Caterinas Persönlichkeit als Frau

Ambrogio Borgognone, 1470–1524: Die hl. Jungfrau mit dem Jesuskind und Caterina von Siena, Ausschnitt (akg-images)

 

Raimund von Capua berichtet in seiner Caterina-Biographie, Gregor XI. habe sich bei seinen Überlegungen, wer die gefährliche Friedensmission nach Florenz auf sich nehmen könnte, für Caterina entschieden mit den Worten: „Ihr werden sie nichts Böses antun, zum einen, weil sie eine Frau ist, aber auch weil sie Respekt vor ihr haben“ (Legenda Maior 421). Damit hatte der Papst etwas ausgesprochen, was bereits damals die Menschen beeindruckte, nämlich ihre frauliche Würde, die Achtung erwirkte.

Viele hielten Caterina bereits zu Lebzeiten für eine Heilige und eine wahrhaft große Frau. Im Orcia-Tal kamen die Menschen zu Tausenden, um sie zu sehen und zu hören (vgl. Prozess, S. 595; Legenda Maior 239), andere knieten vor ihr nieder und küßten ihre Hände (vgl. Prozess, S. 496). In Pisa wurde sie im Triumphzug durch die Stadt geleitet, und Urban VI. forderte sie in Rom auf, vor dem Kardinalskollegium zu sprechen, um sie dann mit der Bemerkung zu loben: „Diese schwache Frau beschämt uns … sie steht ohne Furcht, während wir zittern, und sie stärkt uns mit ihren überzeugenden Worten“ (Legenda Maior 334).

Inzwischen sind mehr als 600 Jahre vergangen. Was geblieben ist, sind ihre kraftvollen Worte, die auch heute noch stärken, aber auch das Geheimnis ihrer Person. In der Einleitung zu den liturgischen Texten am Fest der hl. Caterina von Siena am 29. April heißt es im Schott-Messbuch gleich zu Beginn (1): „Caterina ist eine aufregende und rätselhafte Heiligengestalt“. Diese pointierte Charakteristik passt nicht nur für ihre Persönlichkeit, sondern sie ist auch zutreffend für ihr Erscheinungsbild als Frau. Denn während die einen sie „nicht sehr anziehend“ (2) finden und ihr sogar ein „androgynes Bewusstsein“ (3) unterstellen wollen, vergleichen sie andere wieder mit der alttestamentlichen Judith und Deborah, bezeichnen sie als Jeanne d’Arc Italiens (4) und bewundern an ihr den „Zauber ihrer Erscheinung“ (5) und den Genius der Frau! Und in der Tat, obwohl sie geschwächt und abgemagert war aufgrund ihrer asketischen Lebensweise und zudem noch von zahlreichen Beschwerden heimgesucht wurde, besaß Caterina eine unerhörte Ausstrahlung und den unwiderstehlichen Charme einer äußerst liebenswürdigen und faszinierenden Frau.

Bereits ein Blick auf das Gemälde von Andrea Vanni in der Basilika San Domenico in Siena lässt etwas von dieser Rätselhaftigkeit erahnen. Dargestellt mit einer Lilie in der Hand und einer vor ihr knienden Person wirkt sie gegenwärtig und zugleich wie aus einer anderen Welt. Es scheint, als würden sich Diesseits und Jenseits, Zartheit und Kraft, geduldige Güte aber auch drängende und befehlende Autorität ganz harmonisch in ihr begegnen. Sie „gebietet“ Stefano Maconi Kartäuser zu werden (Prozess, S. 385), „drängt und befiehlt“ einer Äbtissin (Brief 30) und erklärt der Königin von Neapel, dass sie der Stock „hart treffen“ werde (Brief 312), wenn sie sich gegen Gott auflehnt – und im selben Atemzug schreibt sie: Ich bin eine „durch Christi Blut freigekaufte Sklavin“ und bereit, mein Leben „für die Wahrheit hinzugeben“ und für jene, „die Gott mir gegeben hat“ (Brief 206). Sie hält den Adressaten ihrer Briefe einen Spiegel vor Augen und drängt sie zur Umkehr, um dann im nächsten Augenblick deren Fehler ihrer eigenen Sündhaftigkeit zuzuschreiben, mit dem Versprechen, für die Wiedergutmachung selber in die Schranken zu treten – wenn nötig sogar unter Einsatz ihres eigenen Lebens.

