladen) mit vierundzwanzig ihrer Getreuen in die Ewige Stadt, um den Stuhl Petri zu stützen und mit Rom zu verankern. Das Werk vollendete nicht der Politiker, sondern die Heilige, nicht der „Schirmherr der Christenheit“, sondern der „Schutzengel der Kirche“, wie sie Papst Johannes Paul II. einmal bezeichnete.[7]

Wenn man nun fragen wollte, worin das Besondere in ihrem Erscheinen lag, so wird man sagen müssen: Sie hat damals sicherlich die Menschen beeindruckt durch die Kraft ihrer Sprache und die Weisheit der Worte; und mit ihren zahlreichen Briefen war sie für viele das schreibende Gewissen ihrer Zeit. Aber die entscheidende Bedeutung lag letztlich in ihrer Wirkung als einer Heiligen.

Caterina war zuallererst eine große Heilige. Sie war eine Mystikerin im Alltag der Welt. Sie hat den Menschen vorgelebt, dass es den Ewigen gibt, vor dem wir Rechenschaft ablegen müssen; sie hat einer Hierarchie, die in Politik und Diesseitskultur zu versinken drohte, unablässig vom Wesentlichen der Kirche gepredigt; und sie hat schließlich einer Zeit, die die Kirche nur als Machtinstitution betrachtete, laut gesagt, dass dies nur die äußere Hülle sei, die Braut Christi aber selbst etwas Heiliges ist. Freilich, sie übersieht nicht den Staub und die Wunden der Kirche und sie scheut sich nicht, auch aufs schärfste zu tadeln – denn sie ist überzeugt, dass die Welt nicht durch Kompromisse erlöst wird, sondern nur durch die Konfrontation mit der Wahrheit Christi –, aber ihre Kritik zerstört nicht, sondern baut auf. Sie ist niemals enthüllende Propaganda, sondern persönliche Mahnung und Aufforderung zum Guten. Sie tadelt die Person, aber niemals das Amt.

Man darf übrigens Caterinas Beitrag zur Rückkehr des Papsttums nicht unterschätzen. Denn dadurch verlor die nationale Bewegung Italiens ihren papstfeindlichen Charakter und das Papsttum selbst wurde wieder römisch wie in den Jahrhunderten zuvor (ubi papa ibi Ecclesia). Ihr ist es also zu verdanken, dass es in Italien nicht zum Bruch mit der Papstkirche gekommen ist und sich neben der sichtbaren Kirche Roms nicht eine unsichtbare, sektiererische Kirche bilden konnte. Die Gefahr war jedenfalls vorhanden, und die Ideen des „Defensor pacis“ waren bereits weit verbreitet. Es war für Caterina undenkbar, selbst wenn man sich noch so sehr auf seine eigenen Rechte berufen wollte, dass man sich gegen den „Christus auf Erden“ und damit gegen die Kirche erheben könnte. Unmissverständlich hält sie allen Kritikern entgegen, dass das Antlitz der Kirche zwar blass werden kann, die Kirche aber niemals an Kraft verliere, da sie in sich das Blut Christi trage, ohne das es keine Erlösung gäbe, und dass der einzige Zu­gang zu diesem Blut der „süße Christus auf Erden“ sei: „So stark ist dieser Stellvertreter Christi, so groß ist seine Kraft, dass er uns das Tor zum ewigen Leben öffnen und schließen kann.“

Dies alles der Welt erneut zu verkünden, ist damals wie heute ihre bleibende Sendung. Im letzten ging es ihr bei allem um das Heil der Seelen: Deshalb hatte sie ihr Leben ganz Gott geschenkt und gekämpft für die Rückkehr des Papsttums nach Rom (denn Avignon bedeutete ihr Zerfall der Kirche und eine Bedrohung des Blutes Christi). Auch deshalb hat sie gekämpft um den Frieden mit Italien, weil sie die Not der Menschen erkannte und das Heil so vieler gefährdet sah.

