An den Erzbischof von Siena
Johannes Paul II.
Dem Ehrwürdigen Bruder Mons. Gaetano Bonicelli Erzbischof von Siena
Da sich der 25. Jahrestag der Proklamation der hl. Caterina von Siena als Lehrerin der universalen Kirche vollendet, hielten Sie es für angemessen, in eben jener Erzdiözese Initiativen zu unternehmen, um die Gestalt der Heiligen besser bekannt zu machen, die den Glauben mit apostolischem Schwung in der Gesellschaft ihrer Zeit zu bezeugen wusste, als Lehrerin des Lebens und der Lehre.
Wie bekannt, ist Caterina Urheberin einer Einheit (corpo) solider theologischer Reflexionen über die ewigen Wahrheiten, die in der Offenbarung enthalten sind; und es ist insbesondere anerkannt, dass sie aus ihrer liebevollen Betrachtung, aus der lebendigen Erfahrung Christi das einzigartige Licht der Wahrheit entnehmen konnte, die Klarheit der Ausdrucksweise, die leidenschaftliche Lebendigkeit in der Darlegung ihrer hohen mystischen Ausdrücke [Formulierungen].
Mit lobenswerter pastoraler Feinfühligkeit haben Sie also, Herr Erzbischof, den Anstoß zu einer solchen Versammlung gegeben, um die Weisen des Denkens der Heiligen aus Siena noch besser bekannt zu machen und zu schätzen. Von Caterina sagte Pius II, dass „all ihr Reden als Argument die Tugend, die Religion, die Frömmigkeit, die Verachtung der weltlichen Dinge, die Gottes- und Nächstenliebe, die himmlische Heimat hatte“ (Bulle Misericordias Domini, vom 29. Juni 1461). Die Welt ihres „Redens“ mündet ihrerseits in ihre Schriften, gewöhnlich ihren Freunden in der Weise eines Dialogs diktiert, in welchem Caterina ihr beständiges Gespräch mit Gott offenbart.
Die Sprache ist gesättigt mit biblischen Worten und Bildern. Die Vision des dreifaltigen Gottes – mächtig, weise, sanft – reflektiert über den Menschen wie in einem Spiegel, und Caterina bringt ohne Unterlass Theologie und Anthropologie in Einheit zum Ausdruck. Sie spricht von einem Geheimnis, das zugleich Licht des göttlichen Wesens und ein Vollzug der Kommunion mit dem menschlichen Geist ist.
Caterina, authentische Schülerin des hl. Dominikus, empfindet sich, so wie er, „als eine Seele, die von überaus großem Verlangen nach der Ehre Gottes und dem Heil der Seelen angestachelt ist“ (vgl. Dialog 1).
Die Barmherzigkeit ist eines der wichtigen Themen des Denkens Caterinas, inspiriert vom Beispiel Jesu und von seinem Wort. Jesus Christus machte aus der Barmherzigkeit eines der größten Argumente seiner Verkündigung, bewegt vom Anliegen, die Gegenwart Gottes als Vater, Liebe und Barmherzigkeit zu manifestieren.
Entflammt von derselben Glut des hl. Paulus, wusste Caterina nichts anderes zu verkünden als Christus, und zwar Christus als den Gekreuzigten (vgl. 1Kor 2,2). In dessen Blut weiß sie sich als Braut und in dessen Blut schreibt sie, als Mutter und Schwester, ihr Briefwerk. Die Briefe der Heiligen erreichen die ganze ihr bekannte Welt. Adressaten sind die Päpste, Könige, Heerführer, Priester, Ordensleute, Künstler, Ausgegrenzte, Gefangene und öffentliche Sünder. Das Herz Caterinas weitet sich zu allen Gläubigen, die „den universalen Leib der christlichen Religion“, und zu allen Dienern Christi, die den „mystischen Leib der heiligen Kirche“ bilden.