Raimund, ihr Biograph, und ihre Schüler bezeugen ihre Wunder und Ekstasen und wie sie drei Jahre in einer kleinen Kammer in ihrem Elternhaus gelebt hat (6); sie erzählen aber auch von ihren Arbeiten im Haushalt, von ihrer Liebe zu den Blumen (Prozess, S. 56f) und wie sie oft zu Tränen gerührt war und manchmal tagelang geweint hat (Legenda Maior 202f); wir erfahren, dass sie eine kleine Hauskapelle hatte, mit mehreren päpstlichen Privilegien ausgestattet war, zwei Silberkelche (vgl. Prozess, S. 486; Legenda Maior 315–316; Supplementum II, 6, 57) und ein kostbares Kreuz besaß (Brief 27), Paramente anfertigte (7) und stets liebenswürdig, freundlich und heiter war (vgl. Prozess, S. 73; 483; 590; 676) – eine Eigenschaft, die sie besonders ausgezeichnet hat und die auch aus einigen Briefen erkennbar ist, wenn sie etwa von der „dicken Alessa“ (Brief 204) schreibt, die sich „in den Brief einwickeln möchte, um mitgeschickt zu werden“ (Brief 127) oder sich dem Adressaten „hunderttausendmal“ empfiehlt (Brief 70). Raimund berichtet auch, wie sie einmal mit ihrem Reittier zu Boden geschleudert wurde, der kleine Esel auf ihr zu liegen kam und sie herzlich zu lachen begann und dabei sagte: „Dieses Eselchen wärmt mir die Seite, wo ich meine Bauchschmerzen spüre“ (Legenda Maior 417). Es sind dies alles nur kleine Details, aber sie zeigen uns dennoch etwas vom Reichtum ihrer Persönlichkeit.

Ganz anders dagegen ist ihr Bild, wie es uns aus dem Dialog, ihren Gebeten und auch aus den Briefen entgegentritt. Hier erscheint sie uns nüchterner, äußerst intelligent, theologisch versiert, bildgewaltig, sprachgewandt und selbstbewusst. Sie ist als Vermittlerin und Gesandte unterwegs, sie wird bewundert und kritisiert (8), sie weiß sich als Lehrende gegenüber ihren Schülern, und sie neigt dazu, ihren Willen auch temperamentvoll durchzusetzen. Sie schätzt Demut und Geduld, aber auch Mut und Tapferkeit. „Männlich“ und „mannhaft“ – im Gegensatz zum eher negativ verwendeten „weiblich“ – sind ihre bevorzugten Begriffe, um den positiven Charakterzug einer Person zum Ausdruck zu bringen (9).

„Ihr habt eine Kehrtwendung gemacht wie eine labile Frau“, schrieb sie an die Königin von Neapel, denn Eure Untergebenen finden nicht den Charakter „eines Mannes mit tapferem Herzen“ in Euch, sondern den einer „schwachen Frau ohne Festigkeit und Standvermögen“ (Brief 317). Auch an Raimund, ihren Beichtvater, appelliert sie, er möge tugendhaft, das heißt „männlich“ handeln und kein „Weib“ sein. Caterina drängte zur Tat – aber sie beließ jedem seine Freiheit. Sie wollte keinen Zwang. Lieb war ihr der spontane Edelmut, der sich auf vielfältigste Weisen äußern durfte. Und so könnte man fortfahren, diese „Gegensätze“ aufzuzeigen, die scheinbar aus ihr sprechen und an ihr sichtbar werden.

