Generalaudienz, Mittwoch 30. April 1969
Papst Paul VI.
Erleuchtende Aktualität der heiligen Caterina von Siena
Geliebte Söhne und Töchter!
Heute, 30. April, ist ein Festtag für uns. Der Festtag der heiligen Caterina von Siena. Pius II., der ebenfalls aus Siena stammte, hat sie 1461 heiliggesprochen (man denke an das herrliche Fresko von Pinturicchio, das dieses Ereignis in der Piccolomini-Bibliothek in Siena darstellt). Pius IX. hat sie zur zweiten Schutzpatronin Roms erklärt (1866). Pius XII. wollte sie – gemeinsam mit dem heiligen Franz von Assisi – auch als Schutzpatronin von Italien (1939). Doch ein Papst kann darüber hinaus nicht vergessen, wie viel das römische Papsttum und die ganze Kirche dieser einzigartigen Frau zu verdanken haben, die nie genügend erforscht und gepriesen werden kann. Es ist schön, dass vor ein paar Jahren hier in der Nähe von Sankt Peter, zwischen der Engelsburg und dem Beginn der Via della Conciliazione, gewissermaßen auf den für sie schicksalhaften Vatikan zulaufend, ein Denkmal von ihr aufgestellt wurde. Es ist schön, dass viele Glaubensfamilien und katholische Frauenvereinigungen in Italien sie als Beschützerin und Lehrerin haben. Vielleicht habt auch Ihr Außergewöhnliches über sie zu berichten, wenigstens so viel, um den Namen der heiligen Caterina von Siena unter die liebenswertesten, vorzüglichsten und größten einzureihen, derer sich die Geschichte zu entsinnen vermag. Wie man weiß, ist sie sehr jung hier in Rom gestorben; doch die dreiunddreißig Jahre ihres irdischen Lebens (1347–1380) waren so dicht an innerer Intensität, so dramatisch an äußeren Aktivitäten, so fruchtbar im literarischen Ausdruck, so wichtig im Verlauf der politischen und kirchlichen Ereignisse des vierzehnten Jahrhunderts, dass sie den Theologen, den Historiker, den Literaten und den Künstler zwingen, Caterina als in ihrer Art einzigartige Erscheinung zu betrachten: als Lehrerin der göttlichen Dinge, als beseelte und stigmatisierte Mystikerin, als kühne, gleichzeitig einfache und gewandte Frau, die ebenso aufrichtige wie kluge diplomatische Initiativen zu ergreifen wagt, als des Lesens und Schreibens unkundige Schriftstellerin, die Bücher diktiert und eine Flut lebhafter, apostolischer Briefwechsel verbreitet, als ins Gebet entrückte und ganz dem Beistand für die Leidenden sich widmende Jungfrau, die faszinierende Gespräche zu führen vermag, welche die Gesprächspartner in Jünger, in getreue Freunde verwandeln. Wir müssen uns immer daran erinnern, dass sie, Caterina, es war, die den jungen französischen Papst Gregor XI. (er war vierzig), der von schwacher Gesundheit und furchtsamem Gemüt war, überzeugte, Avignon zu verlassen – wohin der Apostolische Stuhl 1305, nach dem plötzlichen Tod von Benedikt XI., mit Papst Clemens V. verlegt worden war – und 1376 in das unter schweren Spaltungen leidende Italien zurückzukehren, nach Rom, obgleich die Stadt unruhig war und sich in einem desolaten Zustand befand. Und es war Caterina, die gleich nach dem Tod von Gregor XI. seinen Nachfolger Urban VI. in den ersten Momenten des berühmten „Abendländischen Schismas“ unterstützte, das mit der Wahl des Gegenpapstes Clemens VII. begann.
Ihre Geschichte ist äußerst vielschichtig und sehr gut dokumentiert. Es würde zu lange dauern, sie ausführlich zu erzählen. Der historische Rahmen, in dem sie sich abspielt, ist so charakteristisch und dramatisch, dass jeder, der ihn im Zusammenhang mit dieser demütigen, leuchtenden Protagonistin zu beschreiben versucht, zur Auswahl oder Zusammenfassung gezwungen ist.
