Amantissima Providentia

 

Johannes Paul II.

Apostolisches Schreiben zum 600. Jahrestag des Heimgangs der hl. Caterina von Siena

 

Verehrte Mitbrüder, geliebte Söhne und Töchter, Gruß und Apostolischen Segen!

Einführung

Die liebenswürdige göttliche Vorsehung offenbart sich in verschiedenen Weisen als Hauptdarstellerin der Geschichte, indem sie immer neue Lichter auf dem Weg des Menschen entzündet. Oft wählt sie dafür scheinbar ungeeignete Personen aus und erhebt deren natürliche Anlagen in einem solchen Maß, dass sie zu Handlungen fähig werden, die ganz und gar über ihren eigenen Möglichkeiten stehen. Sie tut dies nicht so sehr, um die Weisheit der Weisen zu beschämen (1 Kor 1,19), als vielmehr um ihr eigenes Werk ins Licht zu stellen, das keiner menschlichen Unterstützung bedarf, und um den Menschen klarer zu zeigen, zu welcher Würde ihre Gnade sie erhebt und zu welch erhabenen Größe ihre Führung sie geleiten kann und will.

Dies ist besonders offensichtlich im Leben und in den Werken der heiligen Caterina von Siena, deren 600. Todestag heuer gefeiert wird. Deshalb bin ich froh, sie den Gläubigen erneut als Beispiel vor Augen zu stellen, und zwar nicht nur den Gläubigen Italiens, sondern denen der ganzen Welt. Denn in ihr ließ der göttliche Geist durch die Gaben der Weisheit, des Verstandes und der Wissenschaft – wodurch der menschliche Geist äußerst feinfühlig wird gegenüber den göttlichen Eingebungen, „in der Erkenntnis der göttlichen Dinge und der menschlichen“ (S. Thomae Summa Theologiae, I-II ae, q. 68, a. 5 ad 1) – wunderbare Reichtümer der Gnade und der Menschlichkeit erglänzen. Man kann daher auf sie die Worte des Psalmisten anwenden: „Du schaffst meinen Schritten weiten Raum, meine Knöchel wanken nicht“ (Ps 18,37) und: „Ich eile voran auf dem Weg deiner Gebote, denn mein Herz machst du weit“ (Ps 119,32).

 

Die menschliche und die göttliche Erfahrung

1. Die Situation Italiens und Europas war nicht glücklich, als im Jahre 1347 die kleine Caterina in Siena zur Welt kam. Schon zeichnete sich am Horizont die berühmt-berüchtigte „Schwarze Pest“ ab, die im folgenden Jahr überall wütete und tiefe Betrübnis und Tod in jedem Land und fast in jeder Familie säte. Andere Übel verheerten die bürgerliche Welt, wie die Kriege, besonders jener hundertjährige zwischen Frankreich und England, und die Einfälle von Söldnerheeren. In kirchlicher Hinsicht ist dieses ganze Jahrhundert zu drei Viertel vom Aufenthalt der Päpste in Avignon erfüllt und danach vom großen Abendländischen Schisma, das sich bis zum Jahre 1417 hinzog. Die Geschichte der Mantellatin von Siena fügt sich in diese Verhältnisse lebendig ein, und zwar auch als Hauptdarstellerin.

Als Tochter eines Tuchfärbers, vorletztes von 25 Kindern, erkannte Caterina sehr früh die Not der Welt. Und weil sie sich vom apostolischen Ideal der Dominikaner angezogen fühlte, wollte sie in die Reihen des dritten Ordens eintreten oder, wie man damals in Siena sagte, sich den Mantellaten anschließen, die – obwohl sie weder Schwestern waren noch in Gemeinschaft lebten – den weißen Habit und den schwarzen Mantel des Predigerordens trugen. Noch sehr jung, zeichnete sie sich bereits aus durch Liebe zu den Armen und Kranken, durch Geduld im Ertragen übler Nachrede seitens der Menschen und der inneren Kämpfe mit dem Teufel sowie durch Weisheit und Demut in ihrer Haltung und in ihren Gedanken.

Unterdessen übte sie sich in einem mutigen asketischen Programm, das auf wirksamen Grundsätzen beruhte, die sie später ihren Schülern einschärfen sollte: „Keine Regungen (der ungeordneten Natur) durchgehen lassen, die nicht tadellos sind“ (Dialog 73).