Es ist dieses gewisse Etwas, das von ihr ausgeht und alle Biographen irritiert hat, einen N. G. M. van Doornik (10) ebenso wie vor ihm Johannes Jørgensen, der nicht umhin konnte, sein anfängliches Urteil über Caterina wieder zurückzunehmen und zu bekennen: „Ich geriet in ihren Bann und musste mich auf Gnade und Ungnade ergeben – genauso wie der Franziskaner (Fra Lazzarino), der erst so heftig gegen sie gestritten hat.“(11) Und so erging es allen, die sich jemals mit dieser Heiligen aus Siena befasst haben.

Als Stefano Maconi, Caterinas späterer Sekretär und Lieblingsjünger, ihr zum ersten Mal begegnete, hatte er eine schüchterne Jungfrau erwartet und war dann höchst erstaunt, stattdessen eine junge Frau seines Alters vor sich zu sehen, die ihn mit einer herzlichen Zuneigung aufnahm, „so als würde sie einen aus der Fremde heimkehrenden Bruder liebevoll empfangen“ (Prozess, S. 383). Ähnlich erlebten es auch andere. Was alle jungen Männer beeindruckte, die mit Caterina in Berührung kamen, war die große Ausstrahlung ihrer Reinheit. Während sie sonst bei der Begegnung mit einer weiblichen Person zumeist „die Frau“ in ihnen sahen, empfanden sie in der Nähe Caterinas etwas von der Reinheit und Heiligkeit Gottes (vgl. Prozess, S. 426). Auch Raimund bezeugt später in seiner Biografie, dass es „nicht nur die Ausstrahlungskraft ihrer lebendigen Stimme“ war, „sondern allein schon ihre persönliche Nähe“, wodurch sich die Menschen „zum Guten hingezogen fühlten und eine große Freude in Gott empfanden“ (Legenda Maior 27).

Damit nähern wir uns dem Kern von Caterinas Persönlichkeit als Frau, so wie sie von ihrer Umgebung erfahren wurde, nämlich jener weiblichen Ausprägung, die in ihr bestimmend und vorherrschend war und ihr eine gewisse marianische Note verlieh: der Jungfrau und Braut, Mutter und Magd. Die Brautschaft mit Christus begann bei Caterina bereits in den Mädchenjahren nach der Christus-Vision über dem Dach von San Domenico und fand dann später in der „mystischen Hochzeit“ ihre bleibende Bestätigung, als Christus sich ihr im Glauben vermählte und diesen Bund mit einem unsichtbaren Ring besiegelte (vgl. Legenda Maior 115). Obwohl sie in ihren Briefen darauf nie direkt Bezug nahm, war sie von dieser bräutlichen Erwählung dennoch tief durchdrungen, wie aus zahlreichen Textstellen deutlich wird (12). Vor allem in ihren Briefen an die Ordensfrauen verwendet sie diese „hochzeitliche“ Sprache, die an das alttestamentliche Hohelied erinnert, an die Braut, die „den Spuren ihres Bräutigams folgt“ (vgl. Brief 79; 163). Für Caterina war die Gnade der Erwählung zur Braut Christi unendlich kostbar. Der „Ort“ aber, an dem ihre weibliche Glut am stärksten sichtbar werden sollte, war ihre „Mütterlichkeit“.