Gleichsam als eine „Mystikerin der Politik“ ermahnt Caterina durch ihre Briefe die Regierenden Italiens und anderer europäischer Länder zu einem christlichen Handeln, in Einklang, sei es mit der Wahrheit Gottes, sei es mit der Notwendigkeit, gemäß der Gerechtigkeit zu handeln. Nur so wird man das Allgemeinwohl und den Frieden verwirklichen, unter dem Ansporn der Liebe, im Respekt vor der Freiheit, die das große Geschenk Gottes an den Menschen ist.
Berühmt ist die unbedingte Maxime der hl. Caterina für die Verantwortlichen des öffentlichen Lebens: „Wer sein Auge nicht richtet auf die Stadt seiner Seele... wird es nie auf die gegenwärtige Stadt richten, über die er vielleicht zum Herrn gemacht ist“ (Brief 338, an Andrea Cavalcabuoi, Senator von Siena). Folglich ist es die Spiritualität, die im politischen Menschen die Würde der Ausübung seiner Macht gründet und qualifiziert, über das Gemeinwesen, welches für ihn nur eine auf Zeit von Gott „geliehene Stadt“ ist.
Zum Frieden im Inneren der Familie sagt Caterina den Eheleuten: „Euer Umgang sei immer mit jenen, die Gott in Wahrheit fürchten und lieben... Das eine ist Quelle der Erleuchtung für das andere, wenn man der Lehre des gekreuzigten Christus und dem Leben der Heiligen nachgeht“ (Brief 190, an Francesco di Pipino, Schneider aus Florenz, und die Dame Agnesa, seine Ehefrau).
In diesem Jahr, in dem die internationale Gemeinschaft eine weitreichende Besinnung der Beförderung der Frau widmet, halte ich es für gut, an die Größe und Würde dieser Frau zu erinnern, Caterina, in der die großartigen und wohl bekannten Initiativen für das Wohl der Kirche ihre Begründung und ihre Stärke sowohl in der Einheit mit Christus, als auch in der eigenen Freiheit der Initiative fanden, gut begründet und gefestigt im Glauben an Gott. Ihre persönliche Erfahrung der Kommunion mit Christus zieht beständig unsere Aufmerksamkeit auf die Aufgabe der Frau, die mit ihrem Charisma gerufen ist, auf dem sozialen Gebiet der Förderung [promozione] und des Gemeinwohls zu wirken.
In dieser Zeit der Vorbereitung auf das große Jubiläum des Jahres 2000 steht uns die heilige Caterina mit ihrer Fürsprache bei, der sich „niemand nähert“ – wie Pius II erinnert – „ohne gelehrter und heiliger zu werden“. Sie, die eine unerschütterliche und zähe Verfechterin des römischen Sitzes des Nachfolgers Petri war, möge weiterhin für „die Kirche von Rom, welche die Grundlage [principato] unseres Glaubens“ ist (Brief 347, an den Grafen Alberico da Balbino).
Es möge die Heilige für den Frieden und den Wohlstand Italiens Fürsprache einlegen, ihres Vaterlandes, und von Europa, das sie zurückrief zur Einheit im Gehorsam des Glaubens. Sie möge Fürsprache einlegen für die Stadt Siena, damit die Wahrheit Christi und das Licht des Evangeliums die Gesinnungen und die moralischen Urteile all ihrer Bürger leiten mögen. Es möge Caterina Fürsprache einlegen, damit der Klerus mit Eifer wirke und das Zeugnis eines heiligen Lebens im geheiligten Dienst ablege. Sie möge von Gott ein verheißungsvolles Aufblühen von hochherzigem geweihtem Leben erlangen!
Mit diesen Wünschen spende ich von Herzen Ihnen, ehrwürdiger Bruder, und allen Gläubigen dieser Erzdiözese den Apostolischen Segen, Unterpfand zahlreicher himmlischer Gunsterweise.
Aus dem Vatikan, am 1. Oktober 1995.
Papst Johannes Paul II
(Quelle: Centro Internazionale di Studi Cateriniani, Documenti)