Um sie scharte sich später eine heterogene Gruppe von Schülern jeden Standes, die durch ihren reinen Glauben und durch die aufrichtige Annahme des Wortes Gottes ohne Vorwände und ohne Kompromisse angezogen wurde. Es waren Laien, Terziarinnen und Gottgeweihte aus verschiedenen Orden. Einige waren durch wunderbare Geschehnisse gewonnen worden. Sie alle erhielten von ihr ein einzigartiges Versprechen, dessen Einlösung sie oft erfuhren: Sie wolle ihnen beistehen, wo immer sie auch seien, und sie wolle auch Genugtuung leisten für ihre Fehler (Brief 99).

Der Herr leitete sie an wie ein Meister seine Schülerin und enthüllte ihr Schritt für Schritt „jene Dinge, die für ihre Seele nützlich sein sollten“ (Raimund von Capua, Legenda Maior, in: Acta Sanctorum, Apr.) Der geistliche Fortschritt gipfelte mit der Vermählung im Glauben, die als das Siegel eines Lebens, das der Abgeschiedenheit und der Betrachtung geweiht ist, gelten könnte. Doch als der Herr ihr den unsichtbaren Ring ansteckte, sollte die Vereinigung Seinem Willen entsprechen, im Wirken für Sein Reich bestehen (Legenda maior, in: AS 115). Die 20-jährige Frau aus dem Volk fürchtete, dass dies die Trennung vom himmlischen Bräutigam bedeuten könnte, er jedoch versicherte ihr, dass er beabsichtige, sie mehr an sich zu ziehen, und zwar „durch die Nächstenliebe“ (Legenda maior in: AS 115), d.h. sie sollte gleichzeitig auf der Ebene der inneren Mystik und auf jener der äußeren Tätigkeit oder der sozialen Mystik leben (J. Leclerq, La mystique de l´apostolat, 1922–1947).

Es war wie ein Erschauern vor dem weiten Wirkungsfeld, das sich vor ihrem Geist und ihrer Tatkraft öffnete. Was mit der Bekehrung einzelner Sünder begann, setzte sich fort in der Versöhnung zwischen verfeindeten Personen oder Familien bis hin zur Aussöhnung zwischen Städten und Republiken. Sie hatte keine Angst, unter den bewaffneten Gruppen hin und herzugehen, und sie scheute auch nicht vor einer Ausweitung ihrer Tätigkeit zurück, was sie anfangs noch entsetzt und zum Weinen veranlasst hatte. Der Antrieb des göttlichen Meisters weckte in ihr gleichsam eine neue Menschlichkeit. Sie, die Tochter eines Handwerkers und eine Frau ohne Bildung, d.h. ohne Schule oder Unterricht, hatte einen Weitblick, der die Grenzen ihres Stadtviertels überwand und weltweite Dimensionen annahm, wie sich in ihren Redewendungen zeigt. Für ihre Kühnheit gab es keine Grenzen und auch nicht für ihre Sehnsucht nach dem Heil der Menschen. Eines Tages, so erzählt sie selbst, legte ihr der Herr „das Kreuz auf die Schulter und einen Ölzweig in die Hand“, um beides dem einen und dem anderen Volk zu bringen, dem christlichen und dem ungläubigen, als ob Christus sie zu den eigenen universalen Dimensionen des Heils erheben würde (Brief 219).

Um Caterina seinem Erlösungsgeheimnis gleichförmiger zu machen und um sie auf ihr unermüdliches Apostolat vorzubereiten, verlieh ihr der Herr das Geschenk der Wundmale. Das geschah in der Kirche der heiligen Christina in Pisa (April 1375).

Caterina ist 29 Jahre alt und an dem Punkt angelangt, sich Rechenschaft zu geben von der Größe ihrer Aufgabe: „das Gleichgewicht der Christenheit wiederherzustellen“ (G. La Pira, in Comm. Vita Christinana1940, S. 206). Seit Jahren trat sie ein für den „heiligen Übergang” d.h. den Kreuzzug für die Befreiung der heiligen Stätten, sei es, um die christlichen Waffen von den Bruderkriegen abzubringen (vgl. Brief 206), sei es, um den Ungläubigen „die Würze des Glaubens“ zu geben (vgl. Brief 218).