Ohne eigenes Zutun hatte sich im Laufe der Zeit eine Gruppe von Personen um Caterina gebildet, die ihr treu ergeben waren und sie kindlich liebten und verehrten. Zu dieser Familie gehörten Mantellatinnen und adelige Damen, aber auch Männer von großer Bildung, Politiker, Mönche, Künstler und Bankiers. Sie alle nannten sie „Mutter“, und sie sahen es als Ehre an, ihr dienen zu dürfen. Die Anziehungskraft ging von Caterina aus, und die Mitglieder suchten in erster Linie ihre persönliche Nähe. Wenn sie bei ihr zusammenkamen, waren sie wie Schüler, die etwas sehr Schönes erlebten: die Aura der Reinheit und der Heiligkeit und die Stimme einer Frau, die zu ihnen über die Erfahrung der Gnade und das Übermaß der Liebe Gottes sprach. Es war die allerseligste Jungfrau selbst, erklärt Raimund in seiner Biographie (Legenda Maior 301), „die uns zu verstehen gab“, dass Caterina ihren Kindern das geistige Brot reichen sollte: „Darum haben wir alle, gleichsam vom Heiligen Geist gedrängt, Caterina Mutter genannt, und das nicht ohne Grund. Denn sie war uns wahrhaftig eine Mutter, die uns unaufhörlich und nicht ohne Seufzen und Ängste aus dem Schoß ihres Geistes geboren hat, bis Christus in uns Gestalt annehmen konnte, und die uns andauernd genährt hat mit dem Brot ihrer nützlichen und heilsamen Lehre.“

Caterina hat gewiss auch von ihren Schülern gelernt, unter denen hervorragende Theologen waren. Dennoch war sie die anerkannte Autorität. An ihren Schüler, den Theologieprofessor Giovanni Tantucci Terzo, schrieb sie (Brief 80): „Ihr habt mir mitgeteilt, dass ein Kind nicht leben kann ohne die Milch und die flammende Liebe seiner Mutter. Wenn Ihr also den Willen habt, so zaudert nicht zu kommen, um sie zu erhalten!“; und an Francesco Malavolti, der als ein stadtbekannter Frauenheld ihr besonderes „Sorgenkind“ war: „Ich möchte Dich wiederfinden, Du kleines, verlorenes Schaf! Ich ersehne es sehr! Ich möchte Dich in den Schafstall und in die Herde Deiner Kameraden zurückführen. Aber es scheint, dass der Teufel Dich gestohlen und weit weggebracht hat, damit ich Dich nicht wiederfinden kann. Ich, Deine arme Mutter, suche Dich und lasse nach Dir suchen, weil ich Dich gerne auf die Schultern nehmen möchte, auf die Schultern meiner Sorge und meines Mitleids mit Deiner Seele ... Komm! Komm, liebster Sohn! – Ich kann Dich wohl lieber Sohn nennen, denn Du kostest mich so viele Tränen, so viel Schweiß und so viel Bitterkeit. – Komm jetzt und kehre in Deine Herde zu­rück“ (Brief 45). Auf ähnlich mütterliche Weise verteidigte sie ihre Kinder auch bei einer drohenden Gefahr: „Wenn Euch der Dämon im Gewissen beunruhigen möchte“, schrieb sie an Bartolomeo Dominici (Brief 204), „dann sagt ihm, dass er sich mit mir auseinandersetzen soll, denn die Mutter muss Rechenschaft ablegen über ihr Kind.“ Einem Novizen, der sich im Kreis ihrer geistlichen Familie zu wenig aufgenommen fühlte, obwohl er Caterinas Nähe ersehnte, ließ sie ausrichten (Brief 105): „Sagt dem Fra Simone, meinem Sohn in Christus Jesus, dass ein Kind nie Angst hat, zur Mutter zu gehen. Im Gegenteil, es läuft zu ihr, besonders dann, wenn es sich verletzt fühlt. Und die Mutter nimmt es in ihre Arme, zieht es an ihre Brust und nährt es. Wenn ich auch eine schlechte Mutter bin, so werde ich ihn dennoch immer liebend an meinem Herzen tragen“ (13).