Über ein halbes Jahrhundert später machte Edith Stein eine Bemerkung,[8] die sich gleichsam wie eine Einführung in das Verständnis der heiligen Caterina, in ihre privilegierte Beziehung zur Kirche und zu deren Dienern liest: „So bleibt es durch alle Jahrhunderte: In der stillen Zwiesprache gottgeweihter Seelen mit ihrem Herrn werden die weithin sichtbaren Ereignisse der Kirchengeschichte vorbereitet, die das Angesicht der Erde erneuern. Die Jungfrau, die jedes gottgesandte Wort in ihrem Herzen bewahrte, ist das Vorbild jener lauschenden Seelen, in denen das hohepriesterliche Gebet Jesu immer wieder auflebt. Und Frauen, die gleich ihr sich selbst völlig vergaßen über der Versenkung in das Leben und Leiden Christi, erwählte der Herr mit Vorliebe zu seinen Werkzeugen, um Großes in der Kirche zu vollbringen: eine heilige Brigitta, Katharina von Siena.“

 

Anmerkungen:

[1] Erst nach dreißig Jahren konnte Clemens VI. die Stadt Avignon und die Grafschaft Venaissine käuflich erwerben, sodass die Päpste wenigstens den Status eines weltlichen Fürsten beanspruchen konnten.

[2] Diese gewaltsame Wiederherstellung des Kirchenstaates kostete viel Blut und verschlang ungeheure Summen für die Söldnerheere und Galeeren, war aber damals die einzige Möglichkeit, dass dann die Päpste wieder ungestört in Rom residieren und ihres Amtes walten konnten.

[3] Am 13. September 1376 verließ Gregor XI. allen Widerständen zum Trotz als der letzte französische Papst Frankreich für immer

[4] „Der Schatz der Kirche ist das Blut Christi, der Lösepreis für die Seelen; und dieser Schatz des Blutes Christi wurde nicht eines weltlichen Besitzes wegen bezahlt, sondern zur Erlösung des Menschengeschlechtes ... Daher ist es besser, den Schlamm der zeitlichen Dinge preiszugeben als das Gold des geistlichen Besitzes. Tut also, was möglich ist. Wenn das getan ist, werdet Ihr vor Gott und den Menschen gerechtfertigt dastehen. Mit dem Stab der Güte, der Liebe und des Friedens werdet Ihr mehr Menschen besiegen als mit der Keule des Krieges, und außerdem werdet Ihr dann Eure geistliche und weltliche Macht wiederbekommen“ (Brief 209)

[5] Vgl. Brief 274: „Momentan habe ich nicht die Absicht, auf einem anderen Kreuzzug mitzuziehen, denn der Kreuzzug findet ja hier statt: Wir haben die Ungläubigen und die Verfolger der Kirche Gottes vor unserer eigenen Haustür!“

[6] Ansprache von Papst Paul VI. am 4. Oktober 1970 in Rom anlässlich der Erhebung der heiligen Caterina von Siena zur Würde einer Kirchenlehrerin. Vgl. AAS LXII (1970) 329–335.

[7] Vgl. Apostolisches Schreiben „Amantissima Providentia“, vom 29. April 1980, AAS LXXII (1971) 674–682.

[8] Edith Stein, Das Gebet der Kirche, in: Verborgenes Leben, Bd. XI, Freiburg 1987, 18. In diesem Passus sind die drei Heiligen vereint, die von Johannes Paul II. zu Mitpatroninnen Europas ernannt wurden: Birgitta von Schweden, Katharina von Siena, Teresia Benedicta a Cruce. Vgl. Apostolisches Schreiben als „Motu Proprio“ erlassen zur Ausrufung der hl. Brigitta von Schweden, der hl. Katharina von Siena und der hl. Teresia Benedicta a Cruce zu Mitpatroninnen Europas: 1. Oktober 1999, Bonn: Sekretariat d. Dt. Bischofskonferenz 1999.

 

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