Auf dieselbe Weise und wenn möglich auch noch leidenschaftlicher ermutigte sie den Papst zur sittlichen Reform der Kirche, die mit der Wahl guter Hirten beginnen sollte. Zu diesem Thema sprach sie mit schärfstem Nachdruck, weil für sie „die Kirche nichts anderes ist als Christus selbst“ (Brief 171). Sie tadelte und prangerte die Unordnungen an, aber mit ganz betrübtem Herzen, wobei sie für die Kirche eine mütterliche Zartheit an den Tag legte, gepaart mit Mannhaftigkeit in den Vorsätzen, wenn sie an Gregor XI. schreibt: „Geht bald zu Eurer Braut, die Euch ganz erbleicht erwartet, damit Ihr ihr die Farbe gebt“ (Brief 231). „Gebt ihr das Herz zurück, das sie verloren hat, das Herz der brennendsten Liebe: denn so viel Blut wird ihr ausgesaugt durch die schändlichen Verschlinger, dass sie ganz erbleicht ist“ (Brief 206).

Nun nähert sich der Augenblick ihres glorreichsten Unternehmens. Im Juni 1376 begab sie sich nach Avignon als Friedensvermittlerin zwischen dem Heiligen Stuhl und Florenz. Die Frage war schwierig: sie sollte sich zwei Jahre später lösen, nicht ohne ihre erneute Vermittlung. Aber Caterina lagen noch größere Dinge am Herzen. Sie ließ ihren Beichtvater, Fra Raimund von Capua vorausgehen, wobei sie ihm den eben zitierten Brief anvertraute, in dem sie dem Papst „ausgehend von Christus dem Gekreuzigten“ die drei hauptsächlichen Dinge darlegte, die er tun müsse, um Frieden in jeder Richtung zu haben: würdige Hirten einpflanzen, das Banner des Kreuzes zum Kreuzzug erheben und den Papstsitz wieder zurück nach Rom zu verlegen.

Ihre Worte besitzen ein starkes prophetisches Echo, besonders wenn sie auf die Armut der Kirche zu sprechen kommt und auf den Schaden, der ihr durch die Sorge um die zeitlichen Güter zugefügt wird. Bezüglich der Rückkehr des Stellvertreters Christi zu seinem Sitz kennt sie kein Zaudern: „Antwortet dem heiligen Geist, der Euch ruft, Ich sage Euch: Kommt, kommt, kommt!“. Und nachdem sie ihn ermahnt hat, „als sanftes Lamm“ zu kommen, fügt sie, um seiner Botschaft wieder Kraft zu geben hinzu: „Seid mir ein mannhafter Mann und kein ängstlicher“ (Brief 206). Der Schmerz des langen Wartens und des Verderbens der Seelen entreißt ihrem Herzen in einem folgenden Brief diesen Schrei: „Weh mir, Vater, ich sterbe vor Schmerz und kann nicht sterben“ (Brief 196).

Nachdem sie in Avignon am 18. Juni angekommen war, konnte sie mündlich, auch in direkten Begegnungen mit dem Papst, den unaufschiebbaren Sinn der Pflicht geltend machen, indem sie ohne Anmaßung und ohne Ängstlichkeit zu ihm sprach. Der fromme Papst, der zögerte, die letzte Entscheidung zu fällen, musste sich davon überzeugen, dass durch ihren Mund wirklich der Herr sprach und ihn seines Willens vergewisserte. Gregor XI. verließ Avignon endgültig am 13. September 1376 und zog am 17. Januar 1377 in Rom ein unter dem begeisterten Jubel des festlich gestimmten Volkes.

Später, nach einer ausgedehnten Mission in Val d‘ Orcia, nahm Caterina von neuem die Frage des Friedens mit den Florentinern in die Hand. Sie lief sogar Gefahr, in einem der Tumulte des Sommers 1378 getötet zu werden; und sie, die sich am Punkt des Martyriums gesehen hatte, schrieb später fast enttäuscht: „Der ewige Bräutigam hat seinen Spott mit mir getrieben“ (Brief 295).