Nicht nur bei ihren geistlichen Kindern, sondern auch Außenstehenden und sogar dem Papst gegenüber bediente sich Caterina einer Bildersprache, wie sie keine heutige Briefschreiberin wagen würde: Unbefangen sprach sie von der Brust der Mutter und von der Milch, vom Stillen oder vom Entwöhnen des kleinen Kindes, bei dem sich die Mutter etwas Bitteres auf ihre Brust streicht. Caterina übernahm diese Erfahrungen aus dem Alltag, um damit spirituelle und mystische Vorgänge zu illustrieren, als Metaphern für das Gebet, für die Liebe oder die Kirche oder auch, um dadurch – in Anspielungen auf die Mütterlichkeit Mariens – Gottes Er barmen aufzuzeigen: „Wende Dich an die süße Maria, die Mutter des Mitleids und der Barmherzigkeit“, schrieb sie einer Dirne in Perugia, „sie wird Dich vor ihren Sohn führen und ihm für Dich ihre Brust zeigen, mit der sie ihn gestillt hat, und ihn so geneigt machen, Dir gegenüber barmherzig zu sein“ (Brief 276).

Wenn Francesco Malavolti wieder seinen Leidenschaften nachgegangen war, hielt sie ihm anschließend keine Strafpredigt – jedenfalls ist nichts davon berichtet –, aber sie drängte ihn zur Beichte, und sie wusste, dass er eines Tages sein Leben ändern werde. „Er kann meinen Händen nicht entfliehen“, hatte sie prophetisch verheißen, „denn ich werde ihm eines Tages eine solche Schlinge umlegen, dass er sich nicht mehr davon frei machen kann“ (Prozess, S. 562). Tatsächlich bekam er nach Caterinas Tod in einer Traumvision von ihr die Weisung, bei den weißen Benediktinern in Monteoliveto Maggiore einzutreten. Und so wurde er Ordensmann und später sogar Abt.

In ihrem spirituellen Hauptwerk, dem Dialog, wurde Caterina von Gott belehrt, dass Er seine heiligste Mutter gleichsam als eine Art „Köder“ (Dialog 139; Brief 272) verwende, um durch sie die Sünder zur Umkehr zu bewegen und an sich zu ziehen; genauso würde Er auch menschliche Zuneigung in diesem Sinn geschehen lassen (Dialog 144). Caterina war tatsächlich für viele ein derartiger „Köder“ zum Heil. Ihre ganz in Gott geborgene Liebe war so weit und rein, dass sie auch Raum bot für eine besondere menschliche Nähe. Neri etwa gehörte dazu, der Poet und Dante-Liebhaber, der ihr als Schreiber diente; noch mehr liebte sie den jungen Barduccio, „wohl deshalb, weil er jungfräulich war“, wie Raimund bemerkte (Legenda Maior 341); auch er hatte Caterina als Sekretär gedient. Auf ihren Rat hin, war er nach ihrem Tod Weltpriester geworden und bald darauf verstorben. Am meisten aber war Caterina ihrem gleichaltrigen Sekretär Stefano Maconi zugetan. Weil sie (gewiss als Heilige, aber auch in fraulicher Intuition) gespürt hat, was Stefanos sehnlichster Wunsch war – nämlich so oft wie möglich in ihrer Nähe zu sein –, nahm sie ihn mit nach Avignon. Stefano selbst bezeugte in seiner Aussage für den Prozess (S. 386), dass er „mehr als viele andere eine sehr enge Beziehung zu ihr gehabt habe“ und dass sie ihn über seine Verdienste hinaus liebte „mit den tiefsten Gefühlen einer Mutter, so dass viele ihrer geistlichen Kinder darüber ungehalten und eifersüchtig waren“ – wobei man sich hier freilich keine erotische Eifersucht vorstellen darf, da Caterina für alle fraglos die „Mama“ war.

