Homilie, Sonntag 4. Oktober 1970

 

Paul VI.

Ansprache in St. Peter in Rom anläßlich der Erhebung der hl. Caterina von Siena zur Würde einer Kirchenlehrerin

 

Der spirituelle Jubel der Unsere Seele erfüllt, da wir die durch Demut und Weisheit sich auszeichnende dominikanische Ordensfrau Caterina von Siena zur Kirchenlehrerin erheben, findet seinen  höheren Bezug und, sagen wir, seine Berechtigung in der tiefen Freude, die unser Herr Jesus Christus empfunden hat, als er, wie der Evangelist Lukas berichtet „vom Heiligen Geist erfüllt voll Freude“ ausrief: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast. Ja, Vater, so hat es dir gefallen.“ (1)

In Wahrheit hatte Jesus, als er dem Vater dafür dankte, dass er die Geheimnisse seiner göttlichen Weisheit den Demütigen geoffenbart hatte, nicht nur die Zwölf im Sinn, die er aus dem einfachen Volk ausgewählt hatte und die er eines Tages als seine Apostel aussenden sollte, um alle Völker zu lehren, das zu befolgen, was er ihnen geboten hatte (2), sondern auch alle, die an ihn glauben würden, und von denen viele zu den in den Augen der Welt weniger Begabten zählen würden.

Der Völkerapostel freute sich das anzumerken, als er an die griechische Gemeinde von Korinth schrieb, einer Stadt, in der es von Personen wimmelte, die sich von menschlicher Gelehrsamkeit beeindrucken ließen. „Seht doch auf eure Berufung, Brüder! Da sind nicht viele Weise im irdischen Sinn, nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme, sondern das Törichte in der Welt hat Gott erwählt, um die Weisen zuschanden zu machen, und das Schwache in der Welt hat Gott erwählt, um das Starke zuschanden zu machen. Und das Niedrige in der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt: das, was nicht ist, um das, was etwas ist, zu vernichten, damit kein Mensch sich rühmen kann vor Gott.“ (3)

Dass Gott es vorzieht, das auszuwählen, was in den Augen der Welt als unwichtig oder verachtenswert gilt, hatte der Meister bereits verkündet als er – in Antithese zu den weltlichen Bewertungen - die Armen, die Trauernden, die, die keine Gewalt anwenden, die, die nach Gerechtigkeit dürsten, die, die ein reines Herz haben und die, die Frieden stiften (4) als Selige bezeichnete, die in sein Reich eingehen würden.

Es ist nicht Unsere Absicht bei der Hervorhebung zu verweilen, dass die Seligpreisungen des Evangeliums im Leben und im Wirken Caterinas ein Vorbild höchster Wahrheit und Schönheit erfahren haben. Ihr alle wisst zudem, wie frei ihr Geist von jeder weltlichen Begierde war; wie sehr sie die ihrem himmlischen Gemahl Jesus Christus geweihte Jungfräulichkeit geliebt hat, wie sehr sie nach Gerechtigkeit dürstete, wie sehr ihr Innerstes von Barmherzigkeit erfüllt war, bei dem Versuch, den Familien und den Städten, welche von Rivalitäten und schrecklichem Hass zerrissen waren, den Frieden wieder zu bringen und wie sehr sie sich aufgeopfert hat, um die Republik Florenz mit Papst Gregor XI. wieder zu versöhnen, bis zu dem Punkt, ihr eigenes Leben der Rache der Aufständischen auszusetzen. Wir machen auch nicht dabei Halt, die außergewöhnlichen mystischen Gnaden zu bewundern, die der Herr ihr gewähren wollte, darunter ihre mystische Vermählung und die heiligen Wundmale. Wir glauben weiter, dass es nicht den gegenwärtigen Umständen entspricht, an die selbstlosen Bemühungen der Heiligen zu erinnern, den Papst zur Rückkehr an seinen rechtmäßigen Sitz in Rom zu bewegen. Der Erfolg, den sie schließlich erzielte, war in der Tat das Meisterwerk ihrer Tätigkeit, das für immer ihr größter Ruhm bleiben wird und ihr einen ganz besonderen Rechtstitel für die ewige Dankbarkeit von Seiten der Kirche verschafft.

Wir halten es hingegen in diesem Moment für angemessen, wenn auch kurz, den zweiten der Gründe herauszustellen, der in Übereinstimmung mit dem Urteil der Kirche dazu berechtigt, der Tochter der berühmten Stadt Siena den Doktortitel zu verleihen: und das heißt die besondere Vortrefflichkeit ihrer Lehre.