Leider entstand in jenem Jahr nach dem Verscheiden Gregors XI. und der unter stürmischen Zwischenfällen erfolgten Wahl Urbans VI., eines Mannes, der der Sittenstrenge und dem Ideal der moralischen Reform ergeben war, das große Schisma, das die Einheit der Kirche für fast vierzig Jahre verwirren sollte. Obwohl es die Heilige vorausgesehen hatte, fühlte sie die Wunde der Kirche in ihr Fleisch eindringen. Nunmehr war sie daran, jeden anderen Gedanken aufzugeben und sich mit allen Kräften dem Kampf für die Einheit des mystischen Leibes und für den einzigen wahren Papst zu weihen. Von nun an kann man ihre glühenden Briefe Botschaften der christlichen Einheit nennen. Die Liebe zum Papst und zur Kirche verbrennt ihre Seele.

Natürlich eilte sie auf die Einladung Urbans nach Rom: sie sollte direkt am Herzen der Kirche wirken. Sie regte an und ermutigte dazu, dass sich Männern von reinem Geist rund um den „süßen Christus auf Erden“ versammelten, um ihm beizustehen mit Rat, Gebet und dem Ansehen eines heiligmäßigen Lebens. Ihre Wohnung wurde von Papst wegen (bezeichnend!) ein Zentrum diplomatischer Aktivität. Briefe und Boten gingen aus nach überallhin: zu den Mächtigen Italiens und den Regierenden Europas, zu den rebellischen Kardinälen und zu den Dienern Gottes, um ihnen Mut zuzusprechen. Sie ermunterte die Soldaten, die für Urban kämpften, besänftigte das aufrührerische römische Volk, zügelte die Ausbrüche des Papstes und ging unter Mühe nach St. Peter, um dort am Grab des Apostels zu beten. Es waren eineinhalb Jahre von aufreibender Tätigkeit und inbrünstiger Gebete: „O ewiger Gott, nimm an das Opfer meines Lebens in diesem mystischen Leib der heiligen Kirche“ (Brief 371). Unter herzzerreißenden und sehnsuchtsvollen Anrufungen verschied sie so in Rom am Sonntag, dem 29. April 1380, im Alter von 33 Jahren wie ihr gekreuzigter Bräutigam.

Ihr Leib wurde in der Kirche Santa Maria sopra Minerva in Rom bestattet, wo man sie unter dem Hauptaltar verehrt; ihr Haupt dagegen wurde nach Siena gebracht, wo es vom Klerus und vom Volk im Triumph empfangen und in der Kirche des hl. Dominikus aufbewahrt wurde. Anwesend war auch Lapa, die Mutter Caterinas.

Caterina wurde von Papst Pius II. mit der Bulle „Misericordias Domini“ am 29. Juni 1461 heiliggesprochen. So wurde sie feierlich der Universalkirche als Vorbild der Heiligkeit vor Augen gestellt, als Beispiel einer erhabenen Größe, zu der eine einfache Frau mit der Gnade des Allmächtigen gelangen kann.

 

Die Schriften

2. Literarisch gesehen ist die heilige Caterina ein einzigartiger Fall. Nie ist sie zur Schule gegangen, sie konnte auch nicht lesen und schreiben, außer vielleicht sehr spät und unvollkommen. Und doch hat sie ein Schriftwerk diktiert, das sie zu einem Klassiker von bemerkenswerter Bedeutung macht in der italienischen Literatur des 14. Jahrhunderts und unter den mystischen Schriftstellern, so dass es ihr den Titel einer Kirchenlehrerin einbrachte, der ihr von seiner Heiligkeit Papst Paul VI. am 4. Oktober 1970 übertragen wurde. Sie hinterließ 381 Briefe, gerichtet an Personen aller Art, an unbedeutende und große. Es ist eine Briefsammlung von reicher Spiritualität, Spiegel einer Seele, die intensiv das lebt, was sie ausdrückt, mit Akzenten und Tönen von berührender, oft auch poetischer Beredsamkeit. Hier brennt eine beständige Leidenschaft für den Menschen, der Ebenbild Gottes ist und zugleich Sünder, für Christus, den Erlöser, für die Kirche, die das Feld ist, auf dem der Heiland den Schatz seines Blutes Frucht bringen lässt zum Heil des Menschen.

In ihnen (nämlich in ihren Briefen) lebt ein Geist, der empfindsam ist für alle Mühsale der Menschheit, eine glühende Vorstellungskraft, ein Glaube, der das Wort glühend macht beim Anzeigen von Fehlhaltungen, der es aber süß macht bis zur Zärtlichkeit beim Ermahnen von Lauen und beim Erheben von Schwachen. Hier ist nichts Schwaches oder Konventionelles, sondern echte Kraft auch in der Frömmigkeit.