Auch mit Raimund von Capua, ihrem dominikanischen Ratgeber und Beichtvater, verband Caterina eine Freundschaft, wie sie nur zwischen besonders edlen Charakteren bestehen kann. Ob wohl er ihr Vorgesetzter war und um siebzehn Jahre älter als Caterina, nannte er sie ebenfalls „Mutter“, während sie ihn als ihren lieben Vater und „Sohn“ bezeichnete, für den sie sich vor Gott verantwortlich wusste. Wenn er sich ihrer Vorstellung nach als zu schwach zeigte, wies sie ihn gütig, aber entschieden zurecht, und sie ermahnte ihn, sich von jeder menschlichen Anhänglichkeit zu lösen, „ich sei dabei die erste“ (Brief 102). Dennoch hatte sie beim Ab schied Tränen in den Augen, als er in Ostia das Schiff bestieg (Legenda Maior 336). Für das ewige Glück Raimunds hätte sie ihr Leben gegeben.

Ein bekanntes Beispiel für die Anziehungskraft dieser reinen Liebe ist auch die Episode mit dem jungen Niccolò Toldo, den sie vor seiner Hinrichtung im Gefängnis besuchen und durch die allmähliche Zuneigung, die er zu ihr gewann, mit Gott versöhnen konnte. Manche haben versucht, dies als Romanze zu interpretieren (14), besonders wegen jener Stelle, wo Caterina in ihrem Brief an Raimund berichtet, er habe im Kerker seinen Kopf an ihre Brust gelehnt, wobei sie den Duft seines Blutes spürte (Brief 273). Aber auch auf Rocca d’ Orcia barg sie den Kopf des Besessenen in ihrem Schoß, während sie mit dem Blick nach oben betete und ihr Antlitz dabei erstrahlte (15).

Manche haben bei der Betrachtung von Caterinas Weiblichkeit aus biographischen Fakten falsche Schlüsse gezogen. Etwa aus der Tatsache, dass sie als Kind mit dem Gedanken spielte, die heilige Euphrosyne nachzuahmen und als Mann verkleidet in ein Dominikanerkloster einzutreten (vgl. Legenda Maior 38), oder dass sie mit dem Gelübde der Jungfräulichkeit und dem Abschneiden der Haare im Grunde nur versucht habe, ihrem kommenden Frausein zu entfliehen (16). Und tatsächlich sei es ihr dann mit dem Auftreten in der Öffentlichkeit und mit ihrem kirchlichen Engagement auch gelungen, in „männliche Räume“ (17) einzudringen. Derartige (oft ideologischen Vorurteilen verpflichtete) Interpretationen übersehen aber dabei das außergewöhnliche Wirken der Gnade. Gewiss hat Caterina die für Frauen damals üblichen Grenzen oftmals überschritten. Aber das geschah nicht, um in „männliche Räume“ einzudringen, um die kirchliche Ordnung oder die von Männern gestaltete politische Welt in Frage zu stellen, sondern sie tat es mit dem Ziel, sie in ihren eigentlichen, von Gott als gut geplanten Zustand zurückzuversetzen. Außerdem tat sie dies nur, wenn sie von Autoritäten dazu aufgefordert wurde oder im Bewusstsein ihrer göttlichen Sendung. Aus ihrer Sorge um das Heil der Seelen wollte sie mit der ihr geschenkten Gabe der Rede innerhalb der dominikanischen Ordensfamilie den Menschen das Wort Gottes nahebringen, und zwar als Frau, als Terziarin des heiligen Dominikus, durch ihre Worte und ihr Beispiel, durch ihre persönlichen lehrreichen Unterweisungen, vor allem aber durch schriftliche Kommunikation in Form ihrer Briefe.

Caterina schätzte den Mut. Was sie nicht mochte, war die Feigheit, die Unentschlossenheit, Wankelmut und Zaghaftigkeit, Verweichlichung und Schwäche. Dieser Grundzug ihrer Persönlichkeit hängt zutiefst zusammen mit der christlichen Überzeugung, dass es ohne Kampf keinen Sieg und ohne Kreuz keine Auferstehung gibt. Er ist Ausdruck dafür, wie sehr sie die Hingabe geliebt hat, die Bereitschaft als Braut für Christus zu kämpfen und für die Wahrheit zu sterben. Und zwar mit derselben Entschlossenheit, wie sie auch an der Mutter des Herrn sichtbar wurde, als sie mutig unter dem Kreuz ihres Sohnes stand. Caterina hat deshalb alle ihre Briefe „im Namen des gekreuzigten Jesus Christus und der süßen Jungfrau Maria“ begonnen.