Was den ersten Grund, das heißt ihre Heiligkeit anbelangt, wurde deren feierliche Anerkennung in ausführlicher Weise und in unverkennbar humanistischem Stil von ihrem Landsmann Papst Pius II. in der von ihm selbst verfassten Bulle Misericordias Domini ausgedrückt. (5) Die besondere liturgische Feier fand am 29. Juni 1461 im Petersdom statt.

Was ist also über das Außerordentliche der Lehre Caterinas zu sagen? Wir finden in den Schriften der Heiligen, das heißt in ihren in beträchtlicher Zahl erhaltenen Briefen, im Dialog von der göttlichen Vorsehung oder im Buch von der göttlichen Lehre sowie in den „Gebeten“ sicherlich nicht die apologetische Kraft und die theologische Kühnheit, welche die Werke der Großen der alten Kirche sowohl im Osten als auch im Westen auszeichnen; noch können wir von der nicht zu den Gelehrten zählenden Jungfrau aus Fontebranda die hochgeistigen Überlegungen erwarten, die der systematischen Theologie eigen sind und die die Gelehrten der mittelalterlichen Scholastik unsterblich gemacht haben. Und wenn sich auch in ihren Schriften in überraschender Weise die Theologie des Doctor Angelicus widerspiegelt, so erscheint sie hier jedoch bar jeder wissenschaftlichen Verkleidung. Was bei der Heiligen hingegen am meisten beeindruckt, ist ihre überfließende Weisheit, das heißt ihr klares, tiefes und überwältigendes Verständnis der göttlichen Wahrheit und der Glaubensgeheimnisse, die in den heiligen Schriften des Alten und des Neuen Testaments enthalten sind: ein Verständnis, das von, ja, ungewöhnlichen natürlichen Gaben begünstigt wird, das aber offensichtlich außergewöhnlich ist und auf ein Charisma der Weisheit des Heiligen Geistes, ein mystisches Charisma zurückzuführen ist.

Caterina von Siena bietet in ihren Schriften ein leuchtendes Beispiel für das Charisma der Ermutigung, der Worte der Weisheit und der Worte der Wissenschaft, auf deren Wirken in einigen Gläubigen der heilige Paulus bei den urchristlichen Gemeinschaften hingewiesen hat und deren Einsatz er durch den Verweis darauf ordnen wollte, dass derlei Gaben nicht so sehr denen, die damit ausgestattet sind zum Vorteil gereichen, als vielmehr dem ganzen Leib der Kirche:  wie in ihm – so erklärt der Apostel – : „das alles ein und derselbe Geist bewirkt; einem jeden teilt er seine besondere Gabe zu, wie er will“ (6), so müssen auf alle Glieder des mystischen Leibes Christi die Wohltaten des spirituellen Schatzes überfließen, den sein Geist spendet. (7)

„Doctrina eius (scilicet Catharinae) non acquisita fuit; prius magistra visa est quam discipula“ (8) schreibt Pius II. in der Heiligsprechungsbulle. Und wirklich, wie viele Strahlen übermenschlicher Weisheit, wie viele eindringliche Aufrufe zur Nachfolge Christi in allen Geheimnissen seines Lebens und seines Leidens, wie viele nützliche Anleitungen für die Ausübung der Tugenden, die den verschiedenen Lebensformen eigen sind, finden sich überall in den Werken der Heiligen! Ihre Briefe sind wie Funken eines geheimnisvollen Feuers, welches in ihrem von der Unendlichen Liebe, dem Heiligen Geist, brennenden Herzen entzündet wurde.

Aber welches sind die charakteristischen Grundzüge, die vorherrschenden Themen ihrer asketischen und mystischen Lehre? Uns scheint, dass Caterina in der Nachfolge des „ruhmreichen Paulus“ (9), dessen kräftiger und ungestümer Stil sich manchmal bei ihr wiederfindet, die Mystikerin des fleischgewordenen Wortes und vor allem des gekreuzigten Christus ist; sie verherrlichte die befreiende Kraft des anbetungswürdigen Blutes des Gottessohnes, das am Holz des Kreuzes in selbstloser Liebe zum Heil des ganzen Menschengeschlechts vergossen wurde (10). Die Heilige sieht das Blut des Erlösers ständig kraft der Handlungen der geistlichen Diener im Messopfer und in den Sakramenten fließen, um den gesamten mystischen Leib Christi zu reinigen und zu schmücken. Wir könnten Caterina daher als die Mystikerin des mystischen Leibes Christi, das heißt der Kirche, bezeichnen.