Außerdem diktiert die heilige Caterina in den Jahren 1377 und 1378 in verschiedenen Zeitabständen  ein Buch, das gewöhnlich als „Dialog der göttlichen Vorsehung oder der göttlichen Lehre“ betitelt wird, in dem ihre Seele in verzücktem Gespräch mit dem Herrn das berichtet, was ihr die ewige Wahrheit sagt als Antwort auf ihre Fragen bezüglich des Wohles der Kirche und ihrer Kinder und der ganzen Welt. Das Buch ist charakterisiert durch prophetischen Akzent, Ausgeglichenheit des Gedankens und Klarheit des Ausdrucks. Es berührt die erhabensten Geheimnisse unserer Religion und die schwierigsten Probleme der Aszetik und Mystik. Der wachsame und flehende Gedanke richtet sich an die Brüder in der Welt, die sie verloren gehen sieht auf den Pfaden der Sünde und die sie aufzurütteln versucht aus der tödlichen Abgestumpftheit: mit feiner psychologischer Intuition wirft sie Lichtbündel auf den Weg der Vollkommenheit, indem sie die Erhebung des Menschen preist, der in der Nachfolge des gehorsamen Christus den sicheren Weg zur heiligen Dreifaltigkeit findet. Die Weite der Perspektiven, das Zusammenhängen der Erfahrungsanalysen und das Funkeln der Bilder und Begriffe machen aus diesem Werk „ein Kleinod der religiösen italienischen Literatur“ (E. Underkill, „Mysticism“ S. 467).

Schließlich gibt es noch die „Gebete“, die man in den letzten Lebensjahren von ihren Lippen erntete, als die Heilige ihre Seele und ihre Sehnsucht im unmittelbaren Sprechen mit dem Herrn ausgoss. Es sind echte Improvisationen, die spontan aufsteigen aus dem in göttliches Licht getauchten Geist und aus dem Herzen, das Schmerz empfindet über das Elend der Menschen. Gebete, ohne Banalität in den Begriffen oder Bitten, vielmehr in leidenschaftlichem und vertrauensvollem Ton und mit Ausdrücken, die oft kühn, aber absolut rechtgläubig sind.

Das ausdrucksvollste und weiteste Bild dieser Lehrerin der Wahrheit und der Liebe ist jenes von der Brücke, ein symbolischer Bau, der irgendwie den „Aufstieg zum Berge Karmel“ des hl. Johannes vom Kreuz vorwegnimmt. Das Sinnbild beschreibt in knapper und feiner psychologischer Analyse den Weg des Menschen, der von der Sünde aufsteigt zum Gipfel der Vollkommenheit. Diese kennzeichnet eine christologischer Akzent, auf den sich der ganze Bau stützt. Denn die Brücke ist Jesus Christus, sei es in der am Kreuz erhöhten Gestalt seines Leibes, sei es in seiner Lehre, sei es in seiner Gnade.

Über den unüberschreitbaren Abgrund, den die Sünde geöffnet und der reißende Fluss der weltlichen Verderbnis eingegraben hat, wurde sie (die Brücke) geschlagen, um die Erde wieder mit dem Himmel zu verbinden, als der Sohn Gottes Mensch wurde, indem er in sich die göttliche Natur mit der menschlichen Natur vereinte (Dialog 21–22; Brief 272). Sie ist der einzige Weg für diejenigen, die wahrhaft zum ewigen Leben gelangen wollen. Jeder Mensch, der der Anziehung der Gnade Christi (ich werde alles an mich ziehen) folgt, befreit sich allmählich von der Sünde, von der unvollkommenen oder knechtischen Furcht und von der Eigenliebe, sei sie fühlbar oder geistig, bis zum Freisein von jeder Unvollkommenheit.