Die Heilige aus Siena war eine wahre Braut Christi, eine Tochter der Kirche und eine zugleich stets besorgte Mutter ihrer geistlichen Kinder. In verschiedenen Briefen hat sie sich selbst so bezeichnet und als deren „törichte“, „elende“ oder „unwissende Mutter“ bekannt. Die Selbstbezeichnung aber, die sie nicht nur für ihre „Kinder“, sondern auch für alle anderen in ihren Briefen (370-mal!) verwendete, war die Bezeichnung „Dienerin und Magd (18) der Diener Jesu Christi“, das heißt der Priester. Wer Caterinas Persönlichkeit betrachten und ihrem Selbstverständnis als Frau gerecht werden möchte, kann diesen entscheidenden Akzent ihrer Weiblichkeit nicht außer Acht lassen. Sie wollte Christus dienen und seiner heiligen Kirche, die sie mit ihm gleichsetzte (19), und zwar „dienen“ als Braut, als Mutter und vor allem als Magd. So hat sie sich selbst gesehen und auch verstanden.

Vielleicht gründet gerade darin etwas vom Geheimnis ihres Wesens, dass sie nämlich ihr Frausein zutiefst marianisch gelebt hat – als Braut für Gott, den ihr Anvertrauten gegenüber als Mutter, vor aller Welt aber und der Kirche hingegeben bis zuletzt als Magd des Herrn – und damit neben ihrem spirituellen Werk auch eine zeitlose Botschaft hinterlassen hat in ihrer Berufung und Sendung als Frau.

 

Anmerkungen:

(1) Schott-Messbuch für die Wochentage, Teil I, Freiburg 1984, S. 1785.

(2) Vgl. Robert Fawtier/Louis Canet, La double expérience de Catherine Benincasa, Paris 61948, S. 239.

(3) Lioba Berg, Caterina in Siena. Über den Alltag einer Heiligen, Freiburg 1963, S. 92.

(4) Vgl. Thomas Käppeli OP, Briefe der hl. Katharina v. Siena (Dominikanisches Geistesleben, Bd. 7), Oldenburg 1931, S. 13.

(5) Walter Nigg/Helmuth N. Loose, Katharina von Siena, Freiburg 1980, S. 32.

(6) Im Mittelalter gab es neben den Formen eines organisierten Eremitentums auch die freie Form, in der Art der Inklusen (Reklusen), die in Verbindung mit Gemeinschaften, Kirchen oder auf sich selbst gestellt lebten. Bis zur Geburt Caterinas (1347) lebten in und um Siena etwa   250 (!) Frauen als Einsiedlerinnen, die von der Gemeinde durch Spenden unterstützt wurden. Caterinas drei Jahre andauernde Zurückgezogenheit könnte davon inspiriert gewesen sein (vgl. Allison Clark Thurber, Female urban reclusion in Siena at the time of Catherine of Siena, in: A companion to Catherina of Siena, Boston 2012, S. 47–72).

(7) Vgl. Jörg Jungmayr, Die Legenda Maior (Vita Catharinae Senensis) des Raimund von Capua. Edition nach der Nürnberger Handschrift Cent. IV, 75, Übersetzung und Kommentar (zweisprachige Ausgabe). 2 Bde. Berlin 2004, S. 1028.