Andererseits ist die Kirche für sie eine wirkliche Mutter, der man sich fügen, der man Ehrerbietung entgegenbringen und der man Beistand leisten muss. „Weil – so wagt sie zu sagen – die Kirche nichts anderes ist als Christus.“ (11)

Wie groß war daher die Hochachtung und die leidenschaftliche Liebe, welche die Heilige dem römischen Papst entgegenbrachte! Wir müssen Caterina heute persönlich, als geringster Diener unter den Dienern Gottes, unendlich dankbar sein, sicher nicht für die Ehre, die auf unsere geringe Person überfließen kann, sondern für die mystische Verherrlichung des apostolischen Amtes des Nachfolgers Petri. Wer wüsste das nicht? Ihn betrachtet sie als „den süßen Christus auf Erden“ (12), dem man kindliche Liebe und Gehorsam entgegenbringen muss, denn: „Wer Christus auf Erden, der anstelle von Christus im Himmel steht, keinen Gehorsam entgegenbringt, erhält keinen Anteil an der Frucht des Blutes von Gottes Sohn“ (13). In einem Brief der Heiligen an Papst Urban VI. nimmt sie nicht nur die Lehre, sondern sogar die Sprache des Zweiten Vatikanischen Konzils (14) vorweg: „Heiligster Vater… Ihr wisst, wie notwendig es für Euch und für die heilige Kirche ist, dieses Volk (von Florenz) im Gehorsam und in der Hochachtung gegenüber Eurer Heiligkeit zu bewahren, denn hier ist das Haupt und das Prinzip unseres Glaubens.“ (15)

An die Kardinäle sowie an viele Bischöfe und Priester richtet sie eindringliche Ermahnungen und spart nicht mit heftigen Vorwürfen, immer jedoch in aller Demut und in allem Respekt für die Würde der Diener des Blutes Christi.

Caterina konnte auch nicht vergessen, Tochter eines religiösen Ordens zu sein, der zu den ruhmreichsten und tatkräftigsten in der Kirche zählte. Sie hat daher eine besondere Hochachtung, für das, was sie als die „heiligen Orden“ [ital.: „sante religioni“] bezeichnet, die sie wie ein einigendes Band zwischen dem mystischen Leib, der von den Repräsentanten Christi gebildet wird (nach einer Qualifizierung, die sie selbst vornimmt), und dem universalen Leib der christlichen Religion, das heißt den einfachen Gläubigen, betrachtet. Sie fordert von den Ordensleuten Treue gegenüber ihrer besonderen Berufung, durch gewissenhafte Ausübung der Tugenden und Beobachtung der jeweiligen Regeln. In ihrer mütterlichen Zuvorkommenheit richtet sie nicht zuletzt an die Laien zahlreiche, lebhafte Briefe, denn sie wünscht deren Bereitschaft, beseelt von glühender Gottes- und Nächstenliebe die christlichen Tugenden auszuüben und den Pflichten ihres eigenen Standes nachzukommen, da auch sie lebendige Glieder des mystischen Leibes sind; die Heilige sagt: „Sie (das heißt die Kirche) ist in Liebe gegründet und sie ist diese Liebe.“ (16)

Wie sollte man schließlich nicht an das unermüdliche Wirken der Heiligen für die Reform der Kirche erinnern? Vor allem an die heiligen Hirten hat sie ihre Ermahnungen gerichtet, in heiliger Empörung über die Antriebslosigkeit nicht weniger von ihnen, erzürnt über ihr Schweigen, während die ihnen anvertraute Herde verloren und ihrem Verderben entgegen ging. „Wehe, schweigt nicht mehr! Schreit es mit hunderttausenden von Zungen heraus“, schreibt sie an einen hohen Prälaten. „Ich sehe, dass durch Schweigen die Welt verdorben und die Braut Christi blass geworden ist, sie hat die Farbe verloren, weil man ihr das Blut, das heißt das Blut Christi, ausgesaugt hat.“ (17)

Was verstand sie unter Erneuerung und Reform der Kirche? Sicher nicht den Umsturz ihrer wesentlichen Strukturen, Auflehnung gegen die Hirten, freie Bahn für individuelle Charismen, willkürliche Erneuerungen im Kult und in den Regeln, wie einige es in unseren Tagen gerne hätten. Im Gegenteil, sie behauptet wiederholt, der Braut Christi werde ihre Schönheit zurückgegeben und die Reform müsse „nicht kriegerisch, sondern friedlich und ruhig, durch das demütige und unablässige Gebet, durch den Schweiß und die Tränen der Diener Gottes“ geschehen. (18) Für die Heilige handelt es sich folglich vor allem um eine innere und dann um eine äußere Reform, aber immer in der Gemeinschaft und im kindlichen Gehorsam gegenüber den rechtmäßigen Vertretern Christi.