Gleichzeitig verwirklicht sich der Weg nach oben, der ganz im Zeichen der Liebe steht. Caterina ist nämlich mit St. Thomas und den besten Theologen der Ansicht, dass die Vollkommenheit „in der Tugend der Liebe (Caritas) besteht“ (Dialog 11) und sie stimmt auch mit dem zweiten Vatikanischen Konzil (LG 5) überein, sei es in dem eben genannten Punkt, sei es in der Allgemeinheit der Berufung zur Heiligkeit (Dialog 53). Deshalb zeichnet sie auf der Christus-Brücke drei Stufen (von ihr „Freitreppen“, scaloni, genannt) des geistlichen Aufstiegs ein, die ebenso die drei Seelenvermögen bedeuten, die von der Liebe emporgezogen werden, wie auch die drei fortschreitenden Zustände des Geistes: Unvollkommene, Vollkommene, Vollkommenste (Dialog 26).

Man hat also eine Treppenbrücke vor sich, deren erste Stufe die Knechtsliebe, die zweite die Freundesliebe und deren dritte die Kindesliebe ist (Dialog 56–57). Die Dreiteilung ist nicht rein schematisch und traditionell, sondern sie ist didaktisch begleitet mit besonderen Anmerkungen, die die Stufen der vertikalen Entwicklung und die Art und Weise, die unteren Etappen zu überwinden, kennzeichnen, in ihren psychologischen Zusammenhängen, was letztlich auf der Beobachtung ihrer geistlichen Erfahrung gründet.

Auch die folgenden Kapitel des „Dialogs“ (Dialog 87–96), die man gewöhnlich „Tränentraktat“ nennt, schreiten auf ein und demselben aufwärtsstrebenden Weg voran, aber mit absoluter Originalität des Schemas, die in der Heiligen eine Meisterin der eigenen Persönlichkeit und der reifen, präzisen Didaktik zeigt, wie auch in der Improvisation des Diktierten.

Der geistliche Fortschritt jedoch ist nicht auf den persönlichen Bereich begrenzt. Caterina ist zu sehr durchdrungen von der Existenz der anderen und von der Wichtigkeit des Nächsten; und sie besteht nachdrücklich auf der Untrennbarkeit der Nächstenliebe von der Gottesliebe, wie es übrigens dasselbe Zweite Vatikanische Konzil hervorhebt (LG 5). Von ihr stammt die überraschende Aussage, die dem Herrn in den Mund gelegt wird: „Ich lasse dich wissen, dass man jede Tugend mittels des Nächsten übt, und auch jeden Fehler“ (Dialog 6).

Caterina will sagen, dass durch die Gemeinschaft der Liebe und der Gnade der Nächste immer miteinbezogen ist in das Gute und in das Böse, das wir tun (vgl. T. Deman, „La parte des prossimo nella vita spirituale secondo il „Dialogo“, in: „Vita Cristiana“, 1947, n.3, S. 250-2258). Aber ihr Denken geht noch darüber hinaus: der Nächste ist das vortreffliche „Mittel“ für die sich verwirklichende Liebe, der Ort, wo man jede Tugend notwendig, wenn nicht sogar ausschließlich übt.

Der ewige Vater sagt: „In dem Maße wie mich die Seele in Wahrheit liebt, in dem Maße bringt sie ihrem Nächsten Nutzen; ... und so viel wie die Seele mich liebt, soviel liebt sie auch ihn (den Nächsten), denn die Liebe zu ihm geht von mir aus. Dies ist das Mittel, das ich euch gegeben habe, damit ihr die Tugend in euch übt und erprobt. Ihr, die ihr mir keinen Nutzen bringen könnt, müsst ihn dem Nächsten bringen“ (Dialog 7).

Dieses Prinzip, das zahllose Male bekräftigt wird, macht aus dem Nächsten das Terrain, auf dem die Bruderliebe, die Geduld, die soziale Gerechtigkeit sich ausdrückt, sich ausübt, sich unter Beweis stellt und sich misst. Im Umgang mit den anderen werden die Gegensätze selbst zum Prüfstein der tugendhaften Handlungen (Dialog 7–8): Dabei bleibt der existentielle Vergleich mit der Gottesliebe fest: „Mit jener Vollkommenheit, mit der wir Gott lieben, mit jener lieben wir das vernünftige Geschöpf“ (Brief 263; Dialog 7, und 64).