(8) Die Kritiker stießen sich vor allem an ihren vielen Reisen: „Warum reist dieses Weib in der ganzen Welt umher?“ (Prozess, S. 167). Ähnlich erging es später Teresa von Àvila, die als „unruhiges und vagabundierendes Frauenzimmer“ bezeichnet wurde (vgl. Teresa von Àvila, Briefe II, Freiburg 2011, S. 437, Anm. 12).

(9) Vgl. Umberto Mattioli, La tipologia „virile“ nella Biografia e nella Letteratura cateriniana, in: Congresso internazionale di studi cateriniani 1980, Atti. Roma 1981, S. 198–222. Über 220-mal werden die Ausdrücke „männlich“ und „mannhaft“ von Caterina in ihren Briefen verwendet. Aber wenn sie die Tapferkeit und den Mut auch besonders schätzt und ihn – in Verbindung mit dem geistigen Kampf (vgl. 1 Kor 16,13: „Seid mutig und stark!“) und der Erfahrung des kämpfenden Ritters zu ihrer Zeit – auch als typisch „männlich“ einstuft, so sind von ihr andere unverzichtbare und wesentliche Haltungen dagegen als „weiblich“ dargestellt, etwa die Geduld, die sie als „Königin“ preist (vgl. Brief 38 und 297) oder die Freiheit des Menschen, die von ihr als „Frau“ bezeichnet wird.

(10) Vgl. N.G.M. van Doornik, Katharina Benincasa. Eine Frau, die in der Kirche nicht schwieg, Freiburg 1980, S. 10.

(11)  Johannes Jørgensen, De heilige Caterina van Siena, Hilvesum 1931, S. 1.

(12) Caterina spricht meist allgemein von Christus als dem Bräutigam der Seele, um die er eifersüchtig wirbt. Nur im Brief an ihre vertraute Freundin Alessa gebraucht sie den Ausdruck „mein (ewiger) Bräutigam“ (Brief 119) und ebenso in drei Briefen an ihren Beichtvater Raimund von Capua (Brief 226; 273; 295).

(13) Noch im Alter erinnert sich Fra Simone, wie er einmal mit Fieber in Begleitung eines Mitbruders bei Caterina erschien, während sie gerade mit ihren Mitschwestern bei Tisch saß. Und als er schüchtern an der Tür stehen blieb, rief sie ihn zu sich an ihre Seite und gab ihm mit ihrem eigenen Löffel die Suppe; und als sie von seinem Fieber erfuhr, drückte sie ihn an ihre Brust, machte das Zeichen des Kreuzes auf seine Stirn und heilte ihn so von der Krankheit (vgl. Prozess, S. 682).

(14) Eine Zusammenfassung der verschiedensten Kommentare zu dieser Stelle findet sich bei: Gambirosio, Nota su una frase della lettera su Niccolò di Tuldo, in: S. Caterina da Siena, creatura dello Spirito, ed. Giacinto D’ Urdso (Rivista de ascetica e mistica, Firenze 1980), S. 145–149.

(15) Vgl. Prozess, S. 584. Raimund berichtet allerdings auch (Legenda Maior 407), dass sich ein junger Edelmann und Priester in Caterina hoffnungslos verliebt habe und dann den Orden verließ und sich das Leben nahm. (Vgl. dazu auch die Darstellung in den Miracoli, in: Le Lettere di Santa Caterina da Siena, a cura di Piero Misciatelli, Firenze 1970, Vol. VI, S. 163).

(16) Vgl. Lioba Berg, a.a.O., S. 63.

(17) Vgl. Ruth Albrecht, Kleider machen Leute. Entdeckungen feministischer Kirchengeschichtsforschung am Beispiel der Katharina von Siena (1347–1380) und der Euphrosyne (5. Jh. n. Chr.), in: Theologie feministisch, hgg. von Marie-Theres Wacker, Düsseldorf 1988, S. 104–107.

(18) Wörtlich: schiava – Sklavin.

(19) „Denn die Kirche ist nichts anderes als derselbe Christus“ (Brief 171).

 

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