War unsere tiefgläubige Jungfrau auch eine Politikerin? Ja, zweifellos, in außergewöhnlicher Weise aber in einem rein spirituellen Sinn des Wortes. In der Tat hat sie den Vorwurf, sie politisiere herum, den einige ihrer Zeitgenossen gegen sie vorbrachten, entrüstet zurückgewiesen und einigen von ihnen geschrieben: „…Und meine Mitbürger glauben, dass durch mich oder die Gemeinschaft, die bei mir ist, Abkommen getroffen werden: sie sagen die Wahrheit; aber sie kennen sie nicht und ergehen sich in Vermutungen; will ich doch nichts anderes tun – noch will ich, dass einer, der bei mir ist, etwas anderes tut -, als den Teufel besiegen und ihm die Herrschaft entreißen, die er durch die Todsünde über den Menschen gewonnen hat, ich will diesem den Hass aus dem Herzen reißen und ihn mit dem gekreuzigten Christus und mit seinem Nächsten versöhnen.“ (19)

Die Lehre dieser Politikerin „sui generis“ bewahrt daher immer noch ihre Bedeutung und ihren Wert, obwohl heute stärker das Bedürfnis empfunden wird, die ordnungsgemäße Unterscheidung zwischen dem was des Kaisers und dem was Gottes ist, zwischen der Kirche und dem Staat vorzunehmen. Die politische Lehre der Heiligen findet ihren reinsten und vollkommensten Ausdruck in ihrem kurzen und bündigen Satz: „Kein Staat kann sich, was das bürgerliche und das göttliche Gesetz betrifft, ohne die heilige Gerechtigkeit im Stand der Gnade halten.“ (20)

Nicht damit zufrieden, die Lehre der Wahrheit und der Güte nachdrücklich und umfangreich in Wort und Schrift behandelt zu haben, wollte Caterina sie schließlich in dem noch jugendlichen Alter von 33 Jahren mit der Hingabe ihres Lebens für den mystischen Leib Christi, die Kirche, besiegeln. Von ihrem Sterbebett in einer Zelle bei der Kirche S. Maria sopra Minerva in Rom richtete sie, umgeben von ihren treuen Schülern, dieses bewegende Gebet an den Herrn, ein wahres Testament des Glaubens und dankbarer, glühender Liebe: „Oh ewiger Gott, empfange das Opfer meines Lebens für den mystischen Leib der heiligen Kirche. Ich habe nichts anderes zu geben als das, was du mir geschenkt hast. Nimm also dieses Herz und presse es über dem Gesicht dieser Braut aus.“ (21)

Die Botschaft also eines reinen Glaubens, einer glühenden Liebe und einer demütigen und selbstlosen Hingabe an die Katholische Kirche, als mystischen Leib und Braut des göttlichen Erlösers: das ist die Botschaft der neuen Kirchenlehrerin Caterina von Siena, zur Erleuchtung und zum Vorbild derjenigen, die sich rühmen, ihr anzugehören. Nehmen wir sie mit dankbarem und großmütigem Herzen als das Licht unseres Erdenlebens und als Unterpfand künftiger und sicherer Zugehörigkeit zur triumphierenden Kirche des Himmels an. So sei es!

Anmerkungen:

(1) Lk 10,21; vgl. Mt 11,25–26.

(2) vgl. Mt 28,19–20.

(3) 1 Kor 1,26–29.

(4) vgl. Mt 5,3–10.

(5) vgl. M.-H. LAURENT, O.P., Proc. Castel., pp. 521-530; ital. Übers. von I. Taurissano, O.P., S. Caterina da Siena, Roma 1948, pp. 665–675.

(6) 1 Kor 12,11.

(7) vgl. 1 Kor 11,5; Röm 12,8; 1 Tim 6,2; Tit 2,15.

(8) Proc. Castel., 1. c..

(9) Dialogo, c. XI, herausgegeben von G. Cavallini, 1968, S. 27.

(10) vgl. Dialogo, c. CXXVII, ed. cit. S. 325.

(11) Brief 171, herausgegeben von P. Misciatelli, III, 89.

(12) Brief 196, ed. cit., III, 211.

(13) Brief 207, ed. cit., III, 270.

(14) Lumen Gentium 23

(15) Brief 170, ed. cit., III, 75.

(16) Brief 103, herausgegeben von G. Gigli.

(17) Brief 16 an den Kardinal von Ostia, herausgegeben von L. Ferretti, I, 85.

(18) vgl. Dialogo, cc. XV, LXXXVI, ed. cit., pp. 44, 197.

(19) Brief 122, ed. cit., II, 253.

(20) Dialogo, c. CXIX, ed. cit., S. 291.

(21) Brief 371, Ed. L. Ferretti, V, pp. 301–302

 

(Original auf Italienisch in: AAS 62 (1970) 673–678. Übersetzung von Claudia Reimüller)

 

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