Das Bestehen auf dem Prinzip der Solidarität dient auch dazu, die tiefe Wurzel der menschlichen Brüderlichkeit zu zeigen, die uns von Christus gelehrt wurde. Die Menschen leben diese Wirklichkeit: jeder ist gleichsam Ergänzung der anderen. Die Vorsehung hat sie geschaffen und sie mit von Individuum zu Individuum verschiedenen physischen und moralischen Eigenschaften ausgestattet, sodass jeder die anderen braucht, „damit ihr notgedrungen Gelegenheit (wörtlich „Materie“) habt, untereinander die Liebe zu üben“ (Dialog 7) und alle gebunden sind vom Bedürfnis der gegenseitigen Hilfe, wie die Glieder im Leib (Dialog 148).

Ähnlich herrscht in der Gesamtkirche Solidarität unter den einzelnen Teilbereichen. Das wird dargestellt im Sinnbild der drei Weinberge: der eigene persönliche, der des Nächsten und der allgemeine des Gottesvolkes. Die ersten beiden sind so sehr vereint, „dass niemand sich etwas Gutes tun kann, das er nicht auch seinem Nächsten tut, noch etwas Schlechtes, das er nicht auch ihm tut.“ (Dialog 24). Aber in der Solidarität mit dem dritten Weinberg besteht der Gleichgewichts- und Ordnungssinn Caterinas. Im allgemeinen Weinberg ist der einzige wahre Weinstock gepflanzt, Jesus Christus, auf dem jeder andere aufgepfropft sein muss, um von ihm Leben zu empfangen (Dialog 24). In ihm (im allgemeinen Weinberg) ist der Hauptarbeiter der Papst, „Christus auf Erden, der hier das Blut zu verwalten hat“ (Brief 313 und 321): von ihm ist jeder andere Arbeiter abhängig, durch Gehorsam, und weil er „die Schlüssel zum Blut des demütigen Lammes hat“ (Brief 339, vgl. Brief 309 und 305).

Durchsichtige Bilder vom Primat Petri – Primat des Lehramtes und der Leitung, gewollt von der „ersten süßen Wahrheit“ (Brief 24 vel X) – der eine feste Einrichtung und ein Charisma in Christus ist, ihrer einzigen Quelle. An solcher Logik hat sich die ganze Tätigkeit dieses Schutzengels der Kirche inspiriert zugunsten der römischen Papstwürde.

 

Schluss

Die außergewöhnliche Rolle, die Caterina von Siena gemäß den geheimnisvollen Plänen der göttlichen Vorsehung in der Heilsgeschichte spielte, hat sich nicht erschöpft mit ihrem seligen Hinübergang in die himmlische Heimat. Denn sie fuhr fort, in der Kirche heilsamen Einfluss auszuüben, sei es durch ihre leuchtenden Tugendbeispiele, sei es durch ihre wunderbaren Schriften. Daher haben die Päpste, meine Vorgänger, einmütig ihre immerwährende Aktualität gepriesen, wobei sie sie beständig den Gläubigen zur Bewunderung und Nachahmung vorstellten. Papst Pius II. nannte sie in der Heiligsprechungsbulle mit beinahe prophetischen Worten „Jungfrau von glänzendem und unvergänglichem Gedenken“ („Illustris et indelebilis memoriae virginem“, Pii II „Misericordias Domini: Bullar. Roman.“,V, a. 1860, PS 165). Pius IX. Erklärte sie zur zweiten Patronin Roms (1866). Der heilige Pius X. stellte sie den Frauen der Katholischen Aktion als Vorbild vor Augen und ernannte sie zu deren Patronin. Pius XII. erklärte in dem Apostolischen Schreiben „Licet Commissa“ vom 18. Juni 1939 den hl. Franz von Assisi und die hl. Caterina von Siena zu den Hauptpatronen Italiens; und in der denkwürdigen Rede zu Ehren der beiden Heiligen, die der Papst in der Kirche Santa Maria sopra Minerva am 5. Mai 1940 hielt, zollte er der Heiligen von Siena folgendes glänzende Lob: „In diesem Dienst der Kirche versteht ihr gut, geliebte Söhne, wie Caterina unseren Zeiten vorauseilt, mit einem Handeln, das die katholische Seele weit macht und sie an die Seite der Amtsdiener des Glaubens stellt, untergeben und mitarbeitend in der Ausbreitung und Verteidigung des Wahren und des sittlichen und sozialen bürgerlichen Lebens“ (Pius XII. Discorsi e Radiomessaggi, II 1949, 100). Und nicht weniger hoch aktuell waren die wiederholten Lobeserhebungen, die Papst Paul VI. der Gestalt und apostolischen Tätigkeit Caterinas erwies aus Anlass ihres jährlichen Festes. Unter anderem scheinen mir für unsere Zeiten folgende Worte meines verehrten Vorgängers von großer Bedeutung: „Die hl. Caterina“, so sagte er am 30. April 1969, „hat die Kirche in ihrer Wirklichkeit geliebt, die, wie wir wissen, einen zweifachen Aspekt hat: einen mystischen, geistlichen, unsichtbaren, jenen wesentlichen und mit Christus, dem glorreichen Erlöser verbundenen, der nicht aufhört sein Blut (wer hat soviel vom Blut Christi gesprochen wie Caterina?) auf der Welt zu vergießen durch seine Kirche; den anderen menschlichen, geschichtlichen, institutionellen, konkreten, aber niemals von jenem göttlichen getrennten (Aspekt). Es bleibt zu fragen, ob unsere modernen Kritiker des institutionellen Aspekts der Kirche jemals fähig sind, diese Gleichzeitigkeit zu erfassen“ (Insegnamenti di Paolo VI, VII 1969, 941). Aber Paul VI. bezeugte mit noch größerer Autorität seine Hochschätzung für den immerwährenden Wert der aszetischen und mystischen Lehre der hl. Caterina, als er sie, zusammen mit der hl. Theresia von Avila, zur Würde einer Kirchenlehrerin erhob und ihre übermenschliche Weisheit in der Basilika des hl. Petrus am 4. Oktober 1970 feierte (Insegnamenti di Paolo VI., VII 1970, 982–988).