Die Kirche, Mittelpunkt des Daseins
Uns interessiert vor allem eine Seite dieses außergewöhnlichen Lebens, die wir für die bezeichnendste halten: ihre Liebe zur Kirche; eine Seite, die Caterinas ganze Persönlichkeit betrifft, innerlich wie äußerlich. Die Biographen und Hagiographen können nicht umhin, auf sie aufmerksam zu werden: Caterina ist die Heilige, deren dominierendes Merkmal ihre Liebe zur Kirche und vor allem zum Papsttum ist. Man könnte ein Buch mit Zitaten wie dem folgenden füllen: „O ewiger Gott, nimm an das Opfer meines Lebens für den mystischen Leib der heiligen Kirche. Ich habe nichts anderes anzubieten, als was Du mir gegeben hast. Nimm also mein Herz und presse es aus über dem Antlitz dieser Braut“ (Brief 371, Sämtliche Briefe – An die Männer der Kirche, II, S. 479). „Die Kirche ist also“, schreibt Jørgensen [Johannes Jørgensen, (1866–1956), dänischer Schriftsteller, der u.a. eine Biographie über Caterina von Siena verfasst hat; Anm. d. Übs.] „vom geistigen und moralischen Standpunkt aus, der Mittelpunkt des Daseins, sie ist das Wort, welches das Rätsel des Lebens erklärt, und sein absoluter, sein wesentlicher Wert. In dieser Welt des Relativen ist sie allein feststehend …“ (S. 511 [eigene Übersetzung]). „Die Kirche ist Caterinas größte Liebe. Vielleicht hat keine Heilige die Kirche so geliebt wie sie … In der Seele der heiligen Caterina ist die Kirche mit Christus gleich“ (Tincani, S. 39 [Luigia Tincani, (1889–1976), u.a. Gründerin der „Unione Santa Caterina da Siena delle missionarie della Scuola“ – der Missionsschulschwestern; Anm. d. Übs.]).
In diesen kurzen Hinweisen werden wir drei Punkte feststellen. Erstens: Die heilige Caterina hat die Kirche in ihrer Wirklichkeit geliebt, die einen zweifachen Aspekt hat: einen mystischen, geistlichen, unsichtbaren, jenen wesentlichen und mit Christus, dem glorreichen Erlöser verschmolzenen, der nicht aufhört, sein Blut durch seine Kirche auf die Welt auszugießen (wer hätte so viel über das Blut Christi gesprochen wie Caterina?); sowie den anderen menschlichen, historischen, institutionellen, konkreten, aber nie von jenem göttlichen gelösten Aspekt. Man muss sich die Frage stellen, ob unsere modernen Kritiker des institutionellen Aspekts der Kirche je in der Lage wären, diese Gleichzeitigkeit zu erfassen, und ob aus ihren schwerwiegenden Abhandlungen oder eingehenden Untersuchungen über den mystischen Leib Christi, die Kirche (nicht nur die himmlische, sondern die irdische, diese Kirche in der Zeit, die Rechtskirche, verkörpert durch Menschen aus dem Lehm Adams, wenn auch beseelt durch die Gaben des Heiligen Geistes) je ein Ausdruck hervorginge, der jenem so häufig zitierten ähnlich wäre, der den Papst bezeichnet: „Ach, mein Väterchen, liebster Christus auf Erden“ (Brief 185; Sämtliche Briefe – An die Männer der Kirche, II, Seite 354). Caterina liebt die Kirche wie sie ist (vgl. Taurisano, Dialogo, Zitat Cordovani, S. IL).
Ein weiterer Punkt. Caterina liebt die Kirche nicht wegen der menschlichen Verdienste derer, die ihr angehören oder sie verkörpern. Wenn man überlegt, in welchem Zustand sich die Kirche damals befand, versteht man, dass ihre Liebe weit andere Gründe hatte. Man kann das der freien und aufrichtigen Sprache entnehmen, mit der Caterina die Wunden der kirchlichen Organisation jener Zeit aufdeckt und inständig um ihre Reform bittet. Die heilige Caterina von Siena verbirgt nicht die Verfehlungen der Männer der Kirche, doch während sie heftig die große Dekadenz beklagt, betrachtet sie diese eher als Grund und Notwendigkeit, mehr zu lieben.
Würde des Priestertums und sakramentale Funktion
Der wahre Grund also, und das ist ein dritter Punkt, ist der Auftrag der Kirche, ihre priesterliche Würde, „die erste und fundamentale Wahrheit, dass die Kirche die Wirklichkeit der Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen … bewahrt und den Seelen mitteilt“ (Tincani, S. 37 [eigene Übersetzung]). „Diese Würde – so schreibt Caterina im wunderbaren Kapitel 110 ihres Dialogs – ist allgemein jedem vernunftbegabten Geschöpf verliehen (vielleicht spielt sie hier auf das „Priestertum der Gläubigen“ an). Doch aus diesen (es ist Gott, der spricht) habe Ich zu eurem Heil Meine Diener erwählt, damit euch durch sie das Blut des demütigen und unbefleckten Lammes, Meines eingeborenen Sohnes, gespendet werde. Ihnen habe ich die Ausspendung der Sonne anvertraut, indem Ich ihnen das Licht der Lehre, die Glut der göttlichen Liebe … verlieh“ (Der Dialog, S. 266). Das Konzil sagt nichts anderes (vgl. LG 24).
Das ist die Liebe Caterinas: die hierarchische Kirche ist das unentbehrliche Amt für das Heil der Welt. Und dafür wird ihr Leben ein mystisches und physisches Drama des Leidens, des Gebets und des Handelns. „Das Kreuz auf der Schulter und der Ölzweig in der Hand“ (vgl. Brief 219) wurde ihr geistlicher und sozialer Auftrag. „In Deiner Natur, ewige Gottheit, werde ich meine Natur erkennen“, sagt sie in einem ihrer Gebete. „Und was ist meine Natur …? Sie ist Feuer“ (Gebet 12).
„Ich gebe mein Leben für die heilige Kirche“
Erinnerungswürdig ist die letzte mystische Episode ihres Lebens. Entkräftet, vom Fasten und von Krankheit überwältigt ging sie jeden Tag zum Petersdom, der in seiner ehemaligen baulichen Anlage im Atrium einen Garten und auf der Fassade ein berühmtes Mosaik hatte, das von Giotto für das Jubiläumsjahr 1300 geschaffen worden war und „das Schiffchen“ genannt wurde (jetzt ist es im Inneren des Atriums der neuen Basilika). Es stellt die Szene des Schiffes Petri dar, das vom nächtlichen Sturm geschüttelt wird, und zeigt den Apostel, der es wagte, Christus entgegenzugehen, der ihnen auf den Wellen wandelnd erschienen war – Symbol des immer gefährdeten und immer auf wunderbare Weise vom geheimnisvollen göttlichen Meister geretteten Lebens. Eines Tages, es war der 29. Januar 1380, um die Stunde der Vesper am Sonntag Sexagesima und der letzte Besuch der heiligen Caterina im Petersdom, hatte sie, als sie wie immer in Verzückung versunken war, den Eindruck, dass sich Jesus vom Mosaik löste, sich ihr näherte und ihr das Schiffchen auf die schwachen Schultern legte, das schwere und vom Sturm bewegte Schiffchen der Kirche. Und Caterina fiel wie erdrückt von einem solchen Gewicht bewusstlos zu Boden. Das Opfer Caterinas schien – historisch gesehen – zu scheitern. Doch wer könnte sagen, ihre glühende Liebe sei vergeblich verloschen, wenn eine Vielzahl von jungfräulichen Seelen und Scharen von Priestern und Gläubigen, rührigen Laien sie sich zu eigen machten – und sie weiter in den Worten Caterinas brennt: „Geliebter Jesus! Jesus unsere Liebe!“?
Jenes Feuer sei auch unseres, auf dass es uns die Kraft gebe, Wort und Gabe Caterinas zu wiederholen: „Ich gebe mein Leben für die heilige Kirche“ (vgl. Raimund von Capua, Das Leben der hl. Caterina von Siena, III, 4, S. 449). Mit unserem apostolischen Segen.
(Quelle: Vatican Site. Übersetzung aus dem Italienischen von Claudia Reimüller)