Im Leben und in der Tätigkeit der hl. Caterina von Siena, sei sie literarisch oder apostolisch, hat sich in Wirklichkeit das bewahrheitet, was ich einer Gruppe von Bischöfen anlässlich ihres „Adlimina“ – Besuches in Erinnerung gerufen habe „Der Heilige Geist ist tätig im Erleuchten des Geistes der Gläubigen mit seiner Wahrheit und im Entzünden Ihrer Herzen mit seiner Liebe. Aber diese Intuition des Glaubens und dieser „sensus fidelium“ sind nicht unabhängig vom Lehramt der Kirche, das ein Werkzeug desselben Heiligen Geistes ist und dem er beisteht. Nur wenn die Gläubigen genährt wurden durch das Wort Gottes, das treu in seiner Reinheit und Unversehrtheit übermittelt wurde, werden ihre eigenen Charismen voll wirksam und fruchtbar“ (vgl. Joannis Pauli PP. II „Allocutio Indorum Episcoporum coetui habita, accasione ablata eorum visitationis „ad limina“, die 31 maii 1979: „Insegnamenti di Giovanno Poaolo II“, II 1979, 1354–1358).

Geliebteste Brüder und Söhne, das Beispiel der hl. Caterina von Siena, deren Leben sich so wunderbar tätig und fruchtbar erwiesen hat für ihr Vaterland und die Kirche – weil es dem Antrieb („instinctus“) des Heiligen Geistes gegenüber fügsam war und vom Lehramt der Kirche geführt wurde –, dieses ihr Beispiel möge in sehr vielen Seelen eine lebendige Bewunderung und Sehnsucht erwecken, oder der Nachahmung ihrer heroischen Tugenden. So werden wir eine neue Bestätigung haben, dass ihr Tod wahrhaftig „kostbar in den Augen des Herrn“ war und immer noch ist, so wie „das Sterben seiner Frommen“ (Ps 116,15).

Mit solchen Gefühlen erteile ich euch, verehrte Mitbrüder und geliebte Söhne und Töchter Italiens, wie auch all denjenigen, die überall in der Welt diese Jahrhundertwiederkehr des Heimganges der hl. Caterina von Siena in Erinnerung bringen, und besonders dem Orden der Predigerbrüder und den Nonnen und gottgeweihten Schwestern gemäß der Lebensregel ihrer Ordensfamilie, wohlwollend den Apostolischen Segen.

 

Gegeben zu Rom, bei St. Peter,am 20. April, am Gedenktag der hl. Caterina von Siena, Jungfrau und Kirchenlehrerin, im Jahr 1980, dem zweiten meines Pontifikates.

 

Original auf Latein in: AAS 72 (1980) 569